Von Ellie Eder

Er nahm einen dicken schwarzen Filzschreiber und fuhr damit wütend kreuz und quer über die Skizzen, an denen er bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Dann knüllte er die Blätter zu Papierkugeln und schleuderte sie auf den Boden zu den gefühlten tausend anderen, die sich über die letzten Tage dort angesammelt hatten.

Lisabella, seine Muse und Ernährerin, steckte den Kopf zur Tür herein. „Möchtest du nicht Schluss machen für heute? Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.“

„Morgen, ja. Und übermorgen auch. Aber dann: Deadline! Und ich hab‘ nichts Brauchbares. Nichts! Nichts! Nichts!“ Hale Ribud streckte beide Arme abwehrend Richtung Tür und deutete Lisabella mit hektischen Handbewegungen, sie solle gehen. 

Er begann in der kleinen Garage, die er noch als Kunststudent zu einem Atelier umgebaut hatte, auf und ab zu laufen. Hin und wieder gab er einer der herumliegenden Papierkugeln einen Tritt oder stapfte sie platt. Schließlich setzte er sich wieder an seinen Arbeitstisch. Er gähnte. Es war zwei Uhr morgens. Mit vom Schlafmangel der letzten Wochen geröteten und tränenden Augen starrte er minutenlang auf den weißen Bogen Papier vor ihm. Lisabella hatte recht, er sollte sich eine Weile ausruhen. Er legte sich auf das kleine Sofa, das in der Ecke neben der Tür stand und starrte an die Decke. 

„Das macht doch alles keinen Sinn“, murmelte er. Viel zu lange schon lebte er das erfolglose Leben des verkannten Genies, ließ sich treiben und tröstete sich mit dem Wissen, dass er dieses Schicksal mit unzähligen Absolventen der Kunsthochschulen teilte. An seinen Durchbruch als Künstler glaubte er schon lange nicht mehr. Seit Monaten trug er sich mit dem Gedanken, seine glücklose Laufbahn als unverstandener und unbeachteter Maler und Bildhauer zu beenden. Aber was sollte er sonst tun?

Lisabella hatte ihn auf den Wettbewerb des Kulturvereins der Stadt aufmerksam gemacht. Auf dem Vorplatz des neuen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung sollte eine Skulptur errichtet werden. Das Thema: der Zustand der Welt. Lisabella zuliebe hatte er beschlossen, daran teilzunehmen, sich aber gleichzeitig ein Ultimatum gesetzt. Sollte es ein weiterer Misserfolg werden, und daran zweifelte er keine Sekunde, war Schluss mit der Quälerei.

Hale erwachte, als ihm die aufgehende Sonne ins Gesicht schien. Er liebte diese wenigen Minuten, in denen das Atelier im kühlen Licht der Morgensonne strahlte. In diesen Momenten war er voll Optimismus. Zwei Tage blieben noch. Er würde es schaffen. Er würde seinen ZUSTAND DER WELT entwerfen und das Ergebnis, egal wie es ausfiel, einreichen.

Zwei Tage später stand er – mit verbundener Hand, er war beim Modellbauen mit der Feile abgerutscht, und diese hatte sich in seine linke Hand gebohrt – vor seinen Entwürfen. Restlos zufrieden war er nicht. Genau genommen war er überhaupt nicht zufrieden. Er war müde. Er wollte schlafen. Nur schlafen.

 

***

 

Mit zitternden Händen öffnete er Wochen später den Brief des Kulturvereins. Er schüttelte den Kopf, starrte auf das amtliche Schreiben in seiner Hand, konnte kaum fassen, was er da las. „Lisabella!“, jubelte er dann, „Lisabella! Wir haben gewonnen!“. Er fasste sie um die Taille, hob sie in die Luft und drehte sich mit ihr im Kreis, bis er, von Schwindel erfasst, taumelte. 

