Von Lea Naum

Die Königin starrt wie gebannt auf die große rechteckige helle Stelle an der Wand. Ihr hochwohlgeborener Mund steht offen. Dann stürzt sie mit einem gellenden Schrei auf das Rechteck zu. Wieder und wieder schlägt sie auf die in diesem Bereich lupenreine Rosentapete. Sie tastet den Umriss des Rechtecks ab, legt ihre Wange samt Ohr an die abgebildeten dornigen Zweige, als könnten Wand oder Heckenrosen das Unfassbare erklären. Dann der markerschütternde Aufschrei. Er dringt durch das gesamte Schloss bis hinunter in den Keller: »Mein Spiegel! Mein Spiegel! Diese Vandalen! Diese Banausen! Diese verdammten Nichtsnutze, Verbrecher, Tagediebe! Die haben mir meinen Spiegel geraubt!«

 

Hans im Glück, der in den Tiefen der Katakomben sein siebentes freiwilliges Jahr absolviert, horcht auf. Er steht bis zum Hals in einem Berg von abgelegten Kleidern, Schuhen, Schleppen, Umhängen, Miedern und Mänteln. Er soll das Zeug loswerden. Die Königin braucht den Platz für neues Altes. Wer wäre da besser geeignet als er! Und in der Tat! Dreizehn Gewölbekeller hat er durch geschickte Tauschaktionen leergeräumt. Im letzten hockt nur noch eine Gans, die er gegen sieben goldene Stolas eintauschen konnte. Ihr Geschnatter geht ihm manchmal auf die Nerven und er wollte sie beim Krämer gegen ein Beutelchen Fadennudeln wechseln. Aber wie er die Gans so am Hals packte, ward sie stumm und schaute ihn so traurig an, dass es ihm ganz merkwürdig ums Herz wurde. Er sagte den Handel ab. Der Krämer wurde sauer und schalt ihn Lügner und Betrüger. Hans fühlt sich seither elendig, ob der Vorwürfe. Aber jetzt, da die Königin offenbar in Not schreit, dünkt ihm, könnte es ihm gleich besser gehen. Denn wenn er Gutes an der Königin tut, wird ein wenig der bösen Vorwürfe von ihm abgewaschen sein. So lässt er Schleppen und Sandalen fallen und macht sich auf den Weg nach oben.

 

Rumpelstilzchen hockt verzweifelt an seinem Schreibtisch im Kommissariat. Vor Wut würde er sich gern auf der Stelle in zwei Hälften reißen. Aber dann wäre das Polizeirevier völlig unbesetzt. Gerade sind seine zwei einzigen Beamten zu einer Massenschlägerei bei sieben Kleinwüchsigen ausgerückt. Es geht um eine ohnmächtige oder gar tote Frau. Dann meldete eine Oma ihre Enkelin als vermisst. Das Kind trug einen Picknickkorb und eine rote Kappe. Fünf Minuten später kam ein Fax, dass zwei andere Kinder in einem Haus im nahen Wald gefangen gehalten werden, und sie eine ältere Person an den Gliedmaßen betatscht. Dazu kommen unzähligen kleineren Vorfälle. Eine offenbar gestörte Frau lässt seit Tagen ihre Haare aus dem Fenster eines oberen Stockwerkes bis hinunter auf die Straße baumeln, so dass sich Rad- und E-Scooter- Fahrer darin verfangen. Dem Kommissar graust, wenn er an den ganzen Schreibkram denkt! Wieder läutet das Telefon!

 

Der glückliche Hans ist inzwischen am Ankleidezimmer der Königin angelangt. Er lauscht an der Tür. Von drinnen dringt Schluchzen und Wimmern. Er klopft. Das Schluchzen wird lauter. Vorsichtig öffnet er die Tür. An der Wand liegt in einer großen Tränenpfütze, zusammengerollt wie ein Embryo und nur mit einem Nachtgewand bedeckt, die offenbar sehr unglückliche Königin. 

»Eure Majestät, was ist passiert, dass Ihr so weinet?« Die Majestät hebt den Kopf und starrt ihn mit Augen so rot wie Feuerbälle an. 

