Von Marcel Porta

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich all meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir‘s nichts nütze.“

So weit das Hohe Lied der Liebe.

Doch welcher Liebe? Das steht nicht da. Diese Frage müssen wir für uns beantworten.

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Es ist paradox, aber die Jahre vergehen wie im Flug. Es gäbe so viele Aufgaben, und ich kann sie nicht in Angriff nehmen. Statt mitten im Leben zu stehen, sitze ich hier im Gefängnis. Oh Freiheit, ich liebe nichts auf Erden so sehr wie dich. Und doch kann ich dich nicht erringen, denn der Preis, den ich zahlen müsste, ist zu hoch. Wie könnte ich mein Volk verraten? Mitarbeiten an der Unterdrückung meiner Landsleute? So werde ich weitere Jahre hier verbringen und sie vergeuden.
Ich werde nie verstehen, warum die Hautfarbe wichtig sein soll. Oder Religion und Geschlecht. Alle Menschen sind gleich, wer das nicht begreifen kann, hat weder Verstand noch Gefühl. Natürlich nicht gleich als wären sie austauschbar, beileibe nicht. Doch niemand ist wertvoller oder unentbehrlicher im Konzert des Lebens als ein anderer. Jede Stimme hat ihren einmaligen Klang und ist nicht zu ersetzen. Das wusste ich schon als kleines Kind.

Auch meinen eigenen Leuten muss ich das immer wieder predigen. Wir werden nicht siegen, wenn wir nicht bereit sind, für unsere Sache zu sterben. Und werden erst recht nicht siegen, wenn wir für unsere Sache töten. Geduld ist schwer! Und doch muss ich sie haben. Schon seit langen 27 Jahren.

 

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Ich habe lange gezögert. Und dann die richtige Entscheidung getroffen. Wie immer. Wenn ich den Porsche im Hof stehen sehe, schwillt mir das Herz in der Brust. Eine solche Formvollendung! Wenn dann noch Miezi drinsitzt, mit ihren langen Beinen, der schwarzen Netzstrumpfhose, dem kurzen Minirock und ohne Slip, weiß ich, dass es unvorstellbar ist, nicht reich zu sein. Lass die selbst ernannten Tugendwächter den Reichtum schmähen, ich liebe nichts auf Erden so sehr wie ihn.

Die Lügen der Menschen, die angeblich freiwillig auf ihn verzichten, sind leicht zu durchschauen. Die Trauben, die ich nicht erreichen kann, sind immer sauer. Reiner Selbstschutz. Den ich nicht brauche, denn es gibt keine Trauben, die für mich unerreichbar wären.

Manchmal ist es sogar fast eine Zumutung, mir neue Wünsche auszudenken. Was könnte ich mir noch Gutes tun? Doch das dauert nie lange, ich brauche nur eine Zeitschrift aufzuschlagen, in der einer meiner Klasse angehimmelt wird, schon sehe ich etwas, das er hat und ich auch haben will und muss. Und werde!

Natürlich habe ich keine Zeit. Auch wenn alle Welt meint, dass ich nichts arbeite, ich schufte härter als die meisten. Ich muss meine Besitztümer verwalten, mir Neuanschaffungen ausdenken, das ist ein schwerer Job.

 

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Immer mal wieder fragt mich jemand, ob ich stolz auf mich bin. Als ob es dafür einen Grund gäbe. Ich stehe auf den Schultern derjenigen, die vor mir geforscht haben. Ohne sie wäre ich nur ein Banause. Und außerdem: Kann man stolz auf etwas sein, das einem so viel Freude bereitet und das Leben erst lebenswert macht? Ich liebe nichts auf Erden so sehr wie die Wissenschaft.

Dass ich durch meine Ergebnisse so berühmt geworden bin, war eher hinderlich für meine Forschung in den letzten Jahren. Gut aber, dass ich meinen Bekanntheitsgrad für die Bemühungen um die Völkerverständigung einsetzen konnte. Stolz wäre ich, wenn mir da mehr gelungen wäre. Doch die Dummheit der Menschen ist grenzenlos. Im Gegensatz zum Weltall.

Ich habe in meinem Leben so viele Staatsbürgerschaften gehabt, dabei bin ich im Grunde meines Herzens staatenlos. Wie die Wissenschaft, die keine Nationalitäten kennt. Die Wahrheit in der Natur steht jedem offen, der sie zu erkennen weiß. Egal, ob er schwarz oder weiß ist, ob er Kisuaheli oder Schweizerdeutsch spricht.

