Von Daniel Büttrich

Er beugte sich über die Reling und betrachtete die Wasseroberfläche. Nach einer Weile richtete er sich zufrieden auf. Schon oft hatte er an dieser Stelle den Motor abgestellt, und große Ernte eingefahren. Als er das Netz auswarf, traf sein Blick das schwarze Wolkenband am Horizont. „Weit, weit weg“, nuschelte er in sich hinein, und kaute an seinem längst verglühten Zigarettenstummel.

 

„Herr Chung, seien Sie ganz entspannt. Wir werden Ihnen lediglich einige Fragen stellen, die Sie uns bitte wahrheitsgetreu beantworten mögen. Kurz und schmerzlos. Danach können Sie gehen. Sie werden nie wieder von uns hören, sofern uns Ihre Antworten zufrieden stellen. Betrachten Sie dieses Interview als eine Routinebefragung, ähnlich einer Routineuntersuchung beim Arzt.“

Er versuchte zu nicken, aber sein Hals, vor Aufregung steif, erlaubte ihm nur eine minimale, kaum sichtbare Kopfbewegung.

„Einverstanden?“, fragte der Herr nach, der das Verhör führte.

„Ja, natürlich“, antwortete er, und dachte mit kurz aufflammender Wut an den bierseligen Abend mit seinem Kollegen Sehun, den er im Verdacht hatte, Informationen über seine geteilte Familiengeschichte weiter gegeben zu haben.

„Stören Sie sich nicht an den drei Kollegen hinter meinem Rücken. Die sind unauffällig und harmlos. Die Fragen werden Sie ausschließlich von mir gestellt bekommen.“

Dem Herrn vom Geheimdienst musste aufgefallen sein, dass seine Augen misstrauisch die schweigenden Männer im Halbdunkel des Raumes musterten. Ihre ausdruckslosen, schemenhaften Mienen verunsicherten ihn.

„Kommen wir gleich zur Sache: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem Bruder und seiner Familie in Nordkorea?“

Er schluckte.

„Nein. Wie auch? Ich lebe im Süden, und sie leben im Norden. Ich weiß nichts von ihnen. Es ist möglich, dass mein Bruder tot ist, und ich würde es nicht wissen. Ich weiß nichts.“

„Sie wissen aber schon, dass Ihr Bruder ein hoher Funktionär in der kommunistischen Partei Nordkoreas ist?“

„Ich habe davon gehört. Was geht es mich an? Ich kenne ihn kaum.“

„Sie haben also keinen Kontakt nach Nordkorea?“

„Ich bitte Sie… Wie sollte ich Kontakt nach Nordkorea haben? Die Grenzen sind zu, die Leitungen sind dicht. Wissen Sie, Sie reden von meinem Bruder…. Auf dem Papier ist er das, tatsächlich jedoch ist er für mich ein Fremder. Ich habe ihn zuletzt in meiner Jugend gesehen. Sie reden von meinem Bruder, von meiner Familie. Nein, mein Herr, Bruder und Familie ist was Anderes.“

 

Er steckte sich eine neue Zigarette an, und wischte sich mit der Handfläche langsam und druckvoll über die Stirn. Das tat er häufig, wenn er nervös war. So wie seinerzeit, im Verhör.

„Scheiß drauf, scheiß aufs Verhör!“, fluchte er schließlich.

Seit der grausigen Episode mit dem seelenruhig an seinem Kutter vorbeiziehenden Geisterschiff, das fünf tote Nordkoreaner an Bord hatte, führten ihn seine Gedanken auf See regelmäßig zu dem Verhör. Und zur Familie seines Bruders. Er fragte sich, ob sein Vater schon gestorben war? Wie mochten sein Bruder, dessen Frau und die zwei Kinder leben? Als Funktionärsfamilie besaßen sie mit Sicherheit Privilegien. Ob sein Bruder den Führer Kim persönlich kannte? Als er von einer Tante vor vielen Jahren erfahren hatte, dass er einen hohen Funktionärsrang innehaben soll, hatte ihn das enttäuscht und abgestoßen. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sein Bruder ein einfacher Ingenieur geblieben wäre. Ein Wiedersehen mit ihm und seiner Familie rückte durch seine enge Verflechtung mit dem nordkoreanischen Regime in weite Ferne. Tatsächlich hatte er inzwischen den Glauben daran aufgegeben.

Er zog das Netz aus dem Wasser hoch. Er hatte sich nicht zu viel versprochen. Das war eine große Menge an Fischen! Dann öffnete er das Netz, und das zappelnde und zuckende Getier ergoss sich über das Schiffsdeck.

„Haut ab!“, schrie er den Möwen zu.

Der Anblick der langsam verendenden Fische rief in ihm jedes Mal Freude hervor. Genussvoll beobachtete er ihren Todeskampf. Hin und wieder ging ein kleiner Hai ins Netz. Die Todeskämpfe der sich windenden Haie empfand er als Abwechslung zu denen der übrigen Fische. Waren irgendwie interessanter anzuschauen, fand er.

„Warum sollen die Fische es besser haben als wir Menschen?! Wir Menschen sind auch Gefangene. Gefangene von uns selbst, Gefangene der Natur, Gefangene unseres Körpers. Und wir führen wie die Fische ein Leben aus Zufällen. Früher oder später gehen wir ins Netz, sterben entweder in Ruhe oder qualvoll. Das war es dann. Die Fische stehen außerdem in der Rangordnung der Lebewesen unter uns. Warum sollten sie es besser haben als wir?!“ Hatte er Sehun gefragt. Sehun hatte ihn als Misanthropen bezeichnet.

