Von Florian Ehrhardt

In meinem Traum bin ich wieder vier Jahr alt. 

„Mama, machst du bitte das Nachtlicht an?“

„Das Nachtlicht ist kaputt, mein Schatz, das weißt du doch, aber ich kann das Licht im Flur anmachen und deine Tür einen Spalt weit öffnen.“

„Danke Mama! Ich hab dich lieb!“

„Ich dich auch, mein kleiner Louis!“

Ich höre, wie sie davontrottet.

„Mama? Kannst du noch den Vorhang vor meinem Fenster zu machen?“

Mama hört mich nicht mehr.

Das Licht aus dem Flur fällt auf das Fenster und die Regale im Zimmer spiegeln sich dahinter im Grau des Rollladens. Ich erschaudere. Mein Kuscheltierhase und das beruhigende, warme Licht aus dem Flur beruhigen mich aber und so scheint für eine kurze Zeit alles gut. 

Bis die Tür zufällt und das Licht aus dem Zimmer aussperrt. Ich kneife meine Augen sofort zusammen und taste blind nach dem Lichtschalter. Bloß nicht die Augen öffnen. Unterbewusst ist mir wahrscheinlich jetzt schon klar, dass das ein Alptraum ist, aber der erlösende Schrei, mit dem ich mich selbst wecken werde, fehlt noch.

Ein Klopfen ertönt. Ich kann nicht anders. Ich muss meine Augen öffnen. In Zeitlupe drehe ich meinem Kopf zu dem gespenstischen Fenster, das auch ohne das Licht aus dem Flur noch zu leuchten scheint. Für eine kurze Zeit sehe ich dort drüben nur mein eigenes Spiegelbild, doch dann steht hinter meinem Abbild im Fenster ein Mann, der nur in einer dunklen Robe bekleidet ist. Die Kapuze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Für eine kurze Zeit hält der Mann auf der anderen Seite inne, dann greift er durch die Fensterscheibe hindurch, der Rest seines Körpers folgt der knochigen Hand. Mühelos steigt er über verstreute Legosteine hinweg, bis er schließlich vor meinem Bett und mir steht. Ich kann seinen rasselnden Atem hören, rieche den Duft der Fäulnis, der von ihm ausgeht, aber ich warte immer noch auf den Schrei, der mich aus diesem Alptraum erlöst. Der Mann hebt die Hände und macht Anstalten sich die Kapuze vom Gesicht zu ziehen. Gleich werde ich in sein kaltes, totes Gesicht blicken…

 

„Aaaaaaah!“ Mein eigener Schrei weckt mich. Ich liege immer noch im Bett, aber dem Kinderbettchen aus meinem Traum bin ich längst entwachsen. Es ist hell. Der Angstschweiß klebt in jeder Ritze meines Körpers.

Lisa, meine Freundin, blickt mich mit besorgten Augen an. „Endlich bist du wach! Schlechter Traum? Du wirfst dich seit mindestens fünf Minuten wie ein Verrückter hin und her, damit hast du sogar mich wachbekommen!“ Sie versucht sich an einem Lächeln, dass durch ihre Unsicherheit fast noch süßer wird. 

Auch ich bringe ein müdes Grinsen zustande. „Hab‘ nen ziemlich wilden Scheiß zusammengeträumt.“, schaffe ich ihr verschlafen zu entgegnen. „Ich glaube, ich sollte mir ein Glas Wasser holen und mir einen kalten Waschlappen aufs Gesicht klatschen. Bin gleich wieder da!“ Ich beginne, ins Bad zu schlurfen.

„Beeil dich ein bisschen! Du weißt genau, dass wir morgen beide früh raus müssen und noch Zeit zum Kuscheln haben wollen!“

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit stehe ich vor dem großen Spiegel im Bad. Die Tür zum Badezimmer habe ich – wie immer – hinter mir geschlossen. Routine eben. Ich starre den Spiegel an. Der Alptraum hat mich sehr plötzlich in meine Kindheit zurückentführt. Erinnerungen an eine unerträgliche Masse von schlechten Träumen brechen über mich herein. Erst nach einer langen Therapie konnte ich den Mann im Spiegel endlich hinter mir lassen. Jetzt ist er zurückgekehrt. Ich blicke auf mein Spiegelbild. Mein ganz normales Spiegelbild. Denn mehr ist da nicht. „Du bist nur ein Spiegel!“, murmele ich mit zusammengekniffenen Zähnen.

„Sicher?“, meldet sich mein Spiegelbild zurück.

Aber alles ist gut. Das Licht ist an. Das ist nur eine Halluzination. Bestimmt ausgelöst durch den Schock des Alptraums.

Aber die Halluzination redet in meinem Kopf einfach weiter. „Glaubst du denn wirklich zu wissen, was hinter mir liegt?“

„Natürlich weiß ich das. Hinter dir kommt nichts mehr. Da kommt vielleicht noch das Glas, auf dem die billige IKEA-Spiegelfolie aufgeklebt ist, dann kommt der Leichtmetallrahmen, in dem du festgemacht bist und dahinter kommt die Wand. Na gut, vor den Ziegelsteinen in der Wand liegen vielleicht noch ein paar Fließen, aber dann kommt da bestimmt nichts mehr. Deine Welt ist nur eine umgekehrte Kopie von meiner. Wenn ich gleich vom Spiegel wegtrete und wieder in mein warmes Bett hüpfe, dann hörst du da drüben auf zu existieren. Du darfst erst wiederkommen, wenn ich mir die Bartstoppeln rasiere oder mir einen lästigen Pickel auf der Stirn ausdrücken will. So einfach ist das.“ Ich bin ein wenig stolz auf meine Rede, auch wenn sie hauptsächlich aus der Feder von Dr. Bauer stammt. Der Andere hat mir bisher mit wachen, intelligenten Augen zugehört und dabei meine Mimik perfekt nachgeäfft. Was bleibt ihm sonst auch übrig? Er ist ja nur mein gefangenes Abbild. Zumindest glaube ich das bis jetzt.

