Von Tanja Muhs

Langsam, aber sicher wird es unangenehm. Und kalt. Und feucht. Und das ist eine Untertreibung. Er konzentriert sich auf die Schweißperle, die ihm über die pochende Stirn kriecht, Millimeter für Millimeter Richtung Abgrund. Das lenkt ihn von dem Schmerz am Knöchel ab, der Knöchel, an dem sein Gewicht hängt. Wenn der Schweißtropfen nur nicht hinunterfiele, dann wäre es sicherlich ein Zeichen, dann fiele auch er nicht.

„Du kannst nicht fallen! Da ist ein Netz unter dir gespannt.“

„Was? Wer spricht da?“

Er hört in die Stille. Keine Antwort, irgendwo leckt ein kleines Rinnsal mit leisem Plätschern die Steine hinunter, vermischt sich unten, plitsch-plitsch-plopp, mit den dunklen Wassern des Horts. Wenn er den Kopf ein wenig hebt, schimmert in der tiefen, feuchten Stille etwas am anderen Ende der Höhle, vielleicht ist es Mondlicht, das durch eine Felsspalte schein. Ansonsten ist es stockduster. Oh, nein! Jetzt ist der Tropfen hinuntergetropft! Jetzt ist sein Schicksal besiegelt!

„Hallo? Bist du noch da?“, ruft er, wartet, ruft erneut. Es antwortet niemand, so schiebt er nach: “Wer spricht da? Wer bist du? Ist jemand da? Ich will nicht alleine sterben!“

„Na, na, jetzt werden wir aber dramatisch, oder? Natürlich bin ich da.“ Die Stimme gluckert, als hätte sein Besitzer einen Witz gemacht. Leise, wie ein Wispern, hallt sie von überall und nirgends.

„Und wer bist du?“

„Das ist ja lustig! Kopfüber hängst du hier über den Untiefen des Horts, aus dem noch kein Sterblicher lebendig wieder aufgestiegen ist, und das einzige, das dich interessiert, ist mein Name?“

Es gluckert wieder.

„Ja, bei Gott, dann spar dir doch das ganze Reden. Dann ist das wohl deine Falle, in die ich hier getappt bin? Hol mich herunter! Du hattest deinen Spaß! Hol mich herunter und lass mich ziehen oder töte mich, wie es dir beliebt, aber lass mich hier nicht hängen!“

„Meine Falle? Ach, herrlich, dieses Gedankenspiel! Wenn du mich sehen könntest, wüsstest du, wie irrwitzig diese Idee ist. Aber sie gefällt mir! Und selbst, wenn ich könnte, dich hinunterholen – hängst du nicht ganz aus alleinigem Verschulden da und muss man Suppen, die man sich eingebrockt hat, nicht selbst auslöffeln?“ Er gluckert wieder. „Ich bin übrigens Femt. Ich lebe hier. Welchen guten Grund hast du vorzubringen, hier zu sein?“

„Ist doch egal, warum ich hier bin! Ich will einfach nur wieder hier raus! Sag mir, wie komme ich hier runter?“

„Wie bist du denn hinaufgekommen?“

„Ich weiß nicht“ lügt er.

„Wenn du den Weg hinauf nicht mehr erinnerst, wirst du den Weg hinunter auch nicht finden können. Tut mir leid, dann wirst du wohl dort weiter hängen.“

„So hör doch auf! Hab Mitleid mit einem Sterbenden!“

„Ich erwähnte es bereits – du kannst nicht fallen, denn da ist ein Netz unter dir gespannt. Und“, fügt die Stimme hinzu, „ich muss schon sagen, ich lebe schon lange an diesen Gewässern, und du bist wahrlich nicht der erste, der herkommt, aber du bist schon einer der Weinerlichsten.“

Es gluckert und plätschert wieder. Als würde unter ihm jemand durch das Wasser waten, aber das kann nicht sein. Der Hort ist tief, die Ränder zerklüftet, dort kann niemand laufen, ohne sofort unterzugehen.

„Nun musst du Ausschau halten“, raunt es so nah an seinem Ohr, dass er beiseite gesprungen wäre, wäre er nicht kopfüber an einem Bein aufgehängt. Sein anderes Bein ist alleine gesprungen, er baumelt so heftig hin und her, dass er den Luftzug auf seinen Wangen spürt. Oh! Was ist das? Etwas berührt seine Hemdsärmel.

