Von Birgit Wolf

Anne schreckte aus dem Schlaf. Hatte sie da nicht eben ein merkwürdiges Geräusch gehört? Fast wie ein Klirren, gefolgt von einem Poltern, sie konnte es nicht genau benennen. Unwillkürlich richtete sie sich auf, war mitten aus einem Traum gerissen und entsprechend verwirrt. Benommen horchte sie in die nun herrschende Stille hinein. Es war kurz nach halb drei in der Nacht, sah sie auf der Uhr neben sich, was sollte schon gewesen sein. Anne ließ sich wieder in die Kissen sinken. Sie hatte nur schlecht geträumt, war sie sich sicher, denn schlechte, vor allem unruhige Träume hatte sie in letzter Zeit öfter.

Seitdem Anne in der Kleinstadt, in der sie erst seit knapp zwei Jahren lebte, von vielen Seiten angefeindet oder auch gemieden wurde, begann sie ihre gerade erst zurückgewonnene Ruhe und Zufriedenheit erneut zu verlieren. Dieser neue Wohnort in der norddeutschen Provinz war von ihr bewusst gewählt worden, um fern jeglicher Erinnerung die unschöne Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten endgültig zu vergessen. Eine gute Entscheidung, wie es anfangs schien. Anne liebte ihre Arbeit als Kunst- und Geschichtslehrerin am hiesigen Gymnasium, mochte die Kollegen und hatte auch bald Freundschaften geschlossen. Sie bewohnte ein Häuschen zur Miete, mit einem kleinen, schön zugewachsenen Garten. Hier verbrachte sie viele Stunden. Sie war wieder glücklich, jedenfalls bis vor wenigen Wochen noch.

 

Angefangen hatte alles mit Loris, einem ihrer Schüler aus der Oberstufe. Loris, ein blondgelockter, musisch sehr begabter, sportlicher und beliebter Schüler. Er wirkte für seine siebzehn Jahre erwachsener und abgeklärter als viele seiner Mitschüler. In seiner Freizeit begleitete er den Kirchenchor mit seiner Gitarre, außerdem spielte er erfolgreich Hockey im ortsansässigen Verein, in dem sein Vater im Vorstand saß. Seine Eltern führten eine große Geflügelfarm am Stadtrand, Arbeitsplatz für viele hier in der Provinz. Der Vater gab sich gerne als großzügiger Sponsor, wenn an der Schule etwas fehlte, und Loris, sein einziger Sohn, war sein ganzer Stolz, wie er gerne betonte. Man kannte Loris und man kannte seine Eltern in dieser kleinen Stadt, in der im Grunde sowieso jeder jeden kannte.

Anfangs hatte Anne Loris keine größere Aufmerksamkeit geschenkt als ihren anderen Schülern. Sie versuchte möglichst alle gleich zu behandeln, egal wie wenig sie den einen oder anderen leiden konnte. Aber sie war im Stillen sehr angetan von seiner Leidenschaft für Kunst, die er in jedem Unterricht zeigte und seine feinfühlige Art anderen gegenüber. Auch seine schönen blauen Augen und die Hände mit langen, schlanken Fingern berührten sie stets aufs Neue.

 

Im Frühjahr hatte Anne ein Kunst- und Geschichtsprojekt für die Schüler ihres Leistungskurses initiiert, eine Reise in die Toskana mit dem Besuch vieler Kirchen und Kapellen. Die meisten Schüler hatten allerdings andere Vorstellungen von Kunst und einer Exkursion nach Italien. Auf der Reise tanzten sie sehr aus der Reihe und Anne und ihr Kollege Markus konnten sie nur mit Mühe wieder einfangen.