»Ja, siehst Du das nicht, Du selten dämlicher Dorftrottel! Der Spiegel! Mein wundervoller, einzigartiger, wahrhaftiger Spiegel wurde geraubt! Vandalen, Nichtsnutze, niedere Kreaturen haben sich seiner bemächtigt! Was soll ich jetzt machen? Wer bin ich jetzt noch?«

»Aber Majestät! Ihr seid die Königin und das war doch nur ein Spiegel!«

Die Königin rafft sich hoch, richtet ihr Nachtgewand und baut sich vor Hans auf. Sie starrt ihn aus ihren Feueraugen böse an und kreischt:

»Da sieht man es wieder! Keine Ahnung hat dieses Gesindel! Ihr könnt das nicht begreifen! Dieser Spiegel ist mein Ein und Alles. Er und nur er sprach die Wahrheit. Er hat mir gesagt, wer ich bin, nur er wusste Bescheid wie es wirklich ist! Und er hat es mir gesagt, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, wenn ich es wollte. Ich bin die Schönste! Die Schönste im ganzen Land! Begreifst du jetzt, du Dämlack?«

Hans kratzt sich an seiner Glückskopfhaut und überlegt.

»Eure Majestät! Und wenn ich ihnen nun sagen würde, dass ihr die Schönste im ganzen Land seid, würde das nicht reichen?«

»Hältst du mich für blöde, du Dumpfbacke? Wie soll ich wissen, ob du mich nicht anlügst? Und was, wenn du die Wahrheit sagst, aber die anderen anders denken? Was dann?«

Der glückliche Hans guckt betreten drein. 

»Da siehst du, du Tölpel! Du denkst nicht weiter, als bis zu deinem Hosenknopf! Dir fehlt die Weitsicht, der Horizont, die Denkart einer Königin!«

Darauf vermag Hans nichts zu erwidern. Es stimmt! Er ist kein Königskind.

»Nun guck nicht so belämmert drein!«, herrscht die Königin ihn an. »Hole das Telefon her. Ich ruf die Polizei. Die wird mir den Spiegel schon zurückbringen!«

 

»Was genau ist denn passiert?«

Rumpelstilzchen hat den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und sucht mit beiden Händen unter den Aktenstapeln auf seinem Schreibtisch Stift und Zettel.

»Was hat er gemacht?«, brüllt er in den Hörer. »Ihnen ein Haar rausgerissen? Ein goldenes? … Aha! Eine Körperverletzung mit Vermögensnachteil also! … Gut, ich notiere mir das. Sie bleiben am Tatort und ich schicke zwei Beamte vorbei. Das kann aber ein wenig dauern … Was, wie lange? … Keine Ahnung! Lange eben!«

Rumpelstilzchen schmeißt den Hörer auf die Gabel. Was für ein Tag! Und er ist noch nicht zu Ende! Das Telefon läutet erneut. 

»Sie müssen sofort herkommen! Bei mir wurde eingebrochen! Mein Spiegel wurde geraubt!«, schreit eine hysterische Frauenstimme.

»Gute Frau! Nun bleiben sie mal entspannt. So einen Spiegel ersetzt die Versicherung. Hauptsache ihnen ist nichts passiert!« 

Rumpelstilzchen lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück. Gottlob nur ein simpler Einbruch! Bestimmt so eine reisende Diebesbande aus einem anderen Königreich. Den Fall kann er erstmal liegenlassen. Die Anruferin ist anderer Meinung.

»Nichts passiert? Mir ist nichts passiert? Sind sie noch zu retten? Ich bin ruiniert, am Boden zerstört. Für mich ist es das totale Ende. Haben sie das verstanden?«

»Nun übertreiben Sie aber, gute Frau!«, versucht der Kommissar zu beschwichtigen.

