Von Beate Fischer

Die Parkuhr schlug gerade sieben, als ich an jenem Freitagmorgen vor zwei Wochen durch die Grünanlagen zur Arbeit radelte. Der Himmel hatte sich einen nassen Wolfspelz umgeschnallt, aus dem der Wind feine Tropfen schüttelte. Obwohl die Sonne schon seit über einer halben Stunde von ihrem Ausflug auf die andere Seite unseres Planeten zurück sein sollte, waren die einzigen Lichtquellen die funzeligen Laternen am Wegesrand, denn meine Fahrradlampe verbreitete nicht mehr Helligkeit, als ein pensioniertes Glühwürmchen.

Meine gelbe Regenhose knatterte wie die Segel einer Yacht im Sturm. Meine Kapuze und eine fast schlaflose, von Alpträumen durchzogene Nacht bescherten mir einen Tunnelblick.

Ich will nicht näher darauf eingehen, aber Sie verstehen sicherlich, dass ich einen wahren Horrortrip hinter mir hatte, wenn ich Ihnen nur einige Dinge nenne, die mir meine Traumbilder vorgegaukelt haben: Blutegel, halb verweste Leichen, ein Flugzeugabsturz, wild um sich schießende Ninja Turtles und – am allerschlimmsten – ein Friseur!

Beim Frühstück musste ich mir ein Streichholz zwischen die Lider klemmen, damit mir die Augen nicht ständig zu fielen.

Sie sehen: Mein Zustand war bemitleidenswert.

Und dann – als ich in einen leichteren Gang schaltete, um einen kleinen Anstieg besser bewältigen zu können – begann auch noch meine Kette zu rasseln und ließ sich mit einem heiseren Seufzer vom Kettenblatt scheiden. Sie baumelte herrenlos neben meinem Knöchel und pinselte zarte Streifen auf mein Hosenbein.

Ein herzhaftes „Mist“ begleitete meine Vollbremsung und ich schlitterte noch ein paar Meter weiter auf dem glitschigen Boden, bevor ich direkt vor den Zweigen einer Trauerweide zum Stehen kam. Ich hievte mein linkes Bein über den Sattel und ging in die Knie, um die Bescherung zu betrachten. Unbeholfen und planlos fummelte ich herum, doch die Glieder der Kette flutschten mir immer wieder durch meine nassen Finger.

Ich sah mich um. Zum einen, um sicher zu gehen, dass niemand heimlich meine peinlichen Versuche beobachtete, aber gleichzeitig auch in der Hoffnung, dass in diesem Moment ein freundlicher, verständnisvoller Zweiradmechaniker fröhlich pfeifend auf seinem Morgenspaziergang meinen Weg kreuzte.

Doch außer einem äußerst grazilen Kaninchen in Spitzen-Tütü und Strumpfhose, das gerade zwischen den Ästen der Weide verschwinden wollte, war niemand unterwegs.

„Hä…?“, fragte ich mich laut und es drehte sich zu mir um bevor ich diesen tiefsinnigen Gedanken zu Ende bringen konnte.

„Was heißt hier ‚hä‘?“, blaffte es mich an. „Hast du mich gemeint mit ‚hä‘? Das wäre wieder typisch für einen Vertreter deiner Gattung. Sieht selbst aus wie eine überreife Banane nach der großen Wäsche und hat für ein künstlerisch ambitioniertes Kaninchen nur ein ‚hä‘ übrig.“

„Oh nein, so war das nicht gemeint“, versicherte ich dem Kaninchen schnell. „Ich war nur erstaunt, hier so früh am Morgen jemanden zu treffen, der … die …“.

„Der … die … ja, sprich dich nur aus“, forderte mich es mich höhnisch auf. „Was genau willst du mir damit sagen?“

„Ach nichts“, presste ich heraus und ließ mich auf den matschigen Boden plumpsen. „Du hast Recht. Ich habe noch nie ein Kaninchen im Ballett-Outfit gesehen. Das ist alles. Und ganz ehrlich: Ich bin mir auch nicht sicher, ob du tatsächlich hier bist.“

„Hä?“ Jetzt war mein Gegenüber dran, erstaunt zu sein. „Wie meinst du das? Sind das hier etwa nicht meine Ohren?“ Es wackelte mit seinen feuchten Löffeln, dass die Tropfen Pirouetten drehten. „Sind das hier etwa nicht meine Hinterläufe, die ich jahrelang für meinen großen Traum geschunden habe?“ Und es vollführte eine kleine, anmutige Choreografie. „Du wirst doch wohl nicht bestreiten können, dass du mich in diesem Moment siehst und mit mir redest?“