„Oha, er hat das Netz entdeckt! Na, vertraust du mir jetzt? Du kannst nicht herunterfallen, denn da ist ein Netz unter dir gespannt. Es wird dich halten. Nun greif danach! – Und jetzt such!“

„Wonach?“ fragt er so laut, dass seine Frage im Echo zurück an sein Ohr tönt wie ein Gong, der ihm durch Mark und Bein fährt.

„Natürlich nach den Dingen, die du suchst.“

„Na, den Goldschatz werde ich ja wohl nicht finden, hier oben.“

„Oha, deine Erinnerung, wie du kopfüber an der Decke gelandet bist, kommt also zurück?“ Es lacht wieder glucksend.

Kommen nicht alle deswegen her?“

„Oh, ja, du hast so recht! Sie stolpern durch die Höhlen und Gänge oder schwimmen im Hort, tauchen bis ganz tief hinunter. Alle finden irgendetwas – wenngleich auch einige nur den Tod.“

„Soll ich hier jetzt warten, bis ich auch den Tod finde und hier verrotte?“

„Das ist deine Entscheidung. Ja, du bist in eine Falle getreten, aber die Frage stellt sich – wenn alle, die herkommen, auch etwas finden, hast du gefunden, was für dich hier ausgelegt wurde oder bist du zufällig in etwas hineingetappt, das für jemand anderen deponiert war?“

„Macht das einen Unterschied, wenn ich nun einmal hier hänge?“

„Das weiß ich nicht, aber wenn du lieber jammerst, als dort zu suchen, wo du bist, wenn du schon einmal da bist, dann ist das deine Entscheidung.“

„In Ordnung. Also strecke ich meine Hände aus, ich fahre die Maschen des Netzes ab. Au, das tut weh! Die Fasern sind sehr rau, so rau, dass ich mich daran schneiden werde. Wenn es nur nicht so dunkel wäre, dann könnte ich meine Finger überprüfen. Und ich könnte vielleicht auch sehen, ob sich hier etwas findet, irgendwo hier in den Maschen des Netzes, etwas, das sich bei vorherigem Gebrauch in irgendwelchen Untiefen darin verfangen hat. Ach, das ist alles so sinnlos! Ich höre auf! -Aber was ist das – ich fühle etwas Kleines, Hartes. Es hängt in einem kleinen Säckchen in einer der Maschen. Was ist das?“

„Ja, was ist es denn?“

 „Ich weiß nicht! Es ist klein, hart, rund. Es ist eine kleine Kugel. Sie ist hart, aber nicht so hart wie ein Stein. Hah! Was ist das? – Ich habe daran gerieben und schau! Wo soll ich es hinhalten, damit du es sehen kannst? Wo bist du?“

„Hier unten. Ich sehe nichts. Was ist es?“

 „Licht! Licht, das aus der Erbse herausscheint. Dieses kleine, harte Etwas ist eine Erbse. Als ich sie in meinen Fingern bewegt habe, hat sie leicht, ganz leicht zu glimmen begonnen. Hah! Ich sehe es, das Netz, ich kann es sehen. Die Erbse glimmt als säßen Glühwürmchen darin. Aber sie ist nun mal sehr klein. Ich kann nicht weit damit sehen, nur etwa eine halbe Armeslänge.“

„Es ist nicht schlimm, wenn ich es nicht sehe, wenn es dir zu suchen hilft.“

„Haha, ich habe ihn! Den Schatz! Ich halte ihn in Händen! Es ist in einem anderen Säckchen in den Maschen gewesen. Es ist ein Blatt! Ein Schmuckstück in Form eines Blattes! Ein Lindenblatt aus Gold! Haha! Ich danke dir, Femt, ohne dich hätte ich es nicht gesucht und nicht gefunden! Haha! Ich bin ein reicher Mann!“

„Wie kommt ein Schmuckstück in ein Netz, das dich gefangen hält?“

„Und wie kommt eine glimmende Erbse hinein? Schicksal! Es ist Schicksal! Es ist ein Teil des großen Schatzes.“