Das schwarze Wolkenband näherte sich in rasanter Geschwindigkeit. Es sah bedrohlich aus. „Das wird doch kein Taifun sein?“; dachte er. Die Lichtzeichen des Leuchtturms signalisierten ihm, dass es ratsam war, zum Ufer umzukehren.

 

„Hey, Sung Jin, ich habe es geknackt! Verdammt, ich habe es geknackt!“

Sung Jin schnellte hoch und sprintete zu Yong`s Rechner.

„Wie hast du es gemacht, zeig‘s mir rasch!“, bat er Yong.

„Hey, kommt alle mal her! Ich zeig‘ Euch was…..! Damit kann unsere Operation in Kürze beginnen…“

„Geil!“, staunte Sung Jin.

„Damit sind wir drin im Energieversorger!“

„Ja! Und ich prophezeie dir, wir werden den ganzen Norden Südkoreas lahmlegen!“, freute sich Yong.

„Mir wäre der Süden Südkoreas lieber“, meinte Sung Jin.

„Wieso?“, fragte Jong.

„Im Norden lebt der Bruder meines Vaters. Er ist Fischer, oder so was in der Art“, antwortete Sung Jin.

„Ach, komm. Nicht dein Ernst! Wir stehen vor einem Meilenstein in der glorreichen Geschichte unseres Landes, und du wirst wegen einem entfernten Verwandten sentimental. Sung Jin, ich bitte dich!“, rief Jong lachend.

„Du hast recht, Yong. Es geht um eine großartige Aktion für unser Land! Darum geht es!“, pflichtete Sung Jin bei.

„Genau! An die Arbeit, Männer!“, rief Jong.

Anfeuerndes Händeklatschen brandete auf. Jeder ging zurück an seinen PC. Entschlossen und konzentriert hackte sich Sung Jin in ein südkoreanisches Stromversorgungsunternehmen ein.

 

Stotternd setzte sich der alte Motor des Fischkutters in Bewegung. Er dachte an seine Frau. Kam er heim, erwartete sie ihn bereits mit dem Abendessen. Es gab meistens Fisch. Es schmeckte ihm. Zu besprechen hatten sie nicht mehr viel. Von Jahr zu Jahr war ihre Beziehung wortkarger geworden.

„Ich könnte ihr wieder einmal ein Geschenk machen“, dachte er.

„Verdient hätte sie es. Ich liebe sie ja. Ja, ich liebe sie schließlich. Nicht so wie als junger Mann, Hals über Kopf, aber bei welchen selten glücklichen Paaren hält die Leidenschaft schon bis ins Alter? Für mein Alter liebe ich sie angemessen. Ich sollte ihr Blumen kaufen.“ 

Im Radio wurde eine Ansprache des südkoreanischen Präsidenten übertragen. Politisches interessierte ihn nicht. Er schaltete auf Sport um. Irgendein bedeutungsloses Fußballspiel lief. Der Kommentator schilderte einen Angriff, als die Übertragung plötzlich mitten im Satz abbrach. Er drückte auf den Einschaltknopf: Tot. Auch die Lichtzeichen des Leuchtturmes waren auf einmal verschwunden. Oder waren sie noch da? Oder war das ein ferner Blitz? Dann verschluckte die schlagartig einbrechende Dunkelheit das Licht.

„Verdammt! Was ist hier los?“

Das schwarze Wolkenband befand sich direkt über ihm. Im nächsten Moment brachen Starkregen und heftiger Sturm über ihn herein. Am beunruhigendsten war, dass er ohne die Lichtzeichen des Leuchtturms leicht die Orientierung verlieren konnte.

„Fahr mich nach Hause, mein alter Junge!“, sprach er zu dem Kutter und beschleunigte.

„Ich muss meiner Frau doch Blumen bringen.“

 

Sung Jin und Yong öffneten ihre Bierflaschen und prosteten sich zu.

„Das hat es noch nie gegeben, Sung Jin! Das ist legendär! Die Hälfte Südkoreas ist ohne Strom!“

Einen kurzen Augenblick hatte Sung Jin das Bild eines einsamen Fischers auf hoher See vor Augen.

 

Beharrlich steuerte er seinen Kutter durch Sturm und Finsternis. Er dachte ausschließlich an die Blumen, die er für seine Frau besorgen wollte.

„Warum können wir in vielen Jahren unseres Lebens das nicht wertschätzen, was uns so nah ist und in liebevoller Verbundenheit umgibt?“, frage er sich.

„Wir suchen uns Freunde, die keine Freunde sind. Leute, die uns nicht als Freunde, sondern als berufliche Konkurrenten sehen, und hinter dem Rücken eine Intrige spinnen. Leute, die mit uns Bier trinken und Kameradschaft vorgaukeln, die uns aber nur brauchen, um ihre eigene Leere mit Unterhaltung auszufüllen. Im Zweifel stoßen sie die Leiter um, auf der du stehst. Solche Menschen wie Sehun…“, knurrte er.

„Mit dem Verhör wuchs mein Misstrauen gegenüber den Menschen, und ich suchte daraufhin die Einsamkeit des Meeres. Meine Frau habe ich vernachlässigt in diesen Jahren. Vielleicht muss ich durch diesen Sturm fahren, um wieder einmütig lieben zu können? Vielleicht ist dieser Weg so für mich vorgesehen? Vielleicht ist es so gewollt? Vielleicht wird alles gut? Fahr mich nach Hause, alter Junge.“

 

– 2. Version –