Von Jasmin Fürbach

Montag. Wie jeden Morgen gehe ich ins Badezimmer und wasche mein Gesicht. Ich fühle mich bereits jetzt erschöpft, das Wochenende wieder mal viel zu kurz und der Sonntag steckt mir noch tief in den Knochen. Der Tag hat zwar gut angefangen aber je mehr Minuten verstreichen, desto nervöser werde ich. Ein Anruf meines Kollegen informiert mich, dass ich früher als geplant ins Büro muss, und das, obwohl ich noch nicht einmal die Gelegenheit hatte zu frühstücken. Ich mache mich auf den Weg, werde beinahe von einem Autofahrer beim Überqueren eines Fußgängerübergangs angefahren und erreiche das Büro zwanzig Minuten zu spät. Als ich abends wieder nach Hause komme und mich im Spiegel betrachte, fallen mir die schwarzen Ringe unter meinen Augen auf. Ich taste meine Wangen ab und sehe die Frau im Glas dasselbe tun. Für einen Moment denke ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrzunehmen, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder. Es ist niemand anders in meiner Wohnung, hier sind nur ich und mein Spiegelbild.  

 

Dienstag. Der Morgen beginnt genauso grau, wie der letzte Tag aufgehört hat. Diesmal habe ich sogar die Zeit zu frühstücken, beiße mir jedoch an einem Kern in einer Kirsche beinahe den Zahn aus, was mir die Freude wieder nimmt und den Appetit verdirbt. Auf dem Weg ins Büro werde ich von einem Mann, der es offenbar sehr eilig hat umgestoßen und falle mit meinem Ellenbogen so heftig gegen eine Wand, dass ich vor Schmerz kaum atmen kann. Es ist kein gutes Zeichen, bereits so früh am Morgen derartiges Pech zu haben. Nach dem Abendessen widme ich mich meiner üblichen Abschminkroutine. Ein Auge geschminkt, das andere von Mascara verschmiert starre ich in den Spiegel. Es ist seltsam, sich so zu betrachten. Mir wird erst in dem Moment bewusst wie verkehrt die Welt des Spiegels ist. Als ich den linken Arm hebe, sehe ich mein Spiegelbild den rechten heben. Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich denke darüber nach, dass das Ich im Spiegel nicht das Ich vor dem Spiegel ist. Seltsam.

 

Mittwoch. Ich erwache mit Kopfschmerzen, wie ich sie mein Leben lang nie gehabt hatte. Meine Tabletten habe ich vergessen aus der Apotheke zu holen. Ich kann mich auch nicht krankschreiben lassen und mache mich daher, schwindlig wie ich bin, auf den Weg in die Arbeit. Es kommt mir immer mehr vor wie ein undurchdringlicher Kreislauf, eine ewige Aneinanderreihung von Unannehmlichkeiten. Ich kann es nicht mehr ausstehen. Wut überwältigt mich für einen Moment. Ich wünschte, es gäbe weniger Tage wie diesen. Oder die gesamte bisherige Woche. Wieder Zuhause angekommen, bleibe ich erneut vor dem Spiegel oberhalb des Waschbeckens stehen. Heute sieht mein Gegenüber noch erschöpfter aus, als die Tage zuvor. Ich greife mir mit der rechten Hand an die Schläfe, massiere sie kurz und sehe mir gleichzeitig im Spiegel dabei zu. Erst als ich im Bett liege und die Bewegung wiederhole, wird mir mulmig zumute. Etwas plagt mich, lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Ein Gedanke drängt sich mir auf, der mich stutzen, ruckartig im Bett aufsetzen lässt: Hat mein Spiegelbild nicht die falsche Hand gehoben? 

 

Donnerstag. Wieder ein anstrengender Tag, aber ich habe nichts Anderes erwartet von einer Woche, die noch jeden Tag eine unangenehme Überraschung für mich bereitgehalten hat. Es regnet in Strömen und ich habe mich scheinbar über Nacht erkältet. Am Abend wanke ich ins Badezimmer und blinzle mir selbst entgegen. Die Nase ist sichtlich gerötet, die Augen tränen, es ist zum Haare raufen. Meine schlechte Stimmung verflüchtigt sich, als mir einfällt, was ich gestern Nacht im Spiegel gesehen hatte. Als ich mir selbst in die Augen schaue, lediglich getrennt durch das Glas, habe ich erneut das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Mein Verdacht scheint sich zu verhärten, als mein Gegenüber mich anstarrt. Sitze ich wirklich so still da? Wie um mir selbst zu bestätigen, dass ich mir die Begebenheit gestern nur eingebildet habe, strecke ich die Hand aus und berühre den Spiegel. Ich sehe die andere das gleiche tun. Mit Schrecken fällt es mir auf: sie ist einen Moment zu spät. Ihr Finger trifft eine Millisekunde nach meinem auf dem Glas auf. In einer plötzlichen Bewegung schnipse ich, sie tut es mir nach, doch auch hier ist sie nicht rechtzeitig. Wie in einem Film, in dem Ton und Bild asynchron ablaufen. Dann, als würde ein Vorhang fallen, sehe ich sie die Hände sinken lassen, während meine noch ausgestreckt sind. Sie tritt vor, greift nach dem Spiegel, als wolle sie hindurch. Ich stemme mich dagegen, meine Hände an das Glas gepresst. Angst kommt in mir hoch. Ich setze alles daran, sie fernzuhalten, sie zurücktreten zu lassen. Mein Widerstand scheint sie daran zu hindern hindurchzuschreiten. Ich fühle die Erleichterung mich durchfluten, als ich erkenne, dass ihr Versuch gescheitert ist. Sie kann nicht durch den Spiegel. Es dauert einen Moment, dann seufzt sie und nimmt meine Pose an. Mit einem Mal sind wir wieder im Einklang. 

