Von Veronika Beckmann

Zusammen standen sie vor dem großen Spiegel im Flur von Corinnas Wohnung und sahen ihre Ebenbilder an. Sie lehnte mit dem Rücken an seiner Brust, während er zu der gespiegelten Corinna sprach. Sein Gesicht hatte einen schelmischen Ausdruck.
„Du musst die Augen schließen“, bat er sie und fügte hinzu, „aber nicht schummeln.“
Sie schloss gehorsam ihre Augen und spürte seine zarten Berührungen.
„Jetzt darfst du schauen, Liebes“, sagte er kurz darauf und hauchte einen Kuss auf ihren Nacken.
Um ihren Hals lag nun eine silberne Kette mit einem Herzanhänger, der sich auf ihrer Brust im Rhythmus der Atemzüge hob und senkte. Rötliche Edelsteine versprühten auf dem Schmuckstück die Funken eines Feuerwerkes.
Wieder sahen sie einander im Spiegel an und versanken in der Tiefe der Blicke. Dann drehte Corinna sich um und umarmte Johannes, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Sanft fuhr er mit seinen Händen unter ihre Bluse.
Wenig später schloss sich die Türe des Schlafzimmers hinter ihnen.

„Mann, Nissedal, jetzt lass dich nicht so lange bitten.“
Minnen, die Deckenleuchte, klimperte ungeduldig mit ihren Acrylprismen.
„Erzähl endlich, was du gesehen hast. Du weißt, ich will es immer ganz genau wissen.“
„Pech für dich, dass du nur unscharfe Bilder bekommst“, antwortete der Wandspiegel gelangweilt und ließ seine Freundin ein bisschen zappeln, bis er zu einer längeren Antwort bereit war.
„Also“, Nissedal hielt noch einmal kurz inne, „er hat ihr eine Kette um den Hals gelegt, sie hat sich bedankt und das war’s.“
„Nee, Nisse, das glaube ich jetzt nicht! Das hat sich nach viel mehr angehört. Sie haben sich geküsst, nicht wahr? Und dann haben Kleider geraschelt. Auch wenn ich nicht viel sehe, aber wenn es erotisch wird, kriege ich das schon noch mit.“
„Ehm, ja. Wenn du meinst.“
„Du bist echt ein Rindvieh. Ich liebe es, wenn es romantisch wird.“
Die an Minnen hängenden Kuben und Prismen, die wie große Diamanten aussahen, leuchteten rosa und pink auf.

„Frauen“, stöhnte Nissedal, „und dann geht kurze Zeit später die Heulerei los, weil es doch nicht der Richtige war.“
„Das ist gar nicht wahr“, protestierte Minnen und ihre Glitzersteine blitzten rot vor Wut.
„Wenn du so gefühllos bist, brauchst du dich nicht wundern, dass sich nicht einmal ein Handtaschenspiegel für dich interessiert.“
Nissedal schwieg beleidigt. Minnen hatte einen wunden Punkt getroffen.
Die Deckenleuchte wusste das, aber im Augenblick war es ihr egal. Sie hasste es, wenn er sie spüren ließ, dass sie ohne ihn so gut wie blind war, und dann diese dummen frauenfeindliche Sprüche!

Einige Wochen später war der Streit wieder vergessen.
„Du, Nisse“, hörte der Spiegel eines Abends seine Freundin aufgeregt klimpern, „hast du auch bemerkt, dass zwischen unseren beiden Turteltauben irgendwie dicke Luft ist?“
„Kann sein.“ Nissedal gab sich zurückhaltend, obwohl er sich eigentlich freute, dass Minnen mit ihrem Geplauder seine Langeweile vertrieb.
„Ja, ist dir denn nicht aufgefallen, dass er nicht mehr hier war, seitdem sie vor ein paar Tagen gestritten haben?“
„Ach, wirklich?“ Natürlich war es ihm aufgefallen, es war ja sonst nicht so viel los in der Zweizimmerwohnung.
„Ich habe sie auch schon weinen hören.“ Die Kristallstücke hingen still an ihren Schnüren, verloren kurzzeitig ihren Glanz und wurden trübe.
„Ich habe es doch gesagt.“ Der Spiegel wurde im Brustbereich ein wenig breiter und fuhr in selbstgefälligem Ton fort: “Jetzt geht die Heulerei los.“

Bevor Minnen etwas erwidern konnte, hörten sie den Schlüssel in der Wohnungstüre. Corinna betrat ein wenig schwankend den Flur und warf die Türe hinter sich ins Schloss.
Dann bemühte sie sich, die Schuhe abzustreifen. Erst im dritten Anlauf und an der Garderobe Halt suchend hatte sie Erfolg. Sie trat vor den Spiegel und betrachtete ihr Ebenbild.
Ihr glasiger Blick verriet, dass sie viel Alkohol zu sich genommen hatte. Unter ihren Augen wölbten sich dunkel schattierte Tränensäcke hervor und die Lider waren gerötet. Ihr Makeup war irgendwie verschmiert und ihre Haare hatten sich gegen ein akzeptables Styling entschieden. Wasser und Shampoo würden wahrscheinlich Wunder bewirken. Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern.

„Hackebreit die Frau.“
Minnen hörte ihren Freund und hielt erschrocken die Luft an.
„Nisse“, flüsterte sich eindringlich, „was ist, wenn sie dich hört?“
„Menschen hören Spiegel nicht sprechen. Das gibt es nur im Märchen, Spieglein, Spieglein an der Wand und so weiter.“
Nissedal war sich seiner Sache sicher.
„Und selbst wenn! Schau sie dir doch an. Die ist so abgefüllt, die bekommt nichts mehr mit. Wie erkläre ich dir das am besten?
Stell dir einfach vor, dass sie ziemlich erbärmlich aussieht. Jeder Putzlappen versprüht mehr Charme als sie. Naja, mit dem Aufnehmer, der kurz vor Mitternacht durch den Supermarkt gezogen wurde, könnte sie einen Vergleich vielleicht noch wagen. Und diese Frau wundert sich, dass jeder Mann das Weite sucht? Also ehrlich, Minnen, da bleibe auch ich doch lieber Single.“

Während er sprach hatte er das leichte Stirnrunzeln seines Gegenübers nicht wahrgenommen. Auch dem Griff nach der Katzenfigur auf dem kleinen Schuhschrank, maß er keine Bedeutung bei. Erst als sie die Figur für einen Augenblick in der Hand wog, wurde er stutzig. Aber es war schon zu spät, denn in diesem Moment krachte das schwere Metall mitten in seine glatte Oberfläche. Ein vielstimmiges Klirren begleitete den Sturz der Scherben.

„Ach, Nisse“, seufzte Minnen an der Decke und ihre Prismen nahmen die Farbe eines tiefblauen Nachthimmels an, „eigentlich war es doch ganz schön mit dir.“ Und an den Kanten der Kristalle blitzten kleine helle Reflexe auf.