Der unerwartete Erfolg belebte die schon verloren geglaubte Leidenschaft für seine Kunst. Wie besessen begann er zu arbeiten. Zunächst ließ er auf dem zur Verfügung stehenden Areal eine flache Grube ausheben und den gesamten Bereich mit Bauschutzwänden sichern. Die Grube sollte später von allen Seiten über drei Stufen, hoch genug, um auch bequem darauf sitzen zu können, begehbar sein. Unter Hales Anleitung wurden Grundfläche und Stufen zementiert und der Sockel für die Skulptur errichtet. Dann bemalte er alles – Stufen, Boden und die Wände des Sockels – mit ausgezehrten, dürren Körpern und aschfahlen, hohlwangigen Gesichtern, die mit ihren tief liegenden dunklen Augen von weit her das Geschehen um sie herum zu beobachten schienen. 

Auf dem Sockel ordnete er dann ineinander verschachtelte, unterschiedlich geschnittene Quader- und Würfelsegmente so an, dass eine vielflächige Figur mit scharfen Kanten, Vorsprüngen und Vertiefungen, mit Schrägen, Überhängen und Spitzen entstand. Auf einer der Flächen im oberen Teil, unerreichbar für die zukünftigen Betrachter, brachte er eine Mörtelschicht auf, in die er hunderte Glasscherben und spitze, scharfkantige Metallstücke steckte. Aus einer der größeren Flächen im unteren Teil der Skulptur ließ er eine Kugel ragen, die etwas gequetscht und an einer Stelle aufgebrochen war. Aus dieser Öffnung ergoss sich, wie aus einer blutenden Wunde, über den Sockel bis hinunter auf den Boden, eine rot eingefärbte Flutwelle. An der Oberfläche dieser Welle trieben menschliche Körperteile: Gesichter mit aufgerissenen, nach Luft schnappenden Mündern; Hände, die nach Halt suchten; die Rippen eines Brustkorbs, die nach außen standen; Teile von Händen, Füßen und Köpfen so zueinander angeordnet, dass man erahnen konnte, in welch bizarren Verrenkungen die Körper in dieser Welle stecken mussten. Etwas weiter oben sah man drei Gewehrläufe – auf die rote Welle gerichtet – aus einer der Flächen ragen. Über dem höchsten, etwas vorstehenden Teil der Skulptur schlängelte sich, bis hinunter zum Boden, das verkohlte Wurzel- und Astgeflecht eines Baumes. 

Damit war Hales ZUSTAND DER WELT fertig. Eigentlich. Die künstlerische Seele des Hale Ribud war jedoch nicht zufrieden. Etwas fehlte. Etwas ganz Wesentliches. Er spürte es. Wieder und wieder umrundete er die Skulptur, hatte auch manchmal eine leise Ahnung dessen, was es noch brauchte, jedoch huschten diese Eindrücke vorbei, ohne greifbar zu werden. Er konnte sie nicht einfangen. Er tastete die Konturen der Skulptur ab, streichelte über ihre Oberfläche, drückte seinen Körper an den kalten Stein, lag bäuchlings auf dem Boden und starrte minutenlang in die leeren Augen eines der fahlen Gesichter. Er wollte sich verbinden mit seinem Werk, wollte es spüren, wollte, dass es mit ihm sprach. 

Nichts.

Unbeweglich, als wäre er selbst Teil seiner Skulptur, saß er dann, den Kopf in die Hände gestützt, zusammengekauert auf dem Boden. Seine Gedanken kreisten. Nach einer Weile sprang er dann auf, raufte sich die Haare, begann aufs Neue wie gehetzt um die Skulptur zu rennen, kletterte auf ihr herum, und fiel schließlich, obwohl er die Existenz eines Gottes immer vehement geleugnet hatte, auf die Knie, hob die Hände flehend gegen den Himmel und bat um die rettende Eingebung. Aber Gott und der Himmel waren ihm nicht gnädig. Sie schwiegen. Wie sein Werk.