 

Freitag. Als ich erwache stelle ich mir zum ersten Mal die Frage, ob es einen Weg durch den Spiegel gibt. Vielleicht ist das der Grund, warum sie gestern Nacht ihr Eigenleben so unvorsichtig offenbart hatte. Ich meide das Badezimmer diesen Morgen, möchte ihr nicht noch eine Chance geben, es zu versuchen. Der Abend kommt schneller als erwartet und trotzdem bin ich vorbereitet. Das Licht im Badezimmer ist angeschaltet und ich nähere mich mit einem Messer in der Hand dem Spiegel. Ich weiß nicht sicher ob ich es brauchen werde aber ich fühle mich besser, wenn ich es bei mir habe. Zuerst ist nichts Ungewöhnliches zu bemerken, wenn man von der Tatsache absieht, dass mein Spiegelbild kein Messer in ihrer Hand hält. Dann aber ganz subtil passen unsere Bewegungen nicht mehr zusammen. Es ist, als erwache sie aus einer Trance und plötzlich schlägt sie mit einer Wucht gegen das Glas, als wolle sie es zertrümmern. Ich lasse das Messer fallen, leiste Widerstand, schütze den Spiegel mit meinen Händen vor dem Zusammenbrechen. Ohne zu wissen warum, ist mir bewusst, dass ich ihr nicht erlauben kann hindurch zu treten. Als wäre dieses Wissen fest in meinen Körper eingeflochten, weigere ich mich beiseite zu gehen. Sie kämpft, ringt mit dem Spiegel doch das Glas gibt nicht nach. Ich frage mich, warum sie so dringend auf diese Seite möchte. Sie ist nur ein Bild im Spiegel, vielleicht möchte sie ein eigenes Leben führen. Ich bin nicht bereit meines für ihres zu geben, wehre mich dagegen so gut ich kann. Dann sehe ich es: ein Riss im Glas. Plötzlich birst der Spiegel, zerspringt in tausend kleine Teile und sie steht vor mir. Ich kann nichts tun, als durch das Loch in der Wand zu schauen, Auge in Auge mit mir selbst. Ohne zu wissen, wie es geschieht ist der Spiegel wieder in einem Stück, als wäre nie etwas passiert. Ich starre ins Glas, sehe mein Spiegelbild wie es immer war. Die Wohnung in der ich stehe, die sich hinter mir abzeichnet, ist nicht meine und doch erkenne ich gewisse Ähnlichkeiten. Ein Mann liegt in meinem Bett, mit einem Ring am Finger. Er wartet auf mich, küsst mich sachte und zieht mich zu sich. Ich weiß nicht warum, aber ich lasse mich neben ihn fallen, schlafe ein. 

 

Samstag. Der Tag bricht an und ich schleiche ins Badezimmer. Sie sieht mich an und ich glaube in ihrem Blick etwas zu erkennen. Ich gehe wieder hinaus, ziehe mich an, verbringe den Tag mit meinem Mann. Es ist als wäre ich nie weg gewesen, als würde all dies ganz zu mir und ich hierher gehören. Als ich am Abend einen erneuten Blick in den Spiegel werfe ist sie auch da. Sie lächelt. Ich bin froh über dieses neue Leben, fern von Alltag und Routine und einer grauen eintönigen Welt. Auch sie scheint erleichtert, froh über den Wechsel, obwohl ich nicht verstehen kann, warum sie meine Welt ihrer eigenen vorziehen würde. Und doch wirkt sie, als ob sie glücklich wäre. Ihre Augen scheinen zu lachen, sich zu freuen und ich bin nicht sicher, ob ich tatsächlich sie sehe oder einfach nur mich selbst im Spiegel. Dann zwinkert sie mir zu. Ich bin mir nicht mehr sicher, wer von uns beiden das Abbild der anderen ist. Und dann wird mit bewusst, dass wir wohl beide auf der falschen Seite des Spiegels standen.