Von Nora Burgard

Ich muss lächeln, als ich meine Lieblingsstelle leise im Kopf mitsinge. Es geht um zu lautes Schweigen und darum, warum das nicht so gut ist. Bittersüß, denke ich. Denn klar, auf der einen Seite ist das Unglück, das wir beide aushalten müssen. Aber auf an der anderen Seite ist so viel mehr. Hoffnung vermutlich. Nein. Vorfreude.

Die Musik dröhnt laut aus meinen Kopfhörern. So oft hat er mich deswegen schon zurechtgewiesen. Das Trommelfell würde ich mir kaputtmachen, sagt er. Aber schon als kleines Kind war mir völlig klar, dass ich Musik nur dann wirklich verstehen kann, wenn sie so laut ist, dass sie, angefangen im Ohr, durch meinem Hals runter in die Brust wandert, wo sie sich schließlich ausbreitet, bis der ganze Körper vibriert. Wenn ich die Tränen direkt hinter meinen Augen spüre, und mich zusammenreißen muss, sie nicht loszulassen. Wenn die Fingerspitzen kribbeln und mein Bauch sich zusammenzieht. 

 

Natürlich liebe ich ihn. Schon lange. Und die Liebe wird seit Jahren nicht weniger. Und doch verletzen wir uns immer wieder. Ich weiß, dass ich ihn verletze. Ich verletze ihn bewusst. Manchmal. Aber ich weiß, dass du das verstehst, schließlich machst du das ja auch. 

 

Letztens hat er zu mir gesagt, ich solle aufhören, in meinen Geschichten zu leben. Wie soll das gehen? 

 

Es ist aber doch alles eine Geschichte, habe ich geantwortet. Plot, Protagonist, Antagonist, fünf Akte, Höhepunkt, Auflösung, das ganze Programm. Jeder Tag, jede Minute, Gespräche, Begegnungen, ein Abend mit zu viel Alkohol, Küsse und  Sex. Er lachte mich aus, das tut er oft. „Ich lach dich doch nicht aus“, sagte er jedoch und küsste mich auf die Stirn, „ich liebe dich.“ Ob er das nicht einfach mal ernstnehmen könne, schrie ich dann. Es macht mich jedes Mal wütend, wenn er mir unterstellt, dass ich Einfluss auf die Geschichten haben könnte, die in meinem Kopf entstehen. Wenn er so tut, als könnte ich einfach abstellen, dass sich die Handlungsstränge ganz natürlich verknüpfen und ich einfach nur zusehe, wie sich der Spannungsbogen langsam aufbaut. In alles und jeden würde ich zu viel hineininterpretieren, sagte er. Meine Gefühle und meine Realitäten ständig auf irgendwas und irgendwen projizieren. An diesem Abend habe ich viele Stunden an dich gedacht. 

 

Manchmal frage ich mich, ob er auch solche Gedanken hat. Ob es eine Person gibt, an die er heimlich denkt, und bei der er weiß, dass sie genau so ist wie er. 

 

Ich sitze in der S1 Richtung Wedel, der nächste Song fängt an. Mir gegenüber liest ein Mann die Bild-Zeitung. Ist das noch Instagram oder schon Pornhub? steht da. Ist das schon Liebe, oder noch Fantasie, frage ich mich, und lache kurz laut auf. Der Bild-Mann schaut genervt über seinen Zeitungsrand und atmet zischend aus. Ich weiß, was er denkt. Dass es mir egal ist, was er denkt, wäre gelogen. Ich würde mir aber so sehr wünschen, dass es mir egal sein könnte. Ich überlege, was ich sagen würde, wenn ich mutiger wäre. „Was ist denn das Problem?“, könnte ich zum Beispiel fragen und er würde antworten: „Sie stören mich beim Lesen!“ Daraufhin würde ich mich selbstbewusst aufrichten, ihn von oben bis unten mustern, und sagen: „Dieses Drecksblatt stört Sie beim Denken.“ Das würde den Bild-Mann so wütend machen, dass er aufspringen und mir an die Gurgel gehen würde. Er würde schreien, mich als kleine Schlampe beschimpfen und mir den Hals zudrücken. So lange bis der große, gut gekleidete Mann fünf Sitze weiter aufspringen und mir zur Hilfe eilen würde. Er würde mich aus den Griffen des Bild-Mannes befreien, ihn an der Haltestelle Stadthausbrücke aus der Bahn schmeißen, sich danach neben mich setzen und sanft fragen: „Ist alles okay?“ Und ich würde mir den Hals reiben und sagen: „Es geht so. Aber es wird schon wieder.“