„Bist du sicher? Es ist aus Gold?“

„Ach, Femt, vertrau du nun mir. Natürlich. Ich habe daraufgebissen. Es ist Gold!“

„Ach, darauf gebissen hast du also?“

„Ja, doch, mehrmals.“

„Ein Blatt, ein Zeichen für die Vergänglichkeit des Lebens.“

 „Vielleicht ist es das Blatt, das auf Siegfried, den Drachentöter fiel! Es muss es sein! Das ist ein Stück des Schatzes aus dem Hort! Und ich habe ihn gefunden! Und ich werde noch mehr finden! Ich muss hier hinunter!“

 „Streck deine Hand durch die Maschen hinunter.“

 „Oh! Vorsichtig habe ich durch die Maschen des Netzes gegriffen, und, siehe da, ich reiche problemlos hinunter an das Wasser des Horts, muss mich nicht einmal strecken. Ich hänge tatsächlich nur eine Unterarmlänge über der Wassernarbe.“

„Schöpfe nun ein wenig Wasser mit der Hand. Lass die Hand im Wasser ruhen. Und erschrick nicht!“

Plitsch-plitsch-plitsch, er fühlt eine Bewegung in seiner Handfläche.

„Was ist das?“ fragt er.

„Nimm die glimmende Erbse und schau selbst! Aber erschrick nicht! Ich bin es, Femt. Ich bin fünf Elemente und fünf Sinne. Ich bin Femt, der Fünfte. Ich bin dir geschickt worden, ich, nicht einer meiner neun Brüder.“

„Bei Gott! Was redest du da, Femt? – Warte, ich reibe an der Erbse.“

Er starrt auf seine Handfläche, in der sich etwas bewegt. Ein erstickter Aufschrei entfährt seiner Kehle.

“Grundgütiger! Wer oder was bist du?“

Das weiße, fast durchsichtige Etwas windet sich schlangengleich, drei lange Finger an den Händen, zwei Zehen an dem, was die Füße sein müssen, das Gesicht mondrund, am Hinterkopf drei Büschel feuerroten Haares. Würde es nicht einen freundlichen Gesichtsausdruck tragen, er hätte das Etwas in hohem Bogen in den Hort geschleudert. Oder ist das lächelnde Gesichtchen eine Täuschung des Leibhaftigen? Er spürt einen Kloß im Hals, das Atmen fällt ihm schwer. Schwimmt der Teufel persönlich in seiner Hand?

Er ist wie erstarrt, kann seine Hand mit dem Etwas darin nicht bewegen, das Herz klopft ihm bis zum Hals. Luft!  Plitsch macht das Etwas in seiner Hand, plopp als die Hand sich senkt und das Etwas zurück in das Wasser des Horts fällt.

Mit dem Messer aus seinem Gürtel zerschneidet Femt das Tau, an dem das Netz aufgehängt ist. Die Fackel hat er schon angezündet. Vorsichtig beugt er sich über den leblosen Körper. Wenn der hier morgen nicht in der Schankwirtschaft erschiene, um seine Zimmermiete zu bezahlen, wird man mit der Zunge schnalzen und sagen „Ach, hat ihn die Habgier oder der Teufel geholt?“, denkt Femt, als er den Münzsack aus des Schatzsuchers Tasche zieht.  Das goldene Blatt umfasst Femt mit einem schweren Tuch, gibt acht, dass er es nicht mit bloßen Händen berührt. Zuhause wird er es wieder in die Karaffe legen, das Teufelskrautsud wird sein tönernes Innen für den Nächsten tränken. Die Erbse muss wohl ins Wasser gefallen sein, aber das ist das geringste Übel. Für morgen wird er eine neue auf den Feldern finden und sie am Abend mit Glimmerpaste aus Hortalgen bestreichen, denkt er, als er seinen heutigen Schatz beiseite räumt und die Falle neu auslegt.

Zum Abschied beugt er sich an die Wasseroberfläche hinunter, greift hinein, lässt seine Hand im dunklen Wasser ruhen. Ein Grottenolm plitschert hinein, schlängelt sich in Femts Handfläche wie zum Gruße an einen Altbekannten. „Ich danke dir, alter Freund, für deine Hilfe“, sagt Femt, „wir sehen uns morgen.“