Von Daniel Büttrich

Ich hatte 39 Trainer und mit allen Krieg“ (Ansgar Brinkmann, legendärer Fußballspieler)

Du kannst mit 39 Trainern Krieg gehabt haben, und dann kommt der eine, der dir den Frieden bringt“ (Timmi, Fußballfan)

 

„Da oben sitzt Paul Gascoigne!

Timmi konnte sich kaum beruhigen.

„Verdammt, da oben sitzt Paul Gascoigne! Ich muss mir ein Autogramm holen! Wenn ich mir keines hole, beiße ich mir in den Arsch!“

Timmi stand mit dem Rücken zum Spielfeld und blickte feurig in die oberen Reihen der Tribüne. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, balancierte hin und her und verlor schließlich das Gleichgewicht. Dabei verpasste er Björn, der sich weit nach vorne gebeugt in die Lektüre des Stadionmagazins vertieft hatte, einen Kinnhaken.

„Au, bist du blöd oder was, pass doch auf!“, schimpfte Björn und renkte sich seinen Kiefer gerade.

„Entschuldigung, aber da oben sitzt Paul Gascoigne! Und er schaut erstaunlich gesund aus!“

„Ja, dann geh‘ doch bitte hin und hole dir endlich ein Autogramm, anstatt hier einen Schwanensee aufzuführen!“, beschwerte sich Björn.

„Männer, entspannt Euch! Timmi, ich schlage vor, du steigst die paar Reihen hoch und holst dir dein Autogramm von Paul Gascoigne!“, schlichtete ich im Stil eines erfahrenen Mediators.

Und schon sprintete Timmi los, als ob er nur auf meine Anweisung gewartet hätte. Zehn Minuten später, kurz vor Wiederanpfiff, war er zurück.

„Es war gar nicht Paul Gascoigne. Er sieht ihm nur extrem ähnlich. Er ist seit Jahren Dauerkarteninhaber von Leeds United. Er hat mir trotzdem ein Autogramm gegeben und mit Paul Gascoigne unterschrieben!“

Stolz zeigte Timmi uns die Unterschrift des falschen Paul Gascoigne im Stadionmagazin.

„Das gilt auch! Kommt in meine Sammlung neben George Best und Eric Cantona!“, meinte er.

„Du hast Autogramme von George Best und Cantona?“, fragte ich beeindruckt.

„Ja, aber das waren auch nicht die echten, sondern ebenfalls Doppelgänger.“

Der Schiedsrichter pfiff die 2. Halbzeit an der Elland Road an. Während Björn ein wenig müde von unseren Groundhopping-Aktivitäten der vergangenen Tage war, und sich meine Leidenschaft für dieses Spiel ohnehin in Grenzen hielt – ich war gedanklich bereits einen Schritt weiter bei unserem anstehenden Besuch beim ältesten Verein der Welt, dem F.C. Sheffield – war Timmi wie elektrisiert . Seit Marcelo Bielsa Trainer bei Leeds United war, verfolgte er die Spiele des Klubs wie ein Besessener. Er hatte den Betreiber unseres Stamm-Irish-Pubs, in dem wir uns kennen gelernt hatten, dazu gebracht sämtliche Begegnungen des englischen Zweitligisten Leeds United auf den Spielplan der Liveübertragungen zu setzen.

Wenig später fiel das 1:0 für die Heimmannschaft. Ruckhaft riss es die United-Fans von den Sitzen. Die gesamte Tribüne lag sich in den Armen.

„Jetzt sieht es gut aus!“, freute sich Timmi und klatschte mit Björn und mir ab. Sein verklärter Gesichtsausdruck ließ mich befürchten, dass er im nächsten Augenblick vor Freude losheulen würde. Das machte er oft bei 1860-Spielen am Saisonende. Dieses Mal zum Glück nicht. Es war eben „nur“ Leeds United.

