Von Anne Zeisig

Was für eine Freude das war, als Anna-Maria Beierhoffer mit 45 Jahren ihr erstes Kind gebar. Lagen doch Jahrzehnte der Enttäuschungen hinter der Familie, verbunden mit der Sorge, dass es keinen Erben für die Landmaschinen-Werkstatt der Schwiegereltern gab, die der Sohn inzwischen übernommen hatte.

 

Die Taufe wurde in der Dorfkirche festlich gefeiert. Stolz präsentierten die Eltern das kleine, zarte Bündel im Kleidchen aus feinster Spitze mit einem blassblauen Hohlsaum, an den Beinchen eine weiße, feinfädige Strumpfhose und einer Rüschenhaube für das Köpfchen gegen die Juli-Sonne.

Anna-Maria hätte lieber ein modernes Gewand für den Täufling gehabt, aber dieses Spitzenungetüm wurde in der Familie ihres Mannes von Generation zu Generation vererbt, wie auch die große alte Holzwiege, in der das Kleine recht verloren lag und noch zierlicher erschien.

Als Gegenleistung konnte sie ihren Willen durchsetzen, dem neuen Familienmitglied einen modernen Vor-

namen zu geben: „Kim! Jessas Herrschaften noch ä mol!“, rief die Schwiegermutter hysterisch und beruhigte sich aber schnell, weil eh nichts mehr zu ändern war, denn da stand der Name bereits auf der amtlichen Geburtsurkunde.

 

* * *

 

Die Jahre waren schnell vergangen zwischen Wiege in der Küche und Büroarbeiten in der Werkstatt, wo es stets nach Öl stank, und ihre Arbeit zu oft von der Schwiegermutter kritisiert wurde, einerlei, wie sehr Anna-Maria sich bemühte.

„Was hast uns da ins Haus gebracht“, hatte sie zu ihrem Sohn gesagt, „Klaviertasten kannst nicht essen nicht. Und durchsetzen bei ihr kannst dich auch nicht!“ 

Der Erbe hatte die Alte auch nicht gnädig gestimmt. Einzig der Schwiegervater lächelte sie an, wenn seine Frau nicht in der Nähe war. „Sie meint ‘s nicht so.“

 

Zwar wuchs das Kind nach Vorschrift, aber sein Körperbau blieb von zierlicher Statur, deshalb hat der Herr Doktor Bewegung angeregt, man solle das Kind so kurz vor der Einschulung nicht in Watte packen.

`Ballett´, dachte Anna-Maria sofort nicht uneigennützig. Gab es doch endlich einen Grund, einmal wöchentlich in die Stadt zu fahren, sich beim Friseur zu entspannen, oder einen kleinen Schaufensterbummel zu machen. 

Zwar konnte sie den Wagen nur eine Stunde an der Parkuhr abstellen, aber diese Zeit gehörte ihr alleine, bis sie den Spross vom Unterricht abholte.

 

Die Friseuse ondulierte ihr die langen Haare. „Ballettunterricht! Und was sagt der werte Herr Gatte dazu?“

Selbstverständlich habe er andere Vorstellungen, meinte Anna-Maria, aber es wäre eine Sünde, wenn dieses zarte Wesen nicht Anmut und Grazie erlernen würde. Außerdem sei es der Musik sehr zugetan.

„Wie ich früher“, betonte sie, „das Musische kommt von mir, haben mir meine Eltern doch Klavierstunden zugestanden.“

Das Piano stand längst in der alten Remise, der Lack war abgeplatzt und rissig wegen der Feuchtigkeit.

Und als wollte sie den Blicken Figaros Tochter zuvorkommen, fügte sie an, „meine Finger sind längst nicht mehr flink und leider ist mir keine schlanke Statur für graziöse Tänze gegeben worden.“

Nun wurde ihr Haar toupiert. „Im Grund ist es einerlei, mit welchem Steckenpferd sich der Nachwuchs vergnügt. Erzieherisch ist das alleweil sinnvoll. Sonst kommt es so wie beim Ludwig, Sohn von meiner Schwester ihrer Schwägerin ihrer Nichte, der hat vor Verdruss denen ihre Scheune abgebrannt!“ Sie riss ihre ka-

jal-umkohlten Augen weit auf. „Der Urgroßvater hat die Packung Zündhölzer ahnungslos in der Stuben liegen gelassen! Konnte nicht ahnen, dass der Kleine ein Streichholz nimmt und denen die Bud’n überm Kopf anzündet!“

Anna-Maria nickte zustimmend, blickte auf ihre Uhr und mahnte zur Eile.