Loris aber, fiel Anne nun ganz besonders positiv auf und sie konnte ihre Zuneigung zu ihm kaum verbergen. Was für ein toller junger Mann, sein Enthusiasmus und die guten Anregungen und Einwände, die immer wieder von ihm kamen, gingen ihr geradezu ans Herz. Nicht nur zur Freude von Anne, spielte er zudem abends auf seiner Gitarre, wenn alle im Hof der Unterkunft zusammensaßen. Von Beginn an suchte Loris ihre Nähe, stand oder saß viel zu oft neben ihr, verwickelte sie in Diskussionen, erhaschte so immer wieder ihre Aufmerksamkeit. Anne bemerkte, dass ihr das nicht unangenehm war und sie selbst viel zu oft nach Loris schaute. So fiel ihr gemeinsames Verhalten inzwischen auch den anderen auf. Anfangs taten sie es noch als Strebertum von Loris ab und machten ihm gegenüber entsprechende Sprüche.

 

Doch Anne musste sich eingestehen, dass sie sich in Loris verliebt hatte. In einen achtzehn Jahre jüngeren Schüler, wie konnte ihr das passieren! Am letzten Abend feierten sie alle den Abschluss der Reise in einer Pizzeria. Loris hatte sich einmal mehr neben Anne gesetzt und immer wieder berührte er sie seitlich mit seinem nackten Arm, Haut an Haut oder er stieß wie zufällig an ihren Oberschenkel. Anne spürte wie ihr warm wurde, sie musste etwas tun, er war ihr Schüler und viel zu jung für sie. Sie ging auf die Toilette, ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen und als sie zurückkam gab sie vor, ihr sei ein bisschen übel und sie wolle lieber schon ins Bett gehen. Kollege Markus fragte in die Runde, ob jemand Anne zur Unterkunft bringen könne. Natürlich war es Loris, der sich sofort bereit erklärte. Anne konnte es nicht verhindern. Einige der Jungs grölten und lachten hinter ihnen her, aber Loris schien es nicht zu stören.

 

Auf dem Weg fasste er wortlos und zaghaft nach Annes Hand. „Das hast du doch nur vorgegeben, dass dir übel ist, oder?“ fragte er sie, ohne Hemmung gleich beim Du. „Ja, aber nicht, damit du mich begleitest. Loris, ich bin deine Lehrerin und du noch nicht einmal volljährig, wir dürfen das hier nicht“, antwortete sie und entzog ihre Hand. „Ach komm, wenigstens einen Augenblick hier auf der Bank, nur wir beide!“, meinte er unbekümmert. Die Bank stand hinter einer Mauer, an einem See und Anne gab nach. Dachte aber „was tue ich hier?!“ Loris sprach davon wie sehr er sie mochte, wie sehr er sich angezogen fühlte. Ihren schwachen Einwand, was denn mit den gleichaltrigen Mädchen sei, wehrte er ab. Anne hörte seine Worte wie durch einen weichen Schleier. Sie spürte diese Anziehung ja auch und so überwog ihr Gefühl dem Verstand und sie ließ Loris Umarmung zu. Es fühlte sich erstaunlich gut an. „Das mit uns braucht doch keiner zu merken“, sagte er noch und dann küssten sie sich zum ersten Mal. Es war völlig verrückt.

 

Am nächsten Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, war Anne Loris so gut es ging aus dem Weg gegangen. Die Rückreise verbrachte sie in einem anderen Zugabteil. Sie war sehr durcheinander.

Einen Tag später, wieder in der Schule, nahm Markus, der Kollege und Freund, sie zur Seite und meinte, alle hätten am Ende gemerkt, was zwischen ihr und Loris sei. Er würde den Kollegen selbstverständlich nichts verraten, warnte sie aber eindringlich, das Ganze schnell wieder zu beenden. „Das geht sonst nicht gut für dich aus, Anne. Es wird so oder so bald herumgehen, wie ein Lauffeuer und du kennst doch den Vater von Loris. Der und seine Leute machen dir das Leben schwer, wenn er davon erfährt.“

 

Loris allerdings schien keine Angst vor irgendetwas zu haben, denn er ließ nicht locker, steckte Anne kleine Zettel zu, suchte den Augenkontakt während des Unterrichts und stand nachmittags nicht nur einmal plötzlich in ihrem Garten, wenn sie sich dort verkrochen hatte. Hier wurde Anne jedes Mal weich, ließ alles zu, dachte nicht mehr daran, dass man sie bemerken könnte. Der Garten war ja schön zugewachsen und das Haus stand etwas abseits in einer Sackgasse.

