Von Denise Fiedler

Victor Leclercq musterte die Frau vor sich, beinahe hätte er sie nicht wiedererkannt. Maryam Peeters Gesicht war eingefallen, die Augen glasig, ihre Hand zitterte, als sie an der Zigarette zog.

Sie folgte seinem Blick. »Ich hatte vor drei Jahren damit aufgehört.«

»Sie stehen unter Stress, das ist okay.«

Maryam stieß ein freudloses Lachen aus. »Denken Sie, ich weiß nicht wie verrückt das klingt?«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Mann gesprochen?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, vor drei Tagen, als er sein Büro verließ. Er war auf dem Weg zum Fußgängertunnel. Ihre Kollegen haben mich nur vertröstet, er werde schon wieder auftauchen.« Sie griff nach seiner Hand, ihre Finger waren kalt. »Bitte, Inspecteur, ich weiß, dass diese Frau etwas mit Yanis` Verschwinden zu tun hat!«

Leclercq atmete tief durch. Vor fünf Jahren hatte er ihr im Gerichtssaal seine Karte zugesteckt, rufen Sie an. »Maryam, Sie wissen, dass das unmöglich ist. Anaïs De Smet ist tot!«

 

***

 

Yanis sah immer aus, als würde er lächeln. Ich liebte seine Grübchen, die sich tief in seine Wangen bohrten, die Nase, deren Spitze leicht nach oben ragte. Doch an diesem Morgen war es anders. Sein Gesicht war blass, als er mich über den Zeitungsrand anstarrte. »Anaïs ist tot. Sie hatte einen Unfall!«

Ich wollte gerade in mein Croissant beißen, hielt aber in der Bewegung inne. »Was sagst du?«

»Hier steht, der Fahrer eines LKWs hat die Kontrolle verloren, sie wurde von der Straße abgedrängt und starb noch am Unfallort.«

Ich riss ihm die Zeitung aus der Hand. Auf der Titelseite stand groß: Lokale Berühmtheit tot. Daneben war ein Foto von Anaïs, teuflisch schön. Ich konnte nicht anders, aber ich fühlte Erleichterung bei dieser Nachricht. Diese Frau hatte fast mein Leben ruiniert. Sie hatte alles, dennoch war sie von Neid zerfressen. Sie war neidisch auf mich, auf mein Leben, auf meinen Mann. Sie hatte ihm Karten geschickt, die beim Öffnen alle das gleiche Lied spielten. Anfangs standen Liebesbekundungen darin, später kamen die Drohungen. Es war mein Fehler gewesen, von ihm zu verlangen, er solle sie verbrennen. So sprach das Gericht lediglich ein Kontaktverbot aus. Ich werde nie ihren triumphierenden Blick vergessen. Doch jetzt, nach fünf Jahren, sollte sie endgültig aus meinem Leben verschwinden.

»Wir sollten zur Beerdigung gehen«, sagte Yanis.

»Auf gar keinen Fall!«

Doch Yanis schien mich nicht zu hören. »Ich werde ihre Eltern anrufen und fragen, wann sie stattfindet.«

»Woher hast du ihre Nummer?«

»Aus dem Telefonbuch.«

Da waren sie wieder, die Zweifel. Hatte er vielleicht doch? Ich schüttelte sie ab. Nein, ich vertraute ihm.

 

Anaïs sollte in Turnhout beerdigt werden. Yanis nahm sich den Tag frei. Die Stunden vergingen und ich lenkte mich mit dem Hausputz ab. Es war schon dunkel, als ich oben am Schlafzimmerfenster stand und unser Combi in die Einfahrt einbog. Jemand saß auf dem Beifahrersitz, ich konnte das Gesicht nicht erkennen, doch es sah aus wie das einer Frau.

Yanis hatte die Tür bereits aufgeschlossen, als ich runterkam. Ich sah an ihm vorbei. »Wer ist bei dir?«

Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Was meinst du? Ich bin allein.«

Zögernd schloss ich die Tür hinter ihm. »Du kommst spät.«

»Ich bin noch durch die Gegend gefahren.«

»Hast du Hunger?«

»Nein, ich bin müde und gehe ins Bett.«

Irgendetwas war anders an ihm. Es schien, als läge ein Schatten auf seiner sonst so fröhlichen Aura.

