Von Eva Fischer

Sie legt eine Tüte Gummibärchen auf das Förderband an der Supermarktkasse, ein Paket Frühlingsquark, fünf ausgewogene Kartoffeln und eine Flasche Weißwein. Die ist für später, möchte sie gerne draufschreiben. Der junge Kassierer zieht die Artikel über den Scanner. Um seinen Mund wächst weicher Flaum. Den möchte sie am liebsten berühren, stellt sich vor, dass er wie ein kleiner Vogel riecht. Die graublauen Augen schauen sie freundlich an, schenken ihr ein Lächeln. Sie kramt in ihrem Portemonnaie nach dem geforderten Geldbetrag. Er wartet geduldig. Sie ist froh, dass sie sich nicht an der Nebenkasse angestellt hat. Dort arbeitet die Kassiererin im Akkord, Gehetzte für Gehetzte.

 

Bedächtig setzt Hanna Schritt für Schritt ihren Einkaufstrolley hinter sich her ziehend. Die Erinnerung an das Lächeln des jungen Kassierers begleitet sie, wärmt sie mehr als die Sonnenstrahlen.

 

Von weitem sieht sie Frau Kluger auf sich zukommen. Zu spät, um die Straßenseite zu wechseln, außerdem ist sie nicht schnell genug.

Frau Kluger war offensichtlich beim Friseur. Sie streckt ihr den Kopf hin, ruckartig wie ein Huhn, das Lob wartet sie erst gar nicht ab, fängt sofort an, sich über die neuen Nachbarn zu beschweren, die ihr im wahrsten Sinne auf dem Kopf herumtrampeln, ihr schlaflose Nächte bereiten. Drei Kinder hätten sie, die offensichtlich nie in einem Bett schliefen, immer nur herumrannten und schrien, unerzogene Gören eben.

 

Hanna denkt an das Lächeln des Kassierers, während  Frau Kluger sie unermüdlich zuschwallt. Die Worte rauschen an ihr vorbei, fliegen lautlos davon wie Schmetterlinge.

„Ja, dann bis zum nächsten Mal.“ Das klingt nach erlösendem Finale. Hanna macht sich alleine weiter auf den Weg. Behutsam steigt sie die Stufen in den ersten Stock, öffnet die Wohnungstür.

 

Sie packt ihre Einkäufe aus, stellt die Flasche Weißwein in den Kühlschrank, setzt Wasser für die Kartoffeln auf und gibt den Quark aus der Verpackung auf einen Teller. Sie geht zum Radio, schaltet es an. Sie lässt sich gerne überraschen von der Auswahl des Ansagers. Dvoraks slawische Tänze beschwingen sie. Sie macht einige  Tanzschritte, ohne auf die Schmerzen in ihren arthritischen Knien zu achten.

 

*

 

Im schwarzen Kaminofen knistert das Feuer. Der Vater kommt mit einer Überraschung. Er hat eine Platte gekauft. Tschaikowskys Walzer aus Dornröschen. Er ruft seine Frau. Sie nehmen Platz auf dem gelb-schwarzen Sofa hinter dem Nierentisch, lauschen andächtig den Klängen. Die Musik schwillt an. Den Vater hält es nicht länger auf dem Sofa. Er packt seine Frau, zieht sie hoch, führt sie zum Tanz. Der Perserteppich schluckt jeden Laut. Immer schneller drehen sich beide zur Musik des Walzers. Die Wangen der Mutter röten sich. Ihre Augen strahlen den Vater glücklich an. Nun springt auch die sechsjährige Hanna auf. Der Vater nimmt sie an die Hand. Zu dritt wirbeln sie durch das kleine Wohnzimmer. Als die Musik endet, bittet Hanna: „Nochmal!“

Nochmal und nochmal drehen sie sich zu den Klängen der Musik. Der Vater gibt als erster auf, holt sich ein Bier aus der Küche. Die Mutter setzt sich zu ihm. Hanna tanzt weiter, gefangen in einem Strudel der Bewegung, der Glückseligkeit verheißt.