Wut packte ihn. Und Verzweiflung. Er trat mit den Füßen gegen den Sockel, kratzte sich die Finger am Stein wund, litt unter Übelkeit, hatte Schweißausbrüche, konnte an nichts anderes mehr denken, als an die eine, die zündende Idee, die er nicht und nicht zu fassen bekam. 

Die Zeit wurde knapp. Der Tag, an dem der ZUSTAND DER WELT feierlich enthüllt werden sollte – der Termin war schon mehrmals verschoben worden – rückte näher. Er ließ ein Feldbett aufstellen. Verbrachte Tag und Nacht bei seiner Skulptur, aß kaum, schlief kaum, saß wieder stundenlang wie gelähmt neben oder auf seinem Werk, murmelte Unverständliches vor sich hin, schluchzte und rief laut nach Lisabella. 

Lisabella kam, stand am Rande des Areals und starrte auf die blassen Gesichter und dünnen Körper am Boden. Sie machte einen Schritt nach vorne, zögerte, wich zurück und blieb reglos stehen. „Das fühlt sich an, als würde ich jemandem, der schon am Boden liegt, ins Gesicht treten“, rief sie Hale zu, der zitternd am Fuße des Sockels kauerte, „ich kann da nicht rüber gehen.“ Er stand auf, kam mit hängenden Schultern zu ihr und klammerte sich an sie. Beruhigend strich sie ihm über die Haare. „Du hast es geschafft, Hale, die Skulptur ist ausdrucksstark, kraftvoll und überzeugend“, flüsterte sie ihm ins Ohr, und obwohl sie spürte, dass Ihre Worte ihn nicht erreichten, redete sie weiter beruhigend auf ihn ein, versuchte, ihm Mut zu machen. Er aber schickte sie wieder fort. Resigniert setzte er sich auf das Feldbett und starrte mit leerem Blick, schon sah er selbst aus, wie eines der gemalten Gesichter, auf sein Werk. 

Und dann wusste er es plötzlich; wusste was fehlte.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wie stellen Sie sich das vor? Im öffentlichen Raum ist das doch viel zu gefährlich. Absurd, so etwas nur zu denken! Haben Sie den Verstand verloren?“ Der Kulturstadtrat tobte. Er war nicht gewillt, dem Wunsch Hales nach einigen Rollen Stacheldraht nachzukommen. Aber Hale war hartnäckig. Beschwörend redete er auf den Stadtrat ein und versprach, den Draht so anzubringen, dass sich niemand daran verletzen konnte. „Wenn sie den Draht nicht genehmigen,“ drohte er schließlich, trotzig fast, „gehe ich hinaus und mache die Skulptur kaputt. Ich mach ein Häufchen Schutt aus ihr.“ Widerwillig gab der Stadtrat nach, machte jedoch zur Bedingung, dass, egal, was Hale vorhatte, der Termin für die Enthüllung nicht noch einmal verschoben werden dürfe.

 

***

 

Eine überschaubare Menschenmenge hatte sich eingefunden. Die Maturaklasse des örtlichen Gymnasiums, die eine Choreografie für die Entfernung der von Hale gewünschten roten Abdeckplane eingeübt hatte, stand bereit. Alles wartete gespannt auf den Künstler, der längst anwesend hätte sein sollen. Die Menge wurde unruhig. Bürgermeister und Kulturstadtrat hielten ihre Ansprachen. Hale war immer noch nicht gekommen. Verärgert gab der Bürgermeister schließlich das Zeichen zur Enthüllung. Langsam zogen die Schüler die Plane weg.

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Dann war es totenstill. Alle starrten entsetzt auf die Skulptur. In einem wilden, dichten Gewirr aus Stacheldraht, das sich um die Skulptur rankte, steckte, mit dem Kopf nach unten, endlich ganz verbunden mit seinem Werk, Hale. 

 

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