„Nein, das bestreite ich ganz und gar nicht“, gestand ich ein. „Aber ist das die Realität? Ist das alles wahr, was ich hier sehe? Oder hatte ich einen Fahrradunfall, liege jetzt im Koma und träume wirre Sachen? Vielleicht bin ich auch noch gar nicht aufgestanden, liege eigentlich in meinem Bett und stelle mir die Szene nur vor?“

„Was soll denn das nun wieder sein: ‚Realität‘, ‚Wahrheit‘?“ Das Kaninchen stemmte seine Vorderpfoten in die Seiten. 

„Frag doch mal einen Eisbären, eine Frau im Bikini und einen Pizzaofen, ob dreißig Grad heiß sind. Du wirst völlig verschiedene Antworten bekommen. Oder frag eine Ameise, einen Mann mit Fahrrad und eine Boeing 747, ob Frankfurt und Stuttgart weit auseinander liegen. Die werden sich nie einig werden. Und trotzdem hat jeder Recht. Für sich. Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, hat ein kluger Mann gesagt. Denk mal darüber nach.“

Aus der Trauerweide schrillte ein Klingelton.

„Oh, das erste Läuten, ich muss mich sputen.“

Das Kaninchen tänzelte davon und schlüpfte zwischen die Blätter. Doch dann hörte ich seine Stimme noch einmal aus der Ferne. „Ich schick dir gleich den kleinen Igel vorbei, der ist ein Meister der Fahrradketten-Reparatur.“

Dann war alles still.

Plötzlich rutschte die Sonne durch eine kahle Stelle im Wolfspelz und tauchte mich und mein Fahrrad in ein goldenes Licht. Keine zehn Sekunden später beugte sich eine freundliche ältere Dame mit einem zartvioletten Pudel an der Leine zu mir herunter.

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?,“ fragte sie und fuhr ohne meine Antwort abzuwarten fort. „Ach, Ihre Kette ist heruntergesprungen. Warten Sie, das haben wir gleich.“

Sie streifte ein paar Gummihandschuhe über, die sie aus ihrem Handtäschchen gezaubert hatte und beendete mit ein paar Handgriffen die ganze Misere. Als ich ihr gerade danken wollte, hörte ich hinter mir ein leises Hüsteln.

„Oh, der kleine Igel“, rief die alte Dame aus. „Schön, dass wir uns mal wieder sehen. Ich wusste nicht, dass Sie bereits angefordert sind. Es tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht die Arbeit wegnehmen.“

„Kein Problem, Tante Trudel. Ich hab’s sowieso eilig, die Vorstellung fängt gleich an.“

„Was spielen sie denn heute?“

„Naja, das ist noch ganz geheim. Das Kaninchen möchte uns mit einem völlig neuen Stück überraschen. Ich bin schon gespannt wie ein Flitzebogen. Könnten Sie mich vielleicht anschubsen, damit ich schneller im Theater bin?“

Der Igel lächelte der alten Dame und mir zu, rollte sich zusammen und die Dame verpasste ihm mit der Fußspitze einen leichten Tritt in Richtung Weide.

„So ein freundliches kleines Wesen“, sagte sie und schaute ihm andächtig auf seiner Reise nach. „Und Sie“, wandte sie sich zum Abschied an mich, „Sie sollten sich schnellstens zu einem Kurs für Fahrradreparatur anmelden. So kann man Sie ja kaum mit dem Rad alleine auf die Straße lassen. Licht, Kette und hier, die Bremsbeläge sind auch schon völlig abgefahren…“. Sie runzelte die Stirn und hob einen Zeigefinger. Dann wünschte sie mir einen angenehmen Tag und verschwand mit ihrem Pudel um die nächste Ecke.

Sie können sicher nachvollziehen, dass mich diese Episode auch nach zwei Wochen völlig ratlos und verwirrt zurücklässt. Aber ich habe schon meine Konsequenzen daraus gezogen. Übermorgen gehe ich zum ersten Mal zum Volkshochschulkurs „Fahrrad reparieren für Menschen mit zwei linken Händen“ unter der Leitung von Trudel Göttlicher. Und heute Abend bin ich mit einem Pizzaofen verabredet – zum Interview.

 

 

 

 

  1. Version