Von Sarina Lögler

Seit Wochen schlich Marleen um diesen Hülsta-Schrank herum. Genauso lange, wie sie von ihrer neuen Wohnung wusste. Diesen Schrank musste sie noch ausräumen. Denn er sollte in ihr neues Schlafzimmer kommen. Mit seinem hellen Eichenholz, den Flügeltüren und den kugelförmigen Knäufen passte er genau zu ihrem neuen Bett. 

 

Doch sie konnte ihn nicht leer machen. Schon seit Stunden starrte sie auf die Türknäufe und wagte es nicht ihn zu öffnen. Sie musste es endlich tun. Am nächsten Tag sollten die Möbelpacker kommen und wollten auch ihn mitnehmen. Das Ausräumen dieses Schrankes würde sie nie den Möbelpacker überlassen. Es war allein ihre Aufgabe das zu tun.

 

Noch immer starrte sie unverrichteter Dinge auf die beiden Flügeltüren. „Himmel hilf“ dachte sie. 

 

Plötzlich klingelte ihr Handy. Ihre Freundin Erika war dran.

„Marleen, hast du mit dem Schrank angefangen?“ fragte sie unvermittelt. „Nein, noch nicht!“

„Marleen, soll ich vorbeikommen und Dir helfen?“ 

„Nein, das muss ich alleine tun!“

„Aber ich kann Dir doch helfen. Ich würde auch einen Rotkäppchen Sekt mitbringen, dass es für Dich leichter wird.“ 

„Ich kann nicht. Du weißt, was ich momentan nehme.“

„Den gibt es auch alkoholfrei.“ 

„Erika, sei mir bitte nicht böse, aber ich möchte es alleine machen. Wir sehen uns morgen beim Umzug.“ 

„Du meldest Dich, wenn du etwas brauchst?“ 

„Erika, tschüss!“

 

Voller Wut legte Marleen auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank. Verdammt, niemand kann verstehen, dass ich keine Hilfe will, dachte sie. Auch ihre Mutter musste sie bei deren letzten Besuch davon abhalten den Schrank auszuräumen. Nach der Wut kam die Traurigkeit. Ihre Augen füllten sich mit bitteren Tränen. 

 

Von der Trauer erschlagen rutschte sie mit ihrem Rücken die Flügeltüren herunter. Wie ein kleines Kind kauerte Marleen auf dem Teppichboden und umschlang ihre Beine. „Warum hast Du mich allein gelassen?“, fragte sie die Stille um sich herum. „Wo bist Du bloß?“, fragte sie weiter.

 

Plötzlich ergriff sie die Wut der Verzweiflung. Marleen stand auf und ging zum Plattenspieler. Sie öffnete den Deckel. Vorsichtig legte sie die Nadel auf die Schallplatte „Wiederzusammen“ von Marianne Rosenberg. Während die ersten Discotakte des Lied „Marleen“ ihren Weg in den Raum fanden, öffnete sie mit Schwung beide Flügeltüren des Schranks.

 

Sofort kam ihr der Geruch in die Nase. Marleen hatte ihn ersehnt und zugleich gefürchtet. Es roch nach frischer Erde, frisch geschlagenem Holz und Axe Aftershave. Aufgehängt auf Bügeln sah sie Arbeitshosen, buntkarierte Holzfällerhemden und ganz hinten rechts den Hochzeitsanzug. Auf dem Schrankboden lagen seine ungewaschenen Arbeitshosen. 

 

Er war der Naturbursche gewesen, den sie sich immer gewünscht hatte. 

 

„Marleen, eine von uns beiden muss jetzt gehen“, sang Marianne Rosenberg. „Aber das hättest nicht Du sein müssen!“, schrie Marleen vor Schmerz auf. 

Sie riss das blaukarierte Lieblingshemd ihres Mannes vom Bügel. Ganz fest drückte sie es sich ins Gesicht. 

 

Es erschien das Bild eines hochgewachsenen Mannes vor ihren inneren Augen – kurze schwarze Haare, die in alle Richtungen standen. Große tiefblaue Augen und ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. So hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen. Auf einer 70er-Motto- Party hatte er sie ausgerecht zu „Marleen“ von Marianne Rosenberg zum Tanzen aufgefordert. Als sie ihm beim Tanzen erzählte, dass sie wegen des Lieds Marleen heißt, hatte er nur gelacht und gemeint: „Ich heiße Theo, nach dem Lied von Vicky Leandros- Theo, wir fahren nach Lodz“ Danach hatten sie beide gelacht. Seitdem waren Theo und sie unzertrennlich. 

 

Am liebsten würde Marleen das Bild von Theo und ihr, wie sie an Erikas Hochzeit zu „Marleen“ tanzten, als letzte Erinnerung von ihm behalten. Und nicht dieses Bild, das sie jede Nacht quälte und im Schlaf aufschrecken ließ. Theo, wie er blutüberströmt, leichenblass auf dem Beifahrersitz hing. Jemand hatte einen großen Stein von der Autobahnbrücke geworfen und ihren Mann tödlich getroffen. Sie und Theo waren auf dem Heimweg von Erikas Hochzeit gewesen. Weil Theo etwas getrunken hatte saß sie am Steuer. „Marleen, einer von uns beiden muss jetzt gehen…“ sang Marianne Rosenberg wieder. „Ich wäre von uns gegangen, wenn ich Alkohol getrunken hätte und Du gefahren wärst“ dachte Marleen. „Aber wir wollten doch schwanger werden und so trankst du den Sekt und den Wein, der für mich bestimmt war.“ 

 

Marleen wusste nicht mehr wohin mit ihrer Wut, dem Schmerz und ihrer Verzweiflung. Schwer getroffen sackte sie in sich zusammen. Theos Hemd hielt sie noch immer in ihren Händen. Still rannen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Sie linderten ihren Schmerz nicht. Innerlich erstarrt, lauschte sie weiter der Schallplatte:

 

Marleen
eine von uns beiden muß nun geh’n
Marleen
drum bitt‘ ich Dich
geh du
Marleen
Marleen
du musst geh’n
Marleen

 

Die letzten Takte des Lieds waren verklungen. 

 

Plötzlich glaubte Marleen die raue sinnliche Stimme von Theo zu hören: „Marleen, einer von uns beiden muss nun geh’n. Marleen, drum bitt‘ ich Dich, geh du. Marleen. Marleen, du musst geh’n, Marleen“. Es dauerte eine Weile, bis Marleen sich selbst glaubte, dass sie Theo´s Stimme gehört hatte. Danach brauchte es noch einen weiteren Augenblick, bis sie Theo auch wirklich verstand. 

 

Theo hatte Recht, dachte sie schließlich. Sie musste gehen in die neue Wohnung und auch in ein neues Leben. Aber sie würde ihn mitnehmen. Etwas benommen aber entschlossen stand sie vom Fußboden auf. Sie legte sein Hemd zur Seite und zog seinen Reisekoffer unter dem Bett hervor. Den Koffer legte sie geöffnet auf den Boden. Dort würde sie seine Lieblingssachen einpacken und danach mit in die neue Wohnung nehmen. Im neuen Schlafzimmer würde sie den Koffer wieder öffnen und dann ihr Lied hören. Theo würde dann bei ihr sein..