Sie betrachtete sich im Spiegel von allen Seiten. „Ja, gefällt mir gut. Danke.“

„Könnt´ Sie mir mit dem schönen langen Haar aber auch gut als Ballerina vorstellen, als S´ noch ein Kind waren“, meinte die Haarkünstlerin schmeichelnd.

Anna-Maria winkte verlegen ab. „Das, was mir nicht vergönnt war, wird das Kind erreichen, da ist die Freude groß und der Stolz auch, wenn die Zukunft in der Tanzkunst liegt.“

Sie bezahlte und gab ein ansehnliches Trinkgeld.

„Ach! Soll die Werkstatt nicht der nächsten Generation übergeben werden?“

Aber Anna-Maria war längst zur Türe hinausgeeilt. 

 

* * *

 

Als sie den kühlen Flur der Ballettschule betrat, hallten ihr die Anweisungen der Trainerin entgegen: „Rond de jambe en l´air!“

Sie hastete die Stiegen hinauf.

„Pas de bourrée! Pas de bourée!, habe ich gesagt! Ihr müsst euch konzentrieren!“

Als sie kurz davor war, die Tür zum Tanzsaal zu öffnen, hörte sie aus der Umkleide ein Schluchzen. Vorsichtig öffnete die Mutter die Tür.

Zusammengekauert saß Kim auf einer der Holzbänke und weinte in sich hinein. Anna-Maria setzte sich daneben: „Warum weinst du denn wieder?“  

„Ich will hier nicht mehr hin!“ Diesmal waren die Tränen, die sich ihren Weg über die rosigen, verschwitzten Wangen bahnten, besonders groß.

„Allemale lachen sie mich aus.“

„Aber du wirst hier doch nicht ausgelacht“, stellte sie die Angelegenheit klar. „Das hat deine Trainerin bestätigt. Sie hat dir ein großes Talent bescheinigt.“

„In der Vorschule lachen sie mich aus“, sprudelte es heraus, „weil ich Ballettunterricht habe!“

„Sie sind neidisch, weil ihre Eltern kein Geld haben, ihnen Tanzunterricht zu ermöglichen. Die tragen ihren Verdienst lieber ins Wirtshaus.“

Sie mahnte zum Umziehen.

Kim wechselte mit trotzig hervorgeschobener Unterlippe die Kleidung, atmete tief ein und aus und stellte sich vor die Mutter. Mit Wohlwollen streichelte sie zärtlich über den blonden Lockenkopf. „Ich sehe dich bereits auf internationalen Bühnen, mein Kind“, flüsterte sie, „die Werkstatt kann deine musische Seele nicht befriedigen. Zudem bist du für die grobe Arbeit beim Vater zu zart.“

Kim stampfte mit den Füßen auf: „Aber Vati hat gesagt, dass ich ihm ein würdiger Nachfolger sein werde, und dass er mich beim Fußball anmelden wird, weil ich dort Freunde finden werde und an der frischen Luft bin! Hier kichern die Mädels hinter meinem Rücken, wenn die Trainerin es nicht bemerkt!“

Der Bube wurde vom Weinen durchgeschüttelt.

Sie nahm ihn hart an die Hand und der Knabe polterte widerstrebend neben der Mutter die Stufen hinunter.

 

END-Version 

 

ERKLÄRUNG TITEL: Ballet blanc, weißes Ballett: Bezeichnung für Choreographien ohne Handlung, oder Tänze, bei denen die Bewegungen und technischen Fertigkeiten der Tänzer vordergründig sind. Die Interpretationen und Gefühle der Tänzer/Innen stehen dabei nicht im Mittelpunkt.