Von Christoph Klaus

Sommerglut ist tödlich, und das nicht erst in Zeiten des Klimawandels. An heißen Tagen steigt die Sterblichkeitsrate, was aber von den meisten Menschen ignoriert wird. Schließlich sind davon ja nur jene betroffen, deren Alter man selbst ohnehin niemals erreichen wird. So zumindest glaubt man und irrt darin gelegentlich.

 

Charly Mühlbacher lag auf dem hitzeschwangeren Asphalt und hauchte den letzen Rest seines Lebens aus, niedergestreckt von 122 Diesel-PS eines Rettungswagens. Was einstmals ein großer Komiker als »aktive Patientenakquirierung« verballhornt hatte, wäre im vorliegenden Fall aber nur eine solche gewesen, wenn es sich bei dem unfallgegnerischen Fahrzeug stattdessen um einen Leichenwagen gehandelt hätte. Denn für Charly kam, trotz der hauptberuflichen medizinischen Qualifikation des Fahrzeugführers, jede Hilfe zu spät.

Roberto H. (28) war, wie man am nächsten Tag den Titelseiten der Boulevardpresse würde entnehmen können, seit gerade einmal zwei Monaten Rettungssanitäter und dem damit einhergehenden Stress wohl noch nicht in jeder Hinsicht gewachsen. Zugeben, es war heiß an diesem Tag, 35 Grad im Schatten, und die längst fällige Reparatur der Klimaanlage in seinem Gefährt von seinem stets kassenklammen öffentlichen Arbeitgeber auf den unbestimmten Zeitpunkt der nächsten Zuweisung von Fördermitteln verschoben worden. Zudem war H. nicht nur Freund des Menschen, sondern auch Freund dessen besten Freundes. So hatte er in einem Anfall von Intuition in dem Augenblick, da der kleine Terrier aus dem Fenster von Haus Nr. 7 auf die Straße gesprungen war, das Steuer von Rettungswagen 143 in Richtung von Charly Mühlbachers lebenswichtigen Organen verrissen. Mit irreversiblen Folgen.

Und das alles nur wegen der Wichtigtuerin, die H. geladen hatte. An ihrem Essen hatte sie sich angeblich verschluckt und verspürte nun ein Gefühl »drückender Enge« in Hals oder Brust, was anatomisch aufgrund der Körperfülle nicht zu unterscheiden und deshalb dem Fachmann durchaus verständlich war. Allerdings hatte sie darauf bestanden, nicht ins städtische Krankenhaus gebracht zu werden, das um die Ecke lag; dann wäre das alles hier nicht geschehen. Nein, es musste Dr. Schlommers Privatklinik am anderen Ende der Stadt sein; schließlich stand ihr als Privatpatientin, insbesondere bei diesem Wetter, etwas Besseres als ein überhitztes Mehrbettzimmer zu. Gekühlte Getränke inklusive.

 

Jürgen Hegewald, Dr. med. vet. seines Zeichens, sah mit erstarrtem Blick aus dem Fenster seiner Tierarztpraxis und konnte nicht glauben, was sich hier gerade ereignet hatte. Klar, es war leichtsinnig gewesen, aber es war heiß. Und wer hätte so etwas vorhersehen können?

Wenige Minuten zuvor war sein kleiner Notfallpatient eingeliefert und umgehend auf die dementsprechende Operation vorbereitet worden. Nach Angaben seines Besitzers hatte er einen mutmaßlichen Giftköder geschluckt. Obwohl Hegewald wusste, dass manch besorgter Hundehalter in solchen Fällen gern einmal potenziellen Fehlalarm schlägt, um seinem Liebling priorisierte Aufmerksamkeit zu garantieren, war damit nicht zu spaßen. So mussten alle weniger dringenden Fälle zunächst hintenan stehen.

Hegewald hatte – schwerer Fehler – das Fenster geöffnet, um die Temperatur im Raum halbwegs erträglich zu halten. Dennoch war ihm der Schweiß in die Augen gelaufen, und das just in dem Moment, als er die Beruhigungsspritze angesetzt hatte. Offenbar war dieser Ansatz dann weit unter Lehrbuchniveau ausgefallen, erkennbar daran, dass der Vierbeiner jaulend hochgeschreckt und bar jeder Orientierung aus dem Fenster gesprungen war. In das weit- und weiterhin präsente Jaulen, das nun von draußen her in den OP drang, mischten sich dann Geräusche des Straßenverkehrs, die man in dessen regulärem Ablauf normalerweise zu vermeiden versucht.