Doch natürlich ahnte unter den Schülern der Oberstufe bald jeder, dass die Kunst- und Geschichtslehrerin wohl etwas mit dem Loris hatte und sie musste sich Sprüche von den Jungs und auffälliges Getuschel der Mädchen gefallen lassen. Auch manche Kollegen gingen ihr plötzlich auffallend aus dem Weg und beim Einkaufen warf man ihr abschätzige Blicke zu. Offiziell wussten zwar nur Markus und ihre engste Freundin von der Geschichte, aber Anne musste handeln, ehe es zu spät war. Mehr als einmal sagte sie Loris, dass sie alles beenden wolle und erlag ihm doch immer wieder, sobald sie beide alleine waren.

 

Nach den Herbstferien vor ein paar Tagen, war er dann auf sie hereingebrochen, der längst befürchtete Shitstorm. Anne war mit gemischten Gefühlen zurück in die Schule gekommen, aber Loris zu ihrer Erleichterung noch nicht wieder erschienen. Auslöser des Dramas war ein Foto von ihnen beiden. Jemand hatte es ans schwarze Brett in der Aula geheftet. Die Aufnahme zeigte sie und Loris engumschlungen auf der Bank, damals in der Toskana. Als Anne das Foto sah, riss sie es sofort ab. Doch viel zu viele hatten es bereits gesehen und wahrscheinlich war es auch längst über die sozialen Netzwerke verbreitet worden.

Sie wurde zum Rektor zitiert. „Anne, was haben sie sich dabei gedacht, mit einem Schüler, sind sie denn von allen guten Geistern verlassen?!“, hatte er sie aufgebracht gefragt. Anne konnte dem nichts entgegensetzen, sie wusste es ja selbst nicht. Außer, dass sie ihre Beziehung zu Loris vor den Ferien endgültig beendet hatte. Am letzten Schultag. Er war traurig und wütend zugleich gewesen, aber von dem Tag an hatte sie nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. „Dafür war es offensichtlich längst zu spät“, entgegnete Felbert, „Loris Vater war heute früh hier, was meinen sie, was ich mir alles anhören musste! Er hat den Jungen von der Schule genommen, schickt ihn jetzt auf ein Internat, damit er aus der Schusslinie ist“. Anne wurde schwindelig, ein großes Schuldgefühl übermannte sie. „Ich weiß nicht, wie und ob wir das hier noch regeln können“, sprach Felbert wie von Ferne weiter, „aber sie sollten sich alsbald eine andere Stelle suchen. Auch wenn ich sie und ihre Arbeit sehr schätze, es ist das Beste für uns alle hier.“

 

Mit all diesen Gedanken und Grübeleien war Anne irgendwann wieder eingeschlafen und schreckte erst beim Klingeln des Weckers wieder hoch. Völlig verschlafen, drehte sie sich noch eine Weile im Bett herum. Dabei kam ihr mit Macht die Erkenntnis, dass auch dieser Tag ganz bestimmt kein leichter werden würde und stand widerwillig auf. Sie brauchte erstmal einen starken Kaffee. Unten im Flur bemerkte sie einen kühlen Luftzug und sah mit Schrecken, dass die Fensterscheibe im Wohnzimmer eingeschlagen war. Oh Gott, dann hatte sie also doch nicht geträumt in der Nacht! Sehr vorsichtig, nur auf Socken, tastete sie sich zwischen Glasscherben in den Raum. Neben dem kleinen Beistelltisch, der umgefallen war, sah sie einen Ziegelstein. Er war eingewickelt in ein buntes Stück Papier. Anne hob ihn auf, ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch sinken und glättete den DIN-A4-Bogen mit zitternden Händen. Es war ein Foto von Loris und ihr, sie lagen Arm in Arm im Gras hier in ihrem kleinen Garten, es schien ihr sehr lange her. Über dem Foto stand in schreienden Großbuchstaben: Verschwinde aus dieser Stadt, du Nutte! Jetzt ging es also richtig los.