 

Am nächsten Morgen verließ er schon früh das Haus. In meinem Magen brodelte es. Ich rief im Laden an und sagte, ich würde mir den Tag freinehmen. Ich putzte ein sauberes Haus, holte die Wäsche aus der Maschine und sortierte sie weg. Als ich Yanis Schublade öffnete, hielt ich inne. Zwischen den Socken lag ein Umschlag. Ich zog die Karte heraus und klappte sie auf. Blechern erklang ein Lied:

You are my sunshine, my only sunshine …

Die Wände um mich herum pulsierten, in meinen Schläfen pochte das Blut. Ich setzte mich aufs Bett und starrte auf die zierliche Schrift.

Für immer dein, Anaïs.

Der Duft ihres Parfums kroch in meine Nase, ich stürzte ins Bad und übergab mich.

 

Den Umschlag positionierte ich auf dem Küchentisch, dort, wo er ihn direkt sehen würde. Yanis kam nach Hause, als ich gerade das Abendessen zubereitete.

»Was ist das?« Er deutete zum Tisch.

»Sag du es mir!«

Er öffnete die Karte und lauschte mit offenem Mund.

»Ich dachte, du hättest sie alle verbrannt!« Meine Stimme klang schrill, ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Das hab ich. Vielleicht habe ich diese übersehen …«

Egal was er sagte, ich beruhigte mich nicht. Wieder sah ich ihn in ihren Armen liegen. Was, wie er mir beteuert hatte, nie passiert wäre.

In der Nacht wälzte ich mich im Bett umher. Warum beherrschte Anaïs mich immer noch? Ich presste die Kiefer aufeinander, bis es schmerzte. Nein, was sie im Leben nicht geschafft hatte, sollte ihr im Tod nicht gelingen.

Vertrau ihm.

Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte, auch die darauffolgenden Tage. Doch Yanis entglitt mir. Er redete kaum noch und ging früh zu Bett.

Ich schlief nicht, wurde immer unkonzentrierter, bis mir die einfachsten Handgriffe nicht mehr gelangen.

Abends schluckte ich eine Schlaftablette, dennoch erwachte ich. Die Anzeige des Radioweckers schien mich zu verhöhnen. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder Anaïs` Blick. Ich griff neben mich, aber Yanis` Bett war leer.

Roch ich Parfum?

Leise schlich ich zur Treppe. Alles war dunkel. Fröstelnd rieb ich mir über die Oberarme. Der Mond tauchte die Küche in silbriges Licht. Klar und deutlich sah ich Yanis` Rücken vor mir. Mein Magen schnürte sich zusammen, als ich seine Stimme hörte. Er sang!

You are my sunshine, my only sunshine …

Mit zur Faust geballter Hand schlug ich auf den Lichtschalter. Reflexartig schlossen sich meine Augen, als ich sie wieder öffnete, war er weg. Hektisch sah ich mich im Raum um. Wie konnte das sein? Er stand doch direkt vor mir!

Über mir knarzte es. Ich rannte die Treppe hoch und ins Schlafzimmer. Yanis lag im Bett, sein Brustkorb hob und senkte sich, während er leise schnarchte.

Ich glitt am Türrahmen hinab. Verlor ich jetzt schon den Verstand?

 

Ich bereitete das Frühstück vor. Der Kaffee brodelte vor sich hin, als Yanis die Treppe herunterkam. Auf einmal war es wie früher, fröhlich pfeifend gab er mir einen Kuss auf die Stirn, nahm die Zeitung und setzte sich auf seinen Platz. Er sah mich über den Rand an und runzelte die Stirn. »Du siehst müde aus, hast du nicht gut geschlafen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich werde heute länger arbeiten, mein Tisch biegt sich schon unter dem ganzen Papierkram. Aber ich werde es wiedergutmachen. Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende an den Strand fahren, vielleicht nach Knokke?«

Ich war nicht in der Lage, auch nur ein Wort herauszubringen, lächelnd nickte ich und schluckte die aufkommenden Tränen herunter. Tief in mir löste sich ein Knoten.

