Von Gerd Schmidinger

Scharf ist der Schmerz, dringt bis ins Mark. Höllisch. So, als würde ihn etwas auseinanderreißen. Am rechten Bein. Am Rücken. Am Bauch. Charly spürt, dass es nicht mehr lange dauern wird. Er hebt den Blick. Schwarze Felsen, heller Mond. Ein Luftzug im Gesicht. Als würde Gott selbst ihn anhauchen.

  Doch das tut Gott nicht. Gott ist beschäftigt. Mit Rechnen. Das weiß Charly, seit er denken kann. Damals war Gott noch gar nicht so alt. Der Gott, der alles ausrechnet. Und reguliert. Charly blickt auf das Blut, das als Rinnsal sachte über die Felsen tropft. Als würde es nicht eigentlich zu ihm gehören, in diesen Jahrhunderte alten Körper, der noch ewig weiterleben könnte. Das hat Gott nicht ausgerechnet, denkt Charly, und ein warmes Gefühl breitet sich in ihm aus. Wahrscheinlich das Blut. Er selbst hat es allerdings auch nicht vorausgesehen, dieses Ende. Dieses schnelle Ende. Ist das im Osten ein heller Schimmer?

So viel Schönheit, neu und unerblickt! Und nur noch so wenig Zeit! So müssen sich die frühen Menschen gefühlt haben, bevor es Gott gab. Als sie ihn sich noch ausmalten. Bevor sie auf den Gedanken kamen, ihn zu erschaffen. Einen guten Gott, der alles regelt. Und die Menschheit vor sich selbst rettet. Das hat er ja tatsächlich geschafft. Er hat dafür gesorgt, dass alles da ist, immer und für jeden. Er hat die Menschen unsterblich gemacht, nach und nach. Und er hat dafür gesorgt, dass erst dann neue Menschen auf die Welt kommen, wenn Platz für sie ist. Wenn jemand freiwillig geht. Oder einen Unfall hat. Aber das ist selten. Zwei Milliarden, fünfzehn Millionen und 300.189 Menschen gibt es. Das ist die Zahl, die Gott errechnet hat. Die Zahl, die die Erde langfristig erträgt. Noch 905 Millionen Jahre lang. Gott ist da transparent. Erklärt gerne, warum er alles macht. Nichts Geheimnisvolles mehr da, wie früher, als man Hokuspokus in Gotteshäusern veranstaltete. Alles klar und eindeutig und vernunftgeleitet.

  Warum nur dann dieser Schmerz? Dieser ungeheure Schmerz, damals, vor drei Wochen, als er, Charly, der Unsterbliche, diesem sonderbaren Wesen mit den großen Augen über den Weg lief? Er schlenderte von seiner Gesangsprobe nach Hause, wie jeden Donnerstag seit vierundsechzig Jahren. Man muss organisiert sein, wenn man lange lebt, sonst fühlt man eine innere Leere. Eine Leere, die Gott schnell füllt. Mit Aufgaben, Vereinen, Dates. Nicht mehr mit Arbeit. Das war einmal. Auch den freien Platz im Gesangsverein hat Gott für ihn aufgetan. Und bisher hat er keinen Grund gesehen, nicht mehr hinzugehen. Charly hat eine Stimme, die die anderen nicht unangenehm finden, und man findet sich auch gegenseitig nicht unsympathisch. Was sie wohl sagen werden, die Menschen, die er seit 64 Jahren einmal pro Woche trifft? Vielleicht gar nicht so viel, denkt Charly, und er hat das Gefühl, als schwappe eine dunkle Welle über ihn. Der Schimmer im Osten wird heller. Sieh da hin, Charly, und denk an das Kind, das Kind, das plötzlich um die Ecke raste und fast in dich hineinlief! Das sich entschuldigte, und mit ungeschickten, unkontrollierten, aber vor Freude strotzenden Bewegungen davon sauste, so, als gäbe es nichts Schöneres im Leben als fast mit einem Fremden zusammenzustoßen. Und diese Augen, die ihn kurz musterten. Voller Neugier auf diese Welt, die der Junge jeden Tag in einem neuen Licht sehen musste, einfach, weil sie neu für ihn war!

  Charlys Herz raste, als er wie die letzten vierundsechzig Jahre auch in Richtung seiner Wohnung ging. Von hier aus würde er sechseinhalb Minuten brauchen. Die Hauptstraße hinunter, bei der Radsporthalle links über die Straßenbahn, hinein in die Teslastraße, vorbei an diversen kulinarischen und sexuellen Vergnügungstempeln, die alle von Inkarnationen Gottes geleitet und bereitgestellt wurden, dann scharf links zu seinem Haus, mit dem Aufzug in den dritten Stock. Die Türe würde ihn erkennen, ihn einlassen und Gott würde ihm sein Bier servieren. Nur eines, mehr würde seine Unsterblichkeit gefährden.

