Von Michael Kothe

Ich habe sie!

»Endlich!« will ich nicht sagen, schließlich habe ich mir bewusst Zeit gelassen und sie nicht am ersten Tag heruntergeladen. Erst am dritten, als schon über 6 Millionen Bundesbürger sie installiert hatten. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, und so hatte ich abgewartet. Als die App bis dahin noch keine Todesopfer gefordert hatte, habe ich mich entschlossen. Ich wollte dazugehören! Die Bundesregierung war begeistert von ihrem Produkt, es könne Leben retten.

»Naja, vielleicht auch meines«, sagte ich mir. Außerdem war die App von SAP unter der Aufsicht des Bundesamtes für IT-Sicherheit, des BAIT, entwickelt worden. Wir waren einmal Nachbarn gewesen, das BAIT und mein Büro im Bonner Dreizehnmorgenweg, als ich mit SAP zusammenarbeitete. Also fasste ich als regierungstreuer Bürger Vertrauen und den Entschluss.

Stolz lief ich in den nächsten Tagen durch die Straßen, zückte alle Naselang mein Smartphone, schaute aufs Display und fühlte mich sicher. Nicht nur, dass die App mich vor dem Virus gewarnt hätte, wie ja schon der Name sagt. Sondern auch wegen der dezentralen Struktur. Keiner sammelte meine Daten, alles war anonym, nichts konnte zurückverfolgt werden. Man hörte ja so viel von Hackern und aus anderen Ländern von staatlicher Überwachung! Ich wiegte mich in Sicherheit.

 

»Was willst du eigentlich damit?« Dieser ewige Nörgler! Heinz hatte auch an allem etwas auszusetzen, und so wurden unser abendliches Gespräch im Biergarten etwas hitzig und ich mit der Zeit recht nachdenklich.

»Also, die App zeigt dir weiße Punkte für normale Menschen, blaue für symptomfreie und rote für ansteckende Infizierte? Und denen kannst du dann ausweichen?«

 »Nein, sie sagt mir, wenn ich innerhalb von 14 Tagen mindestens 15 Minuten auf höchstens 2 Meter Abstand zu einem Infizierten war.«

»Denkste! Die App sagt dir, dass du dich nahe bei einem gemeldeten Infizierten aufgehalten hast! Und dann? Du weißt nicht, wer es war, und wie erinnert sich dein Smartphone an ihn, wenn nichts gespeichert wird? Und was, wenn seine Infektion erst später bestätigt wird? Na?«

»Dann warnt mich meine App, und ich lasse mich testen.«

»Ach, und das soll nicht gespeichert sein? Wie will dein Smartphone denn sonst später noch von dem Kontakt wissen und den Zusammenhang herstellen?«

Dieser Verschwörungstheoretiker!

»Außerdem …« Heinz nahm einen tiefen Zug. »Und außerdem: Infizierte, deren Infektion bekannt ist, sind in Quarantäne und laufen nicht frei ´rum.«

Der Trumpf stach.

Die Bedienung schaute finster, als ich den Kopf schüttelte. Aber an dem Abend brauchte ich wirklich kein zweites Bier mehr.

 

Ich saß an meinem Laptop und wollte die nächste Rate für mein Auto überweisen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, keinem erteile ich je eine Einzugsermächtigung – wer weiß, was für ein Schindluder damit getrieben würde! Doch, die städtischen Wasserwerke und das Finanzamt sind ermächtigt. Nur, damit ich die Fälligkeit von Zahlungen nicht vergesse und man mir den Hahn nicht zudreht. Aber das sind ja Behörden, sie sind Teil der staatlichen Obrigkeit.

Erst beim dritten Einloggen in mein Online-Banking erkannte ich, warum die Überweisung undurchführbar war. Mein Transaktionslimit hatte ich für diese Aktion heraufgesetzt, trotzdem meldete mir das Programm ständig, die Überweisung könne wegen unzureichender Verfügbarkeit nicht ausgeführt werden. Wie ein Schlag vor den Kopf traf es mich: Mein Konto war blank! In der Kontenübersicht entdeckte ich auf einmal eine Latte von Abbuchungen für Einkäufe, die ich nie getätigt hatte. Bei Amazon, Mediamarkt, Galeria Karstadt Kaufhof und anderen. Alle Großen und Teuren tummelten sich auf dieser Liste. 