 

In Wahrheit  schaue ich jedoch weiter aus dem Fenster und höre zu, wie du singst. Es ist gruselig. Du hast dir meine Gedanken und Gefühle gepackt. Du hast sie aufgeschrieben und als Gedichte neu zusammengesetzt. Ich bin deine Inspiration. Offensichtlich. Und du der Autor meiner Biografie. An manchen Stellen ersetze ich den von dir besungenen Mädchennamen mit meinem eigenen und hoffe, dir bald endlich meine Version vorsingen zu können. 

 

Zuhause angekommen wartet er schon auf mich. Ich kann in seinen Augen sehen, was ihn stört, und ich entscheide mich, nichts zu sagen. Als ich ihn küsse, bleibt sein Mund verschlossen. Wo ich war, will er wissen, er habe schließlich auf mich gewartet. Und überhaupt hätten wir schon lange nicht mehr richtig Zeit füreinander gehabt und das könne so nicht weiter gehen. Während er spricht, füllen sich seine Augen mit Tränen, und seine Unterlippe zittert leicht. Jetzt muss auch ich weinen. „Oh Baby“, sage ich und nehme ihn in den Arm. „Es tut mir so Leid, bitte sei nicht traurig.“ Alleine spazieren war ich. Stundenlang bin ich gelaufen und habe Musik gehört. Seine Augen flackern hin und her, er versucht zu verstehen, das merke ich. Ich liebe ihn so sehr. In meinem Rücken spüre ich die Schuld. Auf einmal steht sie direkt hinter mir und hat mir eine Hand auf die rechte Schulter gelegt. Ich werde panisch, schlucke mehrmals, kreise mit den Schultern, um das Kribbeln loszuwerden, und überstrecke meinen Rücken, um tief einatmen zu können. Ich erzähle. Wie ich mich gefühlt habe. Warum ich laufen musste. Wieso ich nicht nach Hause gehen konnte. Ich spreche über die Alpträume, die wieder da sind, und die Angst. Immer wieder die Angst. Und dass es nur eine Sache gibt, die hilft, und das ist Laufen und Musik. Jetzt nimmt er mich in den Arm. Sein ganzer Körper ruft „Ich halte dich“, aber er sagt nichts. Das ist gut. Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und versuche loszulassen. Für zwei Sekunden spüre ich, wie sich die Wärme ausbreitet. Doch dann wird mir zu heiß. Und ich reiße mich los. 

 

In dieser Nacht liege ich wieder einmal von 3 bis 5 wach. Kurz vorher habe ich geträumt, dass ein Mann vor meinem Fenster steht und mich durch die Vorhänge beobachtet. Dass er mich anstarrt, ohne blinzeln zu müssen. Als ich im Traum aufgewacht bin, stand er so nah an der Fensterscheibe, dass ich ihm direkt in die Augen schauen musste. Jetzt kann ich nicht mehr einschlafen. Jedes Mal, wenn es mir so geht, stelle ich mir schöne Situationen vor. Was wäre wenn, nenne ich das. Als kleines Kind habe ich mir zum Beispiel ausgemalt, dass ich einen schweren Unfall habe und im Krankenhaus liegen muss. Und alle Kinder, die böse und gemein zu mir waren, stehen neben meinem Bett und sehen mich an, wie ich da liege: bleich, ausgemergelt und an Schläuche angeschlossen. Sie weinen und sagen: „Wären wir doch nur netter gewesen.“ Später, während des Studiums, habe ich mir vorgestellt, dass ich vor einem Club verprügelt werde, und der Typ, in den ich damals unglücklich verliebt war, mich retten muss. Ich bin so schwach und schwer verletzt, dass er mich in den Krankenwagen trägt. Und jetzt liege ich hier, und träume davon, bei einem deiner Konzerte ohnmächtig zu werden. Die Security-Männer bringen mich nach hinten in den Backstage-Bereich. Und da siehst du mich dann: bleich, ausgemergelt, auf einem Sofa liegend. Wenn wir anfangen, uns zu unterhalten und merken, dass wir genau gleich sind, schlafe ich ein. 

