Von Helga Rougui

Es ist anzunehmen, daß Charly spürte, daß er Charly hieß – rief man ihn doch täglich viele Male mit diesem Namen. Meist folgten dann Sätze wie „… mach doch mal was!“,  „… sitz doch nicht so rum!“ , “ … wink doch mal!“

Charly saß meist halb abgewandt von den Besuchern, bei solchen Anlassungen drehte er sich noch ein wenig weiter weg, so daß sie nur seinen haarigen Rücken zu sehen bekamen.

Die meisten verloren nach ein paar Minuten die Geduld und zogen weiter, und es fielen Bemerkungen wie „Der macht ja nix.“ , „Laaaangweilig.“, „Komm, laß ma die Bonobos gucken.“

 

Aber Charly konnte, wenn er wollte, eine Menge machen.

 

Wenn zu den Stoßzeiten der Lärmpegel immer mehr anstieg, sich immer mehr  Besucher am Gehege vorbeischoben, laut schwatzend und mit dem Finger zeigend, dann drehte Charly endlich ein bißchen durch.

Es gab zwei mögliche Reaktionen, die eine reserviert für die zu den Besuchern offene Seite des Geheges, die andere für die dicke Panzerglasscheibe auf der rechten Seite. Unkaputtbar, diese Scheibe – und das mußte sie auch sein. Charly fing an, aufgeregte Töne von sich zu geben, dann stützte er sich mit den Vorderpfoten auf den Boden und schaukelte seinen Körper hin und her – und dann nahm er unversehens Anlauf und sprang mit beiden Hinterpfoten gegen die Scheibe, hinter der die Besucher nur auf diesen Moment gewartet hatten. Aber egal, ob man von dieser akrobatischen Einlage wußte oder sie zum ersten Mal erlebte, man zuckte erschrocken zusammen, so groß war die geballte Kraft, die gegen das Glas donnerte.

 

Charly hatte noch eine andere Methode, seinen Frust über die lärmenden Besucherscharen loszuwerden. Wenn er seinen Oberkörper von rechts nach links hin und herschaukelte und dabei unauffällig etwas vom Boden aufklaubte, war es ratsam, sich hinter dem Mittelpfeiler, der die offene Seite des Geheges teilte, in Sicherheit zu bringen – denn während die Leute sich noch freuten, daß Charly endlich etwas machte – „Guck mal, Mami, er tanzt!“ – vollführte Charly eine Pirouette und schleuderte ein Stück frisches, feuchtes Exkrement in die Menge – und irgendwen traf er immer.

 

Wie Charly zu Tode kam, weiß jeder, der Zeitung liest oder Nachrichten hört, und wer am Niederrhein, in Krefeld, wohnt, war sozusagen hautnah dabei.

 

Geboren wurde Charly im Jahr 1973 in Sierra Leone. Wie er in eine Gelsenkirchener Tierhandlung kam, blieb ein illegales Geheimnis – ab 1974 lebte er im Krefelder Zoo und bewohnte dort mit anderen Schimpansen, Orang Utans und Gorillas ab 1975 das seinerzeit modernste Affenhaus Europas. Anfangs kränkelte er – war es das rauhe deutsche Klima oder Heimweh?

Aber nach einer Eingewöhnungszeit wurde er das zweite wichtige Schimpansenmännchen in der Horde, Anführer wollte und konnte er nie sein, und im Jahr 2019, mit 46 Jahren einer der rüstigen Senioren im Menschenaffenhaus, war er, genau wie der Silberrücken Massa, so etwas wie eine lebende Legende des Zoos.

 

Dann kam Silvester 2019. Eine Frau und ihre zwei Töchter beschrifteten mehrere chinesische „Himmelslaternen“ mit guten Wünschen und schickten sie auf die Reise. Eine dieser Laternen landete auf dem Dach des Affenhauses und steckte es in Brand. Das Affenhaus brannte ab, und fünfzig Lebewesen, darunter acht Menschenaffen, darunter Charly, kamen in den Flammen um.

 

Massa, der imposante Gorillamann, dessen Körper sich gegen den Brand wehrte, wurde frühmorgens nach der Bekämpfung des Feuers halb verbrannt schwerstverletzt aufgefunden und konnte nur mit größter Mühe durch Schüsse erlöst werden.

Im Vergleich zu ihm hatte Charly Glück gehabt. Er erstickte ziemlich schnell in den Flammen.

 

Daß Himmelslaternen wegen Brandgefahr in Deutschland verboten seien, hätten die drei Frauen, so sagten sie, nicht gewußt.

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