»Fehlbuchungen!« tröstete ich mich, schrieb eine Mail an den Service meiner Bank und bat darum, das wirklich zu belastende Konto ausfindig zu machen und mir die Beträge zurückzuerstatten.

 

»Tja, da haben Sie wohl jemandem Ihre Kontodaten und die PIN mitgeteilt.«

Nett war sie ja, die Schalterangestellte der Bank. Nachdem ich vier Tage lang keine Antwort auf meine Mail erhalten hatte, besuchte ich die nächste Filiale. Helfen konnte mir die Dame auch nicht.

»Sicherlich nicht! Die Daten hüte ich wie meinen Augapfel. Und beim Online-Banking lade ich mir diese TAN, die Transaktionsnummer, immer frisch mit dem Smartphone herunter.«

»Haben Sie das aufgeschrieben und den Zettel verloren?«

Fragen über Fragen stellte sie mir. Da ich alles verneinen konnte – ich war mir wirklich keiner Abweichung von den Vorgaben bewusst – riet sie mir, mein Anliegen schriftlich der Hauptverwaltung vorzutragen. 

Und die Rate für mein Auto? Netterweise lieh mir mein Schwager das Geld. Trotz seines Kommentars.

»Ich sag´s ja immer. Du und dein Online-Banking! Ständig überall vernetzt! Einmal musste es ja so kommen.«

Noch so einer! Skeptisch wie Heinz.

 

Es dämmerte noch nicht einmal, als ich aus dem Schlaf fuhr. Zweimal hörte ich ein dumpfes Wummern an unserer Wohnungstür, gefolgt von einem Knall, als wäre das Türblatt auf dem Fliesenboden in der Diele aufgeschlagen. 

Sekunden später stemmte sich eine kräftige Schulter gegen die Schlafzimmertür. Vier Vermummte drängten sich durch die Rahmen und nahmen um unser Bett herum Aufstellung, kurze Sturmgewehre im Anschlag. In der Diele standen zwei weitere Mitglieder des Spezialeinsatzkommandos. Auf meine Frau zielten sie weniger, von ihr war auch kaum etwas zu sehen, da sie sich in einer hilflosen Geste die Decke bis unters Kinn zog.

»Aufstehen!«

Ein kurzes Kommando. Gebrüllt. Er hätte mich nicht anzuschreien brauchen, in dieser Situation hätte ich gehorsam auf alles reagiert. Durch seinen schwarzen Kampfanzug und den Helm mit der seitlich angebrachten Kamera erinnerte mich sein Anblick an diese Computerspiele über Spezialeinheiten im Antiterroreinsatz. Dennoch war mir klar, dass es sich um kein Spiel und um keinen Traum handelte, obwohl mich das einigermaßen beruhigt hätte. Eine Verwechslung? Der Mittvierziger mit dem rasierten Schädel wohnte nebenan. Was er verbrochen haben könnte, entzog sich meiner Kenntnis und meiner Vorstellung. Zutrauen würde ich es ihm – nur was?

Ich setzte mich auf, schwang die Füße aus dem Bett und tastete nach den Hausschuhen.

»Das geht auch schneller!«

»Darf ich mich wenigstens noch anziehen?«

Zu fragen, was ich denn verbrochen hätte, traute ich mich nicht. Ich schaute an mir herunter. Die »verlorene Ehre der Katharina Blum« kam mir in den Sinn, jener Film aus dem Jahr 1975 von Volker Schlöndorf, in dem eine unbescholtene Bürgerin des Hochverrats gegen Staat und Regierung bezichtigt und ebenfalls nach dem Aufbruch ihrer Wohnung festgenommen wurde. Ich atmete auf. Erstens war ich keine Frau, die sich im Bademantel den lüsternen Blicken der Vermummten aussetzte, zum anderen trug ich eine Schlafanzughose. Dennoch war ich in meinen Bewegungen vorsichtig, damit der Shorty richtig saß. Wer weiß, was man mir unterstellt hätte, wenn sich eine Frau im SEK befunden und einen falschen Blick erhascht hätte!