Beim 1-0 blieb es. Zufrieden verließen wir das Stadion. Während sich Timmi glücklich verausgabt im Strom der Fans treiben ließ, versorgte uns Björn mit statistischen Fakten aus der Fußballhistorie. Er war ein wandelndes Fußballlexikon und konnte stundenlang referieren. Heutiges Spezialgebiet: WM 1966 und EM 1996. Von der detaillierten Schilderung von Lothar Emmerichs Sensationstor aus spitzem Winkel zum 1-1 gegen Spanien im Gruppenspiel der WM 1966, stellte er eine Verbindung zu Karel Poborskys wunderschönem Lupfer zum 1-0 gegen Portugal bei der EM 1996 her, um schließlich mit Paul Gascoignes technisch brillantem EM-Tor gegen Schottland zum Höhepunkt zu gelangen. Leidenschaftlich ahmte er Gazza´s Torjubel nach. Urplötzlich wurde mir klar, dass wir das Stadion längst verlassen hatten und in einer kleinen, abgelegenen Straße im Wohngebiet gelandet waren. Wie Alzheimerkranke ohne Orientierung waren wir stur geradeaus gelaufen.

„Warte mal, Björn! Ist ja schön und gut, dass du uns Fußballanekdoten und Statistiken zum Besten gibst“, unterbrach ich ihn. „Ich habe aber das Gefühl, dass wir vom Weg abgekommen sind. Unser Hotel ist in einem ganz anderen Viertel. Wir wollten doch eigentlich mit den Fans zur Bushaltestelle!“

„Hier ist ja niemand außer uns!“, wunderte sich Timmi.

„War…“, meinte Björn und blickte erschrocken geradeaus.

„Was meinst du mit war?“; fragte ich.

„Ich meine, hier war niemand außer uns. Schaut einmal an das Ende der Straße!“

„Oh fuck…! Lasst uns umkehren und unseren Schritt beschleunigen“, schlug Timmi vor.

„Oh fuck…! Und jetzt?“, rief Björn, nachdem wir uns umgedreht hatten.

Von beiden Seiten näherten sich Horden von betrunkenen, nicht besonders friedfertig aussehenden Millwall-Fans. Wir hingegen vermittelten mit unseren Leeds-Schals und Cappis keinen neutralen Eindruck. Wir waren in der Falle.

Nach einigen Sekunden in kollektiver Angststarre brüllte Timmi schließlich mit voller Inbrunst: „SECHZIG!“

„Was soll das?“, japste Björn.

„THEY ARE GERMANS! YEAHHH!“, reagierte einer der Anführer auf Timmi`s Ausruf.

Daraufhin erhob sich ein ohrenbetäubendes Schlachtengeschrei, und die beiden Fangruppen sprinteten auf uns zu.

Im Augenwinkel erkannte ich einen Laden mit der Aufschrift „Thai Massage“ und reagierte blitzschnell.

„Auf zur Thai Massage!“, rief ich und hechtete mit Björn und Timmi in den Laden.

„Shut the door! Shut the door! Hurry up! We are in danger!“, schrie ich. Eine junge Asiatin stürzte aus einem Zimmer hervor und sperrte die Tür in letzter Sekunde zu. Dann knallte es einige Male dumpf und die Scheibe splitterte. Ich hatte in meinem Leben bereits viele Zombie-Filme gesehen, doch das toppte jede Belagerungsszene. 20 bis 30 hasserfüllte und aggressive Fratzen klebten an den Scheiben des Geschäfts, fletschten die Zähne und brüllten unflätige Dinge.

Wir kauerten zu viert hinter der Kasse des Ladens und wagten es kaum, aufzuschauen. Dann nahm ich mir ein Herz und trat hervor.

„Peace! We are 1860-Munich-supporters! We like Millwall, too! Trautmann! Bert Trautmann! Germans and Englishmen are friends!“

„Idiot!“, zischte Timmi von der Seite, „wie schnell du deine Haltung verlierst! I don`t like Millwall!“

„Trautmann lief vor Kurzem im Kino! Ich dachte, vielleicht hilft so ein Appell zur Völkerverständigung! Fällt dir etwas Besseres ein?!“, giftete ich zurück.

Die Reaktion der Millwall-Fans auf meinen Vorstoß: Lautes Gelächter, daraufhin zigfach:

„Fuck you!“

Als die Millwall-Hools Anstalten machten, die Scheibe einzuwerfen, hatte die junge Asiatin eine Idee.

„Wait!“, sagte sie.

Kurz verschwand sie in einem Nebenraum und tauchte dann mit einem großen Samuraischwert auf, das sie in die Höhe stemmte.