 „Pass auf, dass du nicht hinfällst, Hannerl!“, warnt der Vater lächelnd. „Ruhe dich doch aus und trink eine Limonade!“

Hanna hört nicht auf, hört nicht auf den Vater, hört nur auf die Musik. Unter Tränen wird sie später ins Bett gebracht.

Am nächsten Tag hat sie nichts vergessen. Sie will tanzen, sie zieht ihren himmelblauen Petticoat an, bittet die Mutter die Platte aufzulegen. „Dreimal“, beschränkt die Mutter, aber dafür „täglich“ setzt Hanna durch. Als die Schwester der Mutter zu Besuch kommt, darf sie vortanzen.

„Jo, mei, wuist am Ende zum Ballett!“, sagt die Tante beeindruckt.

„Setz der Kleinen keinen Floh ins Ohr!“, warnt die Mutter.

Doch der Floh sitzt bereits fest. Hanna will Tänzerin werden. Hanna will zum Ballett. Aber da wird nichts draus. Es wird kein Geld für Spinnereien ausgegeben.

 

*

 

Aus dem Topf steigt fauchend weißer Schaum hoch. Hanna schaltet die Kartoffeln herunter, deckt den Tisch für sich.

Nach dem Essen schlummert sie in ihrem Ohrensessel, legt die Füße hoch.

 

Die Wanduhr schlägt drei. Sie geht zum Fenster, sieht ihre Tochter, die prüfend die Parkuhr in Augenschein nimmt. Lohnt es sich, sie für eine viertel Stunde zu füttern? Länger hat sie nicht für ihre Mutter eingeplant. Die kleine Sophie schaut zum Fenster, winkt ihrer Oma zu. Hanna winkt zurück.

 

„Hallo, Mum! Kannst du mir Sophie heute Nachmittag abnehmen. Ich habe einen dringenden Termin.“

Hanna fragt nicht nach, um welchen Termin es sich handelt.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“

„Ein andermal. Ich habe es eilig.“

 

Die Tür fällt ins Schloss. Es ist der Startschuss für Sophies Frage.

„Oma, kriege ich deinen Petticoat zum Tanzen?“

„Na klar, Liebes.“

 

 „Mit deiner weißen Strumpfhose siehst du jetzt aus wie eine echte Ballerina.“, sagt Hanna bewundernd und zeigt auf ein Bild von Degas an der Wand. Sie legt Tschaikowskys Walzer auf, lässt sich von Sophie an die Hand nehmen und entführen.

 

Die Musik fließt durch ihre Adern, schwermütig und prickelnd, harmonisch und aufwühlend. Sich im Kreise drehen, der Zeit entrinnen, selbst zu Musik werden, Erinnerungen, die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen, nicht straucheln, weiter, immer wieder von vorne, tausend Neuanfänge, das Ende überspielen, sich bewegen, kein Stillstand, ein Knopfdruck und schon kann es wieder von vorne anfangen…

 

Sie spürt Sophies Blicke. „Was ist los, Oma?“

Die Schwerkraft zieht sie nach unten. Pause. Der Walzer ist zu Ende getanzt.

Sophie legt sich neben sie.

„Jetzt spielen wir Dornröschen. Wir schlafen. Hundert Jahre und danach wachen wir wieder auf.“

Hanna schmunzelt. Wie lange dauern hundert Jahre für eine Fünfjährige?

 

Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Das Flackern einer Kerze beleuchtet schemenhaft zwei eng aneinander kauernde Gestalten auf dem Boden. Ein abgebranntes Streicholz liegt daneben.

 

Hannas Tochter betätigt den Lichtschalter.

„Was macht ihr denn da unten?“, fragt sie vorwurfsvoll.

Sophie legt den Finger auf die Lippen.

„Psst, Mama! Oma muss schlafen. Sie wartet doch auf den Prinzen, der sie wachküsst.“

„Der bist du, mein Schatz!“, sagt Hanna und gibt Sophie einen Kuss.

„Was sind das für merkwürdige Spiele! Und was ist das für ein komischer Rock, den Sophie anhat?“

 

„Hast du jetzt Zeit für eine Tasse Kaffee? Und kann mir mal einer hochhelfen?“

 

  1. Fassung