 

Es ist krass, wie gut wir uns verstehen würden. Ich bin krank und liege seit Tagen im Bett und schaue Interviews mit dir. Ich lache laut über deine Witze und überlege, wie ich sie am besten kontern könnte. Wie ich dich auch zum Lachen bringen würde. Wie wir dann vom Witz zur Ernsthaftigkeit kommen und über Politik sprechen. Du wählst sicher Grün, genau wie ich. Wie wir über Feminismus diskutieren, über Gleichberechtigung in meinem Job, Sexismus in der Kunst und die Abtreibungsparagrafen im Strafgesetzbuch. Wie wir immer mehr Wein trinken und immer mehr Zigaretten rauchen. Wie wir durch Berlin laufen und du mir deine Lieblingsplätze zeigst. Bis du mich plötzlich einfach packst, hart gegen eine Hauswand drückst, mein Gesicht in deine beiden Hände nimmst, und mich stundenlang küsst. Du bist nicht so zärtlich, wie man auf den ersten Blick denken könnte.

 

Nach dem zehnten Tag im Bett halte ich es nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen. Und wenn ich schlafe, kriecht die Angst in mein Gehirn und foltert mich mit Bildern von Männern vor meinem Fenster. Es ist Nacht, ich schaue auf mein Handy. 4.32. Meine Augen brennen und mein Herz rast. Ich drehe mich von einer Seite auf die andere. Er stöhnt genervt auf, dann flüstert er: „Sei doch einfach mal leiser.“ Ich muss los. 

 

Ich stehe auf, und gehe ins Bad. Ich dusche, putze gleichzeitig die Zähne. Ich ziehe mich an. Unterhose, BH, Strümpfe, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, graue Strickjacke. Ich tausche die Brille gegen meine Kontaktlinsen, weil ich mich mit Brille immer unsichtbar fühle. Manchmal mache ich mich extra unsichtbar, trage die Brille, wenn ich Angst vor zu viel Augenkontakt habe. Angst davor, dass mich jemand durch einen einzigen Blick in meine Augen bloßstellen könnte. Oft muss ich mich verstecken, einen Teil von mir selber ausbremsen. Denn jedes Mal, wenn ich zu viel preisgebe, kann ich tagelang nicht richtig atmen und male mir aus, wie die Geschichten, die ich über mich erzählt habe, irgendwann gegen mich verwendet werden und mich ruinieren könnten. Aber heute ist das anders. Heute will ich schön sein, mich schön fühlen, mich zeigen. Ich schminke meine Augen mit schwarzer Mascara. Ich angele aus dem Wäschekorb ein wenig saubere Wäsche und gehe ins Wohnzimmer, um meinen grauen Rucksack zu holen. Ich packe die Klamotten ein, meine Zahnbürste, meine Brille und das Kontaktlinsen-Döschen, mein Portmonee, das Handy, ein Ladekabel, die Kopfhörer, einen Apfel und eine Packung Gummibärchen. Ich drehe mich nicht noch mal um, als ich die Tür hinter mir zuziehe. 

Um 6.18 Uhr geht ein Zug ab Altona nach Berlin. Ich bin gespannt, wo ich dich finden werde. Aber vermutlich wartest du sowieso schon auf mich.