 

Das Verhör war unangenehm und machte mir Angst. Zwar war ich angezogen, als man mich in den schwarzen Lieferwagen drückte, aber ich wusste nicht, wo ich mich befand und was man mir zum Vorwurf machte. Ich war eingeschüchtert. Und das von Organen der Obrigkeit. Meines Staates, meiner Regierung!

Nun saß ich im Vernehmungsraum. Die Neonröhre an der Decke schien ein Eigenleben zu besitzen. Sie flackerte und brummte eine schlichte Melodie. Ansonsten: Sichtbetonwände, knapp unter der Decke ein vergittertes Fenster beinah über die gesamte Längswand und ein Tisch zwischen den Kampfanzügen und mir. Einer der drei Stühle drüben war frei.

Meinen ganzen Mut nahm ich zusammen. Dennoch stellte ich meine Frage nur zögernd.

»Wessen … äh, wessen beschuldigt man mich?« 

Die Antwort war harsch. Und nur indirekt.

»Sie glauben auch, die demokratische Grundordnung gelte nicht für Sie, was?«

»Äh, habe ich mich zu kritisch über ein Regierungsmitglied geäußert?« Mein Scherz kam nicht an.

»Regierung? Die Regierung interessiert mich nicht! Aber wenn Sie schon die Politik ansprechen: Waren Sie nicht im Juni bei dieser Demonstration? Na!«

Einen Moment dauerte es, dann hatte ich mich gesammelt.

»Freilich! Aber ich nahm an einer Demonstration gegen rechts teil. Zu der die etablierten Parteien und die Gewerkschaften aufgerufen hatten.« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Eine Verwechslung, endlich aufgeklärt! Ich strahlte. Aber nur einen Augenblick lang.

»Genau das! Sie haben dort Bekanntschaften geschlossen. Mit einem …« Er nannte einen Namen. »Und mit zwei weiteren. Muss ich Ihnen die Namen auch noch nennen oder gestehen Sie gleich so?«

»Doch ja. Die habe ich dort kennengelernt. Wir treffen uns selten, aber wir chatten von Zeit zu Zeit per WhatsApp miteinander. Und was ist so schlimm daran?«

»Nun erzählen Sie mir bloß nicht, Sie wüssten nicht, dass diese Personen der Antifa nahestehen! Und wie heißt es so schön? Mitgefangen, mitgehangen!«

Jetzt erschloss sich mir der Hintergrund der Anschuldigung, wenn auch nur langsam. Die politischen Witze und die lustigen Fotos der Regierungsmitglieder kamen mir in den Sinn, die wir per WhatsApp und Facebook teilten! Und die sollten mir das Genick brechen?

Doch unerwartet drängte sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund:

»Und wenn dem so wäre, wie sind Sie auf mich gekommen?«

Die Antwort erhellte überraschenderweise sogleich auch ein anderes ungelöstes Problem: das Plündern meines Kontos.

»Einer unserer Agenten stand während der Demo bei dem Treffen neben Ihnen und hat Ihr Handy gehackt. Dann konnten wir all Ihre Chats mitlesen und wussten zugleich immer, wo Sie sich aufhielten. Heute Nacht waren Sie nur einer von vielen Verfassungsfeinden, die wir festgenommenen haben. Sie hätten halt Bluetooth nicht aktivieren dürfen. Da kann wirklich jeder Hacker in der Nähe Ihr Smartphone auslesen, es manipulieren und künftig alles mitschneiden oder runterladen.«

»Aber ohne Bluetooth funktioniert doch meine Corona-App nicht!«

»Tja, das war dann blöd für Sie.«

 

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