„Und jetzt geht Ihr alle schön nach Hause!“, schmetterte sie den Millwall-Hooligans energisch entgegen. Diesen beeindruckenden Klangkörper hatte ich ihrer zarten Erscheinung nicht zugetraut. Zwei Minuten später war vor dem Geschäft weit und breit niemand mehr zu sehen!

„Nun beruhigt Euch erst einmal, Männer!“, sprach die junge Frau zu uns und schenkte dem kreideweißen und schwer atmenden Björn ein Glas Wasser ein.

„Darf ich Euch einen Tee machen?“, fragte sie.

„Hmmm… ja…Warum nicht!“, murmelten wir übereinstimmend.

„Woher kommt Ihr?“, erkundigte sie sich nach unserer Herkunft.

„München!“

„Ich komme ursprünglich aus Bangkok. Mein Name ist Nisha. Ich lebe hier aber schon seit 10 Jahren.“

Wir nahmen an einem kleinen Holztisch Platz und erzählten in radebrechendem Englisch vom Groundhopping, unserer gemeinsamen, großen Leidenschaft. Nach einigen Minuten stieß Joy, Nishas Kollegin, zu uns. Sie war klein, zierlich, ausgesprochen süß und der Blickfang für Timmi. Mich aber machte Nisha verlegen. Ihre Stimme, ihr liebliches Lächeln, ihre duftenden Haare, ihr schön geformter Körper. Ich war verzaubert.

„Liebe auf den ersten Blick“, kam es mir in den Sinn. Ich setzte vorerst ein kleines Fragezeichen dahinter. Ich suchte ihre Aufmerksamkeit. Sie schien meine Zuneigung mit ihren Augen zu erwidern.

Ich fragte Nisha nach ihrer Familie, ihrem Job und ihren Erfahrungen in England. Sie fragte mich nach meiner Familie, meinem Job – ich war zu der Zeit Fahrradkurier – und meiner Heimat. Irgendwann merkte ich, dass nur Nisha und ich uns unterhielten, während Björn, Timmi und Joy schweigend daneben saßen.

„Lass uns ins Hotel aufbrechen, es wird bald dunkel! In wenigen Tagen ruft die Anfield Road!“, warf Timmi schließlich in die Runde.

„Gemma!“

Es hatte zu regnen begonnen, und vor dem Massagesalon hatte sich eine große Pfütze gebildet. Zu fünft standen wir nebeneinander und betrachteten andächtig unser Spiegelbild in der Pfütze.Wir gaben ein lustiges Bild ab.

In diesem Moment erinnerte ich mich an meine bisherigen Lebenspartnerinnen: Julia, die Schüchterne, Sandra, die Ordnungsfanatikerin, Petra, die naiv Sentimentale, Jutta, die Wilde, Maja, die Anspruchsvolle, Beata, die Maßlose. Keine Beziehung hatte länger als zwei Jahre gedauert, die meisten hielten sogar nur sehr kurz. An irgendetwas war es immer gescheitert, wahrscheinlich an mir. Ich wollte wieder unabhängig sein. Jetzt, in diesem Augenblick, wünschte ich mir eine Beziehung fürs Leben.

„What do you think about a massage?“

Ich wachte aus meinem Tagtraum auf.

Nisha stand neben mir. Sonst niemand.

„A good idea!“, antwortete ich direkt.

Eine Stunde später küssten wir uns.

Zwei Stunden später: Man kann es sich denken.

Ein Jahr später zog ich zu ihr nach Leeds.

Zwei Jahre später heirateten wir.

Drei Jahre später bekamen wir ein Baby.

Jedes Jahr besuchten uns Björn und Timmi und blieben für einen Monat (Groundhopping).

 

Die Möwen folgen dem Fischkutter, weil sie glauben, dass die Sardinen wieder ins Meer geworfen werden.“ (Eric Cantona)

 

Timmi: „Wirst du zu meiner Hochzeit kommen, wenn ich debil im Rollstuhl sitzen und meine osteuropäische Pflegerin heiraten werde, so wie Johnny Depp zu Shane Mc Gowans Hochzeit gekommen ist?“

Ich: „Klar, solange die Möwen dem Fischkutter folgen!“ 

 

– 2. Version –