Von Miklos Muhi

1.

 

Der schwere Geruch von Weihrauch und Mottenkugeln erfüllte die Pfarrei. Nachdem der letzte Besucher sich verabschiedet hatte, schloss Pater Ganzitti die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch.

 

Ein dicker Umschlag lag in der oberen Schublade. Er kam heute von der Apostolischen Nuntiatur. Als der Kurier seinen Vatikan-Pass verlangte, ahnte der Pater schon, worum es ging.

 

Er breitete den Inhalt auf seinem Schreibtisch aus. Seine Vorahnung wurde nicht enttäuscht. Auf dem ersten Blatt stand der Auftrag zur Ausführung eines Exorzismus in schwerfälligem Kirchenlatein verfasst. Die restlichen Dokumente beschrieben den Fall detailliert in deutscher und italienischer Sprache.

 

Patient war Herber Dettweiler, 17 Jahre alt, aus Dießen am Ammersee. Er litt an Besessenheit, wie es aussah. Die Aussage der Eltern, Joseph Dettweiler, 37 und Anita Dettweiler, 35, geborene Schäfer …

 

Dem Pater wurde schwarz vor den Augen. Er sah sich als Pfarrvikar in Dießen. Er sah auch Anita Schäfer, eines der zahlreichen Mädels, das sich unsterblich in ihn verliebt hatten, mit langen, blonden Haaren, blauen Augen und endlos langen Beinen. Vor etwa 18 Jahren war das, wie in einem anderen Leben, noch bevor er für die lange Exorzistenausbildung nach Rom kam.

 

»Das kann nicht sein«, murmelte er. Sein Verstand weigerte sich. Er las konzentriert alle Dokumente, aber in seinem Hinterkopf ging die Grübelei ungehindert weiter.

 

Keine Geisteskrankheit, keine religiöse Hysterie, nur das zerstörerische und feindselige Verhalten des Jungen, das sich gegen Eltern, Verwandte und alles, was mit Kirche zu tun hatte, richtete. Dabei sagte der Junge mehrfach aus, dass er alles wisse. Was genau dieses alles war, erfuhr man nicht. Die zuständige Kommission hatte ihre Entscheidung getroffen und der Pater fügte sich trotz vielen Zweifeln und Fragen.

 

2.

 

Er reiste unauffällig, in Straßenkleidung. Als er kurz vor Mittag in Dießen angekommen war, ging er zur seiner ehemaligen Pfarrei. Nach einem kargen Mittagessen und einem kurzen Gebet fuhr er zusammen mit dem örtlichen Pfarrer zum Haus der Familie Dettweiler. Sie klingelten und Anita machte die Tür auf.

 

Pater Ganzittis Magen wurde zu einem schweren und kalten Stein. Hier war er wieder und sah in die Augen der ehemaligen Anita Schäfer. Sie funkelten genauso, wie damals, nur die Zeit verzerrte das Bild etwas. Pater Ganzittis ehemals pechschwarzes Haar war von weißen Strähnen durchsetzt. Anita trug die Haare kürzer und hatte Krähenfüße um die Augen.

 

»Guten Tag, Hochwürden. Lange nicht mehr gesehen« Sie lächelte »Kommen Sie wegen Herbert?«

»Guten Tag, …« Pater Ganzitti machte eine kurze Pause »Frau Dettweiler. Ja, das stimmt. Ich würde bevorzugen, dass wir alles Weitere im Haus besprechen. Wäre das möglich?«

»Selbstverständlich. Kommen Sie bitte hinein.«

 

Anita führte die Geistlichen in die Küche und bat sie, Platz zu nehmen. Kurz darauf tauchte Joseph Dettweiler auf und stellte sich vor. Joseph erinnerte sich offensichtlich an die alten Zeiten und es waren keine angenehmen Erinnerungen. Seine Gesten und sein ganzes Gehabe waren wie ein Spiegelbild des verblichenen Herrn Schäfers, Anitas Vater, der vor 18 Jahren des Öfteren die Pfarrei besucht hat.

 

Man ging die Einzelheiten durch und erledigte den Papierkram. Die Eltern hatten die Aufgabe, zusammen mit ihrem Geistlichen während des Rituals zu beten.