Hegewald, noch unter Schock, war zunächst außerstande, die Situation zu überblicken. Seine Gedanken kreisten nur um den Hund, den er irgendwie einfangen und verarzten musste. Schließlich hatte er Charly Mühlbacher sein Wort gegeben, dass es »Chucky« bald wieder besser gehen würde. Dass er von diesem Versprechen bereits entbunden war, konnte er noch nicht wissen. Sein medizinisches Ethos hätte es ohnehin nicht akzeptiert.

 

Auch Charly selbst hätte es nicht akzeptiert, wäre er noch in der Lage gewesen, sich zu diesem Umstand zu äußern. Chucky war sein Ein und Alles, das einzige Wesen auf dieser Welt, zu dem er eine wirklich innige emotionale Bindung aufgebaut hatte. In deren schuldhafter Verantwortung stand auch die Unvorsichtigkeit, zu der er sich hatte hinreißen lassen und als deren Resultat Roberto H. für die nächsten sechs Wochen auf seelsorgerische Dienstleistungen angewiesen sein würde. 

Eigentlich wurde Chucky mit Premium-Futter vom Marktführer verwöhnt und litt keinerlei Not, sich anderweitig versorgen zu müssen. Dennoch hatte Charly es ihm bislang nicht abgewöhnen können, nach jedem Stück Fleisch zu schnappen, das ihm vor die Schnauze kam. Und so war es auch dieses Mal gewesen, leider.

Dabei hatte der Tag so gut angefangen, mit dem Versprechen, einer der besten in Charlys Leben zu werden. Ein Leben, von dem andere träumen. Zwar hatte Charly keinen Beruf und ging auch keiner geregelten Arbeit nach, musste er aber auch nicht, da seine Frau wohlhabend war und ihm alle Annehmlichkeiten bieten konnte. Sein einziger unerfüllter Wunsch hatte darin bestanden, sein Hobby Kochen zur Profession zu erheben und ein kleines Restaurant zu eröffnen. Unglücklicherweise war seine holde Angetraute nebst Anlageberater dagegen. Sei’s drum. So beschränkte sich Charly darauf, zu Hause für kulinarische Köstlichkeiten zu sorgen, so auch heute.

Was Charly nicht vorausgesehen hatte, aber hätte voraussehen müssen, war, dass sich seine Gattin über das exquisite Mahl ohne Sinn und Verstand hermachen würde, so wie immer. Mit aller ihr innewohnenden Gier hatte sie versucht, den ersten Bissen des Pfeffer-Chili-Steaks hinunterzuwürgen, und der war ihr im Hals steckengeblieben. Mit Charlys tatkräftiger Unterstützung und gezielter Kompression des Rumpfes war es zwar gelungen, die Atemwege vom hinderlichen Fremdkörper zu befreien; dieser im Ergebnis der Aktion aber auf dem Fußboden und mit minimaler Zeitverzögerung in Chuckys Magen gelandet.

Charly war sofort klar gewesen, dass der Hund das nicht vertragen würde, weshalb er ihn umgehend eingesackt hatte, um ihn dem Veterinär seines Vertrauens vorstellig zu machen. Wenngleich dadurch sein eigener Fehl Gefahr lief, offenbart zu werden, Chucky war wichtiger. Auch wichtiger als seine Frau. Die hatte immer noch geröchelt, aber Charly war in diesem Moment nicht in die Lage versetzt, sich darum kümmern zu können. »Wenn es nicht besser wird, ruf‘ dir den Notarzt«, lautete der letzte Rat, den er ihr zu geben imstande gewesen war, bevor er das Haus verlassen hatte. Zehn Minuten später war dann der Rettungswagen Nummer 143 vorgefahren.

Es war schlimm, schon immer. Sie ging ihm mit ihrem Gehabe und ihrer Wehleidigkeit so sehr auf die Nerven, schon immer. Als ihr der Bissen im Hals hängengeblieben war, hatte Charly für einen Moment mit dem Gedanken gespielt, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Wie bereits erwähnt, galt seine einzige emotionale Bindung seinem Hund. Seine Frau war ihm in Relation dazu mehr oder weniger gleichgültig. Sie in dieser Situation aber einfach ersticken zu lassen, das konnte er nun wirklich nicht tun. Bei der Untersuchung der Todesursache hätte man zweifellos das Stück Fleisch gefunden, und auch das Gift darin, das erst nach erfolgreicher Verdauung nicht mehr nachweisbar gewesen wäre.

 

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