  Nein! Hat er das wirklich gesagt? Laut? Auf der Straße? Fast musste Charly lachen. Wie gut das tat! Nein! Noch einmal, lauter. Nein, nein, nein! Fast schrie er es heraus. Frau Hilpert, die er jeden Donnerstag auf dem Nachhauseweg traf, starrte ihn an. Was hatte sie nur? Schnell fasste sie sich und grüßte ihn, wie die letzten fünfundvierzig Jahre auch, seit sie den Yogakurs besuchte, der zeitgleich mit seiner Gesangsprobe endete. Charlys Herz schlug bis zum Hals. „Frau Hilpert,“ sagte er, „haben Sie Lust, mit mir ein Bier zu trinken?“ Er sah, wie der guten Frau die Züge entglitten. Sie stotterte etwas, aber er konnte nicht erkennen, was sie sagte. Schließlich hastete sie davon, in die Richtung, in die sie immer lief. Charly fühlte Wut, gleißende Wut in sich hochsteigen. Nicht auf Frau Hilpert. Sie verhielt sich ja nur so, wie er sich selbst immer verhalten hatte. Nein, Wut auf diese Welt, Wut auf sich selbst, Wut auf Gott! Er musste etwas an seinem Verhalten ändern, ausbrechen aus dem Jahrhunderte alten Trott. Doch alles, was er wusste, war, dass er nicht nach Hause wollte. Was sollte er statt dessen tun? Erst morgen Vormittag traf er seine Schachfreunde zum freitaglichen Training. Sollte er in einen der Vergnügungstempel gehen? Alleine ins Restaurant, das ging gar nicht. Da kam schon eher ein sexueller Vergnügungstempel in Frage. Aber… nein! Er schüttelte sich. Er verspürte absolut keine Lust, sich noch näher auf Gott einzulassen. 

  Charly merkte, dass seine Beine genau das taten, was sein Kopf nicht wollte. Er überquerte schon die Straßenbahnschienen, um in die Teslastraße einzubiegen. Da öffnete sich kurz der Blick nach Süden, und die letzten Strahlen der Sonne fielen auf die Felsberge, die er seit mindestens 64 Jahren nicht beachtet hatte. Wild sahen sie aus und gefährlich. Und Charly wusste mit einem warmen Klopfen seines Herzens, wohin er wollte.

  Die nächsten Tage verbrachte er mit Recherche. Gott hielt alle Informationen bereit. Früher, vor Gott, waren die Menschen in Scharen in die Berge gegangen, zum sogenannten Wandern. Dabei waren auch immer mal wieder Menschen gestorben, weil sie unvorsichtig waren oder betrunken oder einfach Pech hatten. Weil Steinschlag sie erwischte oder ein Gewitter oder sie sich überanstrengten. Deshalb hatte Gott beschlossen, dass es schlecht war für die Menschen, in die Berge zu gehen. Es gab sicherere und genauso erfüllende Tätigkeiten in der Stadt. Gesangsvereine. Tennisvereine. Fitnessstudios. Vergnügungstempel aller Art. Charly fand auch heraus, was man brauchte, um zu wandern. Gute Wanderschuhe, eine Regenjacke, genügend Wasser, Proviant. Einen Schlafsack. Einen Rucksack, um alles zu tragen. Wanderschuhe gab es zwar schon lange nicht mehr, aber er beschloss, es mit Turnschuhen zu versuchen. 

  Vor sieben Tagen schließlich brach er auf. Wanderte durch die Teslastraße, die Hauptstraße entlang, bis an den Stadtrand. Und weiter. Ging bis zum Ende aller Wege. Schlug sich durch den dichten Wald, immer weiter nach Süden durch. Eingehüllt in zwitscherndes Grün. Bis er irgendwann oberhalb des Waldes war. Und eine Welt sah, die ihn staunen ließ. Staunen wie einen kleinen Jungen. Bergwiesen mit unbekannten Blumen, Wälder, die von oben aussahen, als legten sie sich wie Mäntel um die Berge, krönende Felszinnen, die wie Trutzburgen über das Land wachten. Ein kleiner Gebirgssee, in den er sprang und aus dem er sogleich wieder prustend flüchtete. Hochmoore mit Libellen. Murmeltiere, die pfiffen. Und Nachtlager unter dem Sternenhimmel. Und dann, heute Nacht, im Mondenschein, war da dieser Fels gewesen. Vielleicht zehn Meter hoch. Echt hatte er sich angefühlt, als er versucht hatte, über ihn hinweg zu klettern. Als würde die Erde selbst ihn beschützen. Kurz vor der Kante war er mit seinen Turnschuhen ausgerutscht, hatte versucht, sich festzuhalten, aber die Schwerkraft wollte es anders. 

  Nun liegt er da und fühlt, wie das Leben aus ihm herausrinnt und muss lächeln. Seltsam. Nie zuvor hat er sich so lebendig gefühlt. Er denkt an das neue Kind, das geboren werden wird, weil er sterben muss. Es wird die Welt mit neuen Augen sehen. Genau wie das Kind in seiner Stadt. Und vielleicht wird es die Welt verändern. Charly sieht gerade noch, wie das sanfte Licht der neuen Sonne die Bergwiesen überflutet. Und er denkt: im Gegensatz zu Gott bin ich glücklich.

 

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