 

Sie knieten sich vor dem Hausaltar nieder und fingen an. Wieder sah Pater Ganzitti Anita, als sie damals inbrünstig und stundenlang in der Kirche zur Heiligen Jungfrau betete. Jetzt betete sie zu allen Heiligen. Er hoffte, dass ihre Gebete diesmal mehr bringen würden.

 

3.

 

Im Zimmer im Obergeschoss war es heiß und stickig. Der Junge saß auf seinem Bett und starrte vor sich hin. Er schien den Pater überhaupt nicht wahrgenommen zu haben und murmelte ständig unverständliches Zeug. Als Pater Ganzitti eintrat, wurde der Junge still und seine ganze Körperhaltung spannte sich an.

 

Der Pater fing mit der Arbeit an und besprengte den Jungen mit Weihwasser. Keine Reaktion, nicht einmal beim Wortgottesdienst. Weder die Litanei, noch die Psalmen, noch das Evangelium brachten etwas hervor.

 

Als er die Hand auf die Stirn des Jungen legte, hob dieser langsam den Kopf und lächelte und blickte ihn mit klaren Augen an. Vom Bösen sah der Pater in diesen Augen nichts. Sie hatten das für alle Ganzittis typische grün gesprenkelte Braun. Die durchgeschwitzte Haare des Jungen waren pechschwarz. Der Pater sah sich selbst, als er vor vielen Jahren in einem kleinen toskanischen Dorf fleißig für die Aufnahmeprüfung für das Priesterseminar lernte.

 

Nur unter großen Anstrengungen konnte er zum Glaubensbekenntnis übergehen. Als er damit fertig wurde, senkte der Junge seinen Kopf wieder und hob ihn auch beim Vorzeigen des Kreuzes nicht. Keine Angst vor dem Kreuz oder vor dem Wort Gottes war zu erkennen.

 

Die Fürbitte fiel kurz aus und blieb ohne Wirkung. Pater Ganzitti entschied sich, schwerere Geschütze aufzufahren und fing mit dem imprekativen Exorzismus, mit dem Verfluchen des Bösen an.

 

Keine Reaktion. Der Pater kniete sich hin und fing an laut zu beten.

 

Gewissensbisse, Erinnerungen und falsche Entscheidungen kreisten ihn ein. Alle zeigten auf ihn und riefen ihm zu: ›Weiche von mir, Satan!‹ Er wurde ohnmächtig.

 

4.

 

»Vater! Vater!« Kurze Pause »Pater, sind sie in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?« Die Stimme des Jungen kam wie aus weiter Entfernung. Der Pater öffnete langsam die Augen. Im Zimmer wurde es heller und die Luft schien sich auch gebessert zu haben.

 

»Danke, Herbert, es geht mir gut. Ich habe mich wohl zu sehr angestrengt. Wie fühlst du dich?«

»Besser denn je.«

»Dafür wollen wir Gott danken. Hast du Lust mit mir für Gott etwas zu singen?«

»Ja, Hochwürden«

 

Sie gingen gemeinsam zu den betenden Eltern ins Erdgeschoss. Die Freude war groß. Selbst Joseph sah den Pater voller Dankbarkeit an und die anfängliche Feindseligkeit war für einen kurzen Moment vergessen.

 

Der Pater verabschiedete sich und verließ das Haus. Die Verpflichtungen riefen, wie vor 18 Jahren. Sie entstanden allerdings erst, nachdem seine Vorgesetzten alles erfahren haben. Für Anita wurde ein Mann gesucht, den sie widerwillig, aber sich dem elterlichen Druck beugend heiratete.

 

5.

 

Wieder in der eigenen Pfarrei angekommen, schrieb er den Bericht an die Apostolische Nuntiatur. Der war kurz und beschönigend und wie seine Weiterbildung in Rom, wie sein ganzes Leben und das ganze Leben der Anita Schäfer: Eine ausgemachte Lüge.

 

Danach schrieb er noch einen Brief an seinem direkten Vorgesetzten mit der Bitte um Laisierung und Entlassung aus allen Kirchenämter.

 

Version 2