Denn während ich meine Lippen zu einem triumphierenden, überlegenen Lächeln geformt habe, beginnt der Andere jetzt zu sprechen. Und diesmal bewegen sich seine Lippen mit. „So? Nicht real? Manchmal hättest du mit so einer Aussage vielleicht Recht. Aber heute…hmm. Für so dumm hätte ich dich nicht einmal gehalten.“

„Das kann nicht sein!“ Mein Entsetzen erstickt meinen Aufschrei zu einem Flüstern. Ich fahre mir durchs Gesicht, taste meine immer noch fest aufeinandergepressten Lippen ab und hebe meine Arme probeweise über den Kopf. Währenddessen beobachte ich den Spiegel mit wachsendem Entsetzen, denn der Andere wiederholt keine einzige meiner Bewegungen, sondern lächelt nur das triumphale Lächeln, das gerade noch mein eigenes Gesicht geziert hat. Das weckt in mir zumindest die absurde letzte Hoffnung, dass der Spiegel zeitversetzt funktioniert, doch während ich das Gesicht meines Gegenübers mustere, werde ich anderer Details gewahr. So fehlt dem Anderen die kleine Narbe über der linken Augenbraue, die ich schon seit der zehnten Klasse mit mir herumtrage. Oder tue ich das wirklich? Schließlich habe ich sie immer nur im Spiegel betrachtet. Und das da drüben ist auch nur ein Spiegelbild, also müssen wir die Narbe entweder beide haben oder keiner von uns hat sie. Meine Finger sind aber schon längst weiter als mein Gehirn, tasten über meine Stirn und verschaffen mir eine entsetzliche Gewissheit, als sie die Narbe schließlich gefunden haben. Natürlich ist sie da!

Mein Gegenüber fängt an zu lachen, während er mein Entsetzen genießt. „Natürlich kann das sein! Heute liegen unsere Welten so nah beieinander, dass man hinübersehen kann!“

„Unsere Welten?“ Mein Entsetzen wird schlagartig durch Neugier ersetzt.

„Bist du wirklich so dumm oder hat bei euch noch nie jemand die Multiversumstheorie beschrieben?“

Na toll. Mein eigenes Spiegelbild hält mich für dumm. „Naja, gehört habe ich davon schon mal, aber ist das nicht Humbug?“

„Humbug? Bei uns wurde das ganze bewiesen! Und du hast das Glück, in meinem Nachbaruniversum zu leben! Unsere Universen liegen Tür an Tür. Wobei, in unserem Fall wohl eher Spiegel an Spiegel.“ Er sieht mich belustigt an.

Die Menge an neuen Informationen bringt meinen Kopf fast zum Platzen. „Das ist nur noch so ein verrückter Traum.“

„Ein Traum? Mitnichten! Ich bin dein Abbild aus dem Nachbaruniversum! Und heute ist der erste Vollmond nach der Wintersonnenwende! Weißt du, was das bedeutet?“

Ich bringe ein geflüstertes „Nein.“ zustande, obwohl ich mir die Antwort bereits denken kann.

Der Andere bestätigt meine schlimmsten Hoffnungen. „Natürlich weißt du das. Heute kann man hindurchgehen!“

Sofort denke ich an meinen Traum zurück. „Nein!“

„Und wie!“ Er streckt mir seine Hand durch den Spiegel entgegen.

„Bleib bloß weg!“ Ich weiche einen Schritt vom Spiegel zurück. 

Der Andere sieht mich ein wenig verwirrt an. „Hättest du keine Lust, einmal was anderes zu sehen? Ein kurzer Tausch? Nur zwei Stunden, danach geht jeder zurück in seine Welt!“

„Auf keinen Fall!“ Ich drehe mich zur Tür und will weglaufen, doch ein metallisches Klicken lässt mich innehalten. Langsam drehe ich meinen Kopf. Als ich wieder in den Spiegel sehe, stempele ich unser Nachbaruniversum endgültig als Universum der Psychopathen ab. Ich starre in den Lauf eines Revolvers.

„Ich hätt‘ aber schon irgendwie Lust.“ Mein Gegenüber grinst mich überlegen an.

Ich schließe die Augen und warte auf das Ende.

 

Ich bin schon wieder halb eingeschlafen, als Louis zurück ins Schlafzimmer trottet. Die lange Wartezeit hat sich wohl gelohnt, denn mit dem Deodorant hat er den Geruch des Angstschweißes ziemlich gut wegbekommen. Eigentlich riecht er sogar noch etwas besser als sonst. „Und, alles wieder gut?“, murmele ich meinem Freund entgegen.

Er blickt mich kurz verwirrt an, aber dann ist er wieder voll wach. „Klar, jetzt geht’s wieder.“

Naja, ein bisschen verpennt ist er halt, aber genau das liebe ich ja an ihm. „Na, dann komm doch endlich zu mir ins Bett!“