»Hören Sie, ich bin Ihre Königin! Und wenn ich sage, das ist mein Ende, dann ist es das auch! Und Ihr Ende wird es auch sein, wenn Sie nicht auf der Stelle ihre Beamten hierher beordern!«

Rumpelstilzchen erstarrt. Verdammt! Die hat ihm noch gefehlt! Jetzt ist er tatsächlich in zwei Stücke gerissen. Das eine würde gern zurückbrüllen, dass nullkommanull Beamte für die Suche nach ihrem dämlichen Spiegel zur Verfügung stehen, weil sie von den eingesparten Personalkosten ihren noch dämlicheren Fummel kauft, in dem sie dann vor ihrem oberdämlichen Spiegel rum hopst. Die andere Hälfte will schweigen, weil sie Angst hat, die Königin könne auch noch seine Personalkosten einsparen. Und wovon soll er dann die Scheite für sein nächtliches Feuerchen kaufen? 

»Ähmm, mmh … Ich denke, Eure Majestät ….«

»Sie sollen nicht denken! Sie sollen meinen Spiegel finden! Sofort! Also bewegen Sie Ihren Hintern hier her, aber zügig!«

»Aber wir haben nur noch ein altes Dienstpferd im Stall und das lahmt schon seit Wochen …«

»Dann tragen sie es eben! Oder improvisieren sie oder was weiß ich!«

  

Auf dem Innenhof des Schlosses herrscht Hochbetrieb. Alle sechsundachtzig externen Beautyberater der Königin und das gesamte Personal (die Köchin und der Kammerdiener) sind versammelt. Alle schauen nach oben. Am geöffneten Fenster des Ankleidezimmers steht ihre Majestät und intoniert:

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Und jetzt alle im Chor!«

»Frau Königin, ihr seid die Schönste im Land!«, rufen alle aus Leibeskräften.

»Sehr schön und gleich nochmal!«, verlangt sie Königin. Just in dem Moment öffnet sich mit Quietschen und Knarren das Hoftor. Kommissar Rumpelstilzchen schleppt sich in den Hof, am Halfter ein dürres Pferd, das sich mit Mühe auf den Beinen halten kann. 

»Ahh, der Herr Kommissar ist auch schon da! Sieh einer an!«, ruft die Königin hinab in den Hof. 

»Und Herr Kommissar, sagt – kann euer Gaul auch sprechen? Kann er sagen, dass ich die Schönste im ganzen Land bin?«

Rumpelstilzchen guckt verdattert nach oben und antwortet:

»Nein, Eure Majestät. Das ist der kluge Hans! Der kann aber rechnen!«

Zornesröte steigt ins Gesicht der Königin, und sie schreit: »Das ist aber nicht das, was ich hören will! Also bring er mir die blöde Schindmähre aus den Augen! Sofort! Und er kann auch gleich wegbleiben. So wie es jetzt ist, gefällt es mir besser!«

 

Am Fuß des Schlossbergs grast der kluge Hans. Ab und zu dreht er seine Ohren in Richtung Schloss. Dann schallt es von oben: »Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land!« Kommissar Rumpelstilzchen sitzt im Gras und massiert seine wunden Füße. Da kommt, fröhlich pfeifend, Hans im Glück des Wegs. Unter dem Arm trägt er die schnatternde Gans. Der Kommissar wittert sofort eine kriminelle Tat.

»Hey, was ist mit der Gans da? Habt ihr die etwa im Schloss gestohlen?«, fragt er Hans.

»Nein, beileibe nicht!«, erwidert Hans. »Das ist der Lohn für meine freiwillige Arbeit bei der Königin.«

»Aber für freiwillige Arbeit zahlt die Königin niemals so einen fetten Lohn!«, erwidert der Kommissar.

»Nun ja,«, sagt Hans. »Das ist auch nicht der Lohn für die sieben Jahre Arbeit! Ich bekam die Gans für zwei Minuten Beratung. Ich hatte die Idee mit dem Chor!«

Rumpelstilzchen denkt nach. Wie wäre es, wenn er die Königin auch beriete? Er könnte einen Gesetzesvorschlag machen. Den zum Beispiel: Die Königin ist auf immer und ewig die Schönste im Land! Natürlich als Paragraph Eins. Das würde ihr bestimmt gefallen! Flugs springt er auf seine wunden Füße und lässt glücklichen und lahmen Hans einfach stehen. Beschwingt, wie schon ewig nicht mehr, eilt er hinauf zum Schloss.

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