An der Tür gab ich ihm einen Kuss. Er drehte sich noch einmal um und winkte mir zu.

Ich unterdrückte ein Schauern. Für einen kurzen Moment hatte ich den Duft von Parfum in der Nase.

Blödsinn, ermahnte ich mich. Er war okay. Wir waren okay.

 

***

 

Das, was Leclercq an Antwerpen so liebte, waren die Einzigartigkeiten. Der Bahnhof, der wie ein Relikt aus einer anderen Zeit schien. Die Schelde, die sich wie ein graues Band durch die Landschaft zog und nichts von ihrem kleinen Geheimnis freigab. Gemeinsam mit seinem Partner Goossens ging er auf das unscheinbare Gebäude zu. Wie ein Wächter stand es über dem Eingang des Tunnels. Sein Zwilling am linksseitigen Ufer des Flusses.

Sie gingen direkt zum Kontrollraum, doch gedanklich war er immer noch bei dem Gespräch mit Maryam Peeters.

»Es ist dieses Lied. Es verfolgt mich. Beim Telefonieren in der Warteschleife. Wenn ich das Radio einschalte …«, hatte sie gesagt.

»Das kommt Ihnen nur so vor. Sie haben es bislang einfach nur nicht registriert.«

»Ach, ja? Dann sagen Sie mir, wann Sie es das letzte Mal im Radio gehört haben!« Sie spuckte die Worte beinahe aus.

Er hatte keine Antwort darauf gehabt.

Der Techniker wartete bereits auf die Inspecteurs.

»Vielleicht hatte Peeters doch etwas mit der De Smet und ihr Tod ging ihm näher, als er zugeben wollte. Hat sich `ne Auszeit genommen.« Goossens schnäuzte in ein Taschentuch. »Verdammte Allergie!«

»Wie auch immer, er ist verschwunden und seine Frau hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Wir müssen dem nachgehen. Hier ist unser einziger Anhaltspunkt. Gegen 23:10 hat er mit seiner Frau telefoniert, als er das Büro verließ. Er brauchte zu Fuß circa zwanzig Minuten …« Leclercq ließ den Techniker die Datei heraussuchen.

»Na, also, da haben wir ihn doch.« Er beobachtete Yanis Peeters, wie der in den Aufzug stieg. »Und jetzt dahin, wo er den Tunnel verlässt.«

Sie zippten durch die Aufnahmen, doch Peeters war nicht zu sehen. »Was zum … Verfolgen wir seinen Weg durch den Tunnel.«

Erneut Peeters beim Betreten des Fahrstuhls, dann lief er den Gang entlang.

»Jetzt hat er die Hälfte passiert«, sagte der Techniker.

Es schien nichts ungewöhnlich, bis Peeters auf einmal verschwand. Sie spielten die Aufnahme noch einmal ab, aber das Ergebnis blieb dasselbe. Von einem Bild zum nächsten war Yanis Peeters fort.

»Ist die Kamera defekt?«, fragte Goossens.

Der Techniker sah auf die Monitore vor sich, ein Radfahrer passierte gerade den Abschnitt. »Scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Ich geh da jetzt runter, irgendwas muss da sein.«

Leclercq ließ sich ein Funkgerät geben, unterwegs schaltete er es ein. »Goossens, hörst du mich?«

»Roger.«

»Ich bin jetzt bei der Holzrolltreppe.«

Er betrat die erste Stufe und fuhr herunter, vorbei an umrahmten Werbetafeln, hinab zu dem weißgekacheltem Tunnel. Die sterilen Deckenleuchten schienen sich ins Unendliche zu ziehen. Ein mulmiges Gefühl überkam Leclercq, wie immer, wenn er an die Wassermassen dachte, die über ihm hinwegzogen.

»Ich nähere mich dem Abschnitt.«

Das Funkgerät rauschte. Gebrochene Worte. Er hielt es näher ans Ohr. »Goossens, singst du etwa?«

Dann waren die Worte ganz klar:

You are my sunshine, my only sunshine …

 

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