Von Monika Heil

So spät schon? Charlotte versucht, sich zu beeilen. Eine modische weiße Bluse, dazu ein elegant drapiertes Seidentuch, blauer Hosenanzug, den neuen Silberschmuck und ab ins Bad. Ein paar rasche Bürstenstriche und dann … 

 

Das erste graue Haar! Mitten in der Bewegung hält sie inne und starrt ihr Spiegelbild an. Irritiert sucht sie nach weiteren Spuren, findet sie mühelos. Der Spiegel zieht ihr Gesicht nahe an sich heran. »Da und da!», scheint er zu flüstern. Es bleibt nicht bei dem einen grauen Verräter. Kritisch betrachtet Charlotte ihr Konterfei, versucht einen objektiven Blick, als sei ihr Gegenüber eine Fremde. Nein, fremd ist nichts an ihr. Es bleibt nur die subjektive Sicht, denn alles ist ihr vertraut, die dunklen Augen, der helle Teint, ihre vollen Lippen. Wieso registriert sie gerade jetzt lauter kleine Fältchen? – Dort und dort. »Das sind Lachfältchen«, versucht sie eine Erklärung. »Mach´ dir nichts vor.« Auch Hals und Dekolleté weisen verräterische Spuren auf. Wie lange schon?

 

Hatte Karin recht, als sie vor ein paar Tagen am Telefon klagte, dass die Zeit unaufhaltsam verging, die besten Jahre vorbei seien?

»Quatsch«, erklärt sie ihrem Spiegelbild. »Die paar Falten beweisen noch gar nichts. Wenn man im Herzen jung bleibt…« Na gut, sie ist keine zwanzig mehr, wollte sie auch nie wieder sein.

»Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein paar Falten noch keine alte Frau.«

 

Energisch zupft sie ein paar graue Haare aus.

»Was soll das?«, glaubt Charlotte, die Frau im Spiegel schimpfen zu hören. »Melde dich lieber beim Friseur an.«

»Ja, gleich morgen lasse ich mir die Haare färben«, nickt Charlotte sich zu.

»Morgen? Das ist zu spät!«, murrt ihr Konterfei. »Du hast heute dein Date.«

Oh je, Ludwig wartet. Energisch reißt sich Charlotte von ihrem Spiegelbild los.

 

»Du siehst toll aus!«, begrüßt Ludwig sie, als seine Bekannte eine halbe Stunde später das Restaurant betritt. Als er die Jugendfreundin umarmt, liegt Bewunderung in seinem Blick. Er schiebt sie um Armeslänge von sich und bleibt an ihren Gesichtszügen hängen. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Zehn Jahre? Nicht zu fassen, wie jung du gegen mich aussiehst.«

Charlotte lacht. Es ist ein zufriedenes und entspanntes Lachen.

 

Als sie später zur Toilette geht und sich ein wenig frisch macht, wirft sie einen vorsichtigen Blick in den Spiegel. Ihr Pendant schneidet Grimassen. Charlotte tut es auch.

»Pah«, sagt sie lautlos zu ihrer inneren Stimme. »Du hast es gehört, ich sehe toll aus. Glaub´ es doch einfach. Ludwigs Haare sind fast weiß und dennoch sieht er so richtig, richtig gut aus.«

»Bei Männern ist das was anderes!«

»Sagt wer?«

»Ich.«

Verstohlen schaut sich Charlotte um und vergewissert sich, dass sie allein im Raum steht. Aus einer der Kabinen hört sie die Wasserspülung. Während sie sich, noch immer kopfschüttelnd, die Hände wäscht, sucht sie erneut Blickkontakt im Spiegel. Dabei kann sie es sich nicht verkneifen, nun auch noch die Zunge herauszustrecken. Ihr Gegenüber tut es ihr gleich.

 

Kurz darauf betritt sie wieder das Lokal. Ihr Platz ist durch einen jungen Mann besetzt, der sofort aufspringt, als Charlotte an den Tisch tritt.

»Entschuldigen Sie bitte.« Mit einer Handbewegung weist er auf ihren Stuhl. »Jürgens, mein Name, Reinhard Jürgens. Ihr Begleiter war so nett, mir ein paar Fragen zu beantworten, die Sie betreffen.«

Verwirrt schaut Charlotte zwischen den beiden Männern hin und her. Ludwig lächelt.

»Holen Sie sich einen Stuhl, junger Mann und dann erzählen Sie Frau Sydow, was Sie mir gerade zu erklären versuchten.«

 

Zunehmend irritiert erfährt Charlotte, dass Reinhard Jürgens »unverdorbene Gesichter« sucht für eine Modeserie in einer bekannten Zeitschrift für die reifere Dame.

»Mir ist Ihre Erscheinung sofort aufgefallen, als Sie das Lokal betraten. Sie haben einen flotten Gang, strahlen ein positives Selbstbewusstsein aus, sind elegant gekleidet, haben einen guten Teint, eine sportlich schlanke Figur, mit einem Wort – Sie haben Stil.«

Fassungslos schaut Charlotte erst zu Ludwig, dann zu Herrn Jürgens.

»Da hätten Sie mich vor zwei Stunden in meinem Bad sehen müssen, junger Mann. Keine Spur von Selbstbewusstsein, und der Rest ist Schminke. Ich verstehe wirklich nicht …«

»Aber gnädige Frau, gibt es in Ihrem Bad keinen Spiegel?«

»Ja doch. Natürlich.«

»Dann schauen sie einmal hinein, nicht Ihr Outfit strahlt, sondern Sie als Person. Sehen Sie sich um. Niemand hier hat so viel Stil. Darf ich Ihnen meine Karte geben? Ich würde Sie zu gern zu Probeaufnahmen in unser Studio bitten.«

»Brauchen Sie auch männliche Modelle?«, fragt Ludwig verschmitzt, um seiner Bekannten Zeit zu geben, sich zu fassen.

»Ja schon. Doch es sollten Herren im Alter der gnädigen Frau sein, also Jüngere. – Entschuldigung.«

Ludwig lacht ausgelassen und fröhlich.

»Na, das nenne ich ein Kompliment. Wissen Sie, dass Frau Sydow und ich früher die selbe Klasse besucht haben?« Er wendet sich der immer noch sprachlosen Charlotte zu. »Also, meine Liebe, wenn das keine überzeugende Aussage ist, dann weiß ich auch nicht.«

Zuneigung spiegelt sich in seinen Augen.

»Herr Ober, bitte eine Flasche Champagner und drei Gläser.«

»Sehr wohl, der Herr.«

»Sie trinken doch mit mir auf Ihr neues Model, auf meine Jungendliebe und auf unser Wiedersehen, oder?«

Charlotte greift verstohlen in ihre Jackentasche, morst »warum ich?« auf ihren Taschenspiegel. Er antwortet nicht.

Ihr Lächeln lässt das Eis im Champagnerkühler schmelzen.

»Freunde, das Leben ist schön«, intoniert irgendwo in ihrem Kopf ein Orchester.