Und doch, die Wissenschaft birgt auch Gefahren in sich. Die Büchse der Pandora: Wenn je einer sie zu öffnen imstande ist, dann ein fehlgeleiteter Wissenschaftler. Manche halten das brennende Streichholz viel zu nah an die Zündschnur. Ich habe einige davon kennengelernt, nur war keiner genial genug. Aber auch das könnte nur eine Frage der Zeit sein. Dann Gnade der Menschheit.

 

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Die Jagd ist meine Leidenschaft. Schon immer gewesen. Doch mein Wild hat nur zwei Beine und dazwischen liegt das Ziel meiner Wünsche. Je öfter ich erfolgreich bin, desto stärker die Begierde. Nach neuen Opfern, neuen Sensationen zwischen brünstigen Schenkeln. Ich liebe nichts auf Erden so sehr wie die Frauen. Alle Geheimnisse dieser Welt sind in ihnen verborgen, Verderbtheit und Heiligkeit teilen sich in ihnen einen Wohnraum. Das Paradoxon wurde überall gesucht, dabei haben wir das größte in unserer unmittelbarer Nähe: die Frau. Das ingenium incognitum.

Ich bin ein glühender Verehrer aller Frauen. Gerade komme ich aus Köln, wo ich Mimi von Groote, die Frau des Bürgermeisters, erobert habe. Es hat mich allerdings zwei Monate gekostet, bis die Gelegenheit günstig war, während ich ursprünglich nur einen einzigen Tag dort bleiben wollte. Dafür hat sie mir zwei wunderschöne Nächte geschenkt, die trotz oder eher sogar wegen der ausgestandenen Gefahr immer unvergesslich für mich bleiben werden.
Hässliche Frauen gibt es nicht. Jede hat ihren besonderen Reiz. Schönheit ist es nicht, die ich suche. Der Weg ist das Ziel, auch bei meiner Leidenschaft. Die Eroberung, die Unterwerfung und letztendlich der unvermeidliche Abschied. Noch keine hat mir widerstanden. Und keine konnte mich halten.

 

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Der Papierkorb quillt schon wieder über. Keine Zeile hat Bestand. Das Papier zerknüllen und weg damit! Lieber ein ganzer Arbeitstag ohne Ergebnis als ein schlechter Vers, unter den ich meinen Namen setze. Ich liebe nichts auf Erden so sehr wie das Theater, wie könnte ich da etwas in meinen Augen Minderwertiges dafür schaffen.

Manchmal rast die Feder übers Papier, dann staune ich hinterher über mich selber: Das hast du geschrieben? Diese tiefsinnigen Worte hast du dem Narren in den Mund gelegt? Und dieser König, wie ist er abgrundtief böse! Das sind die guten Tage, von denen ich noch lange zehre, wenn das Ballett der Worte einer unergründlichen Choreografie folgt. Wenn die Tragik des Lebens ihren Ausdruck in den Handlungen eines Verstrickten findet und die Skurrilität des menschlichen Daseins in den Worten eines Hansnarren durchscheint.

Und dann wieder die verfluchten Tage, an denen nichts gelingen will. Jeder Satz eine Katastrophe, banale, flache Gedanken, ungenaue und – noch schlimmer – ungelenke Formulierungen, sprachliche Flatulenz sozusagen. Dann zweifle ich an mir. Wie oft schon glaubte ich, nie mehr eine einzige brauchbare Zeile zu Papier bringen zu können.

Denn wer ertrüge Hohn und Spott der Zeit, des Stolzen Hochmut, die Qual verschmähter Liebe …? Ja, das sind starke Worte. Wie im Rausch habe ich sie geschrieben. Mehr davon! Ans Werk, mein Hirn!

 

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Nie habe ich Zweifel gehabt. Bis jetzt. Im entscheidenden Moment. Ist es wirklich Allahs Wille, den ich erfülle? Allah, ich liebe nichts auf Erden so sehr wie dich. Wenn ich diesen Knopf drücke, hat man mir gesagt, bin ich Sekundenbruchteile später bei dir. Mein Leben hat seinen endgültigen Sinn gefunden. Alle Schmach, die man deinen Dienern angetan hat, wird abgewaschen durch diese Tat. Das Licht deiner Herrlichkeit wird neu erstrahlen und der Menschheit zeigen, dass es neben Allah keinen Gott gibt.

Die Ungläubigen jagen dem Geld hinterher, den Frauen, ihren Eitelkeiten. Und sie schmähen uns, die wahren Gläubigen. Räudige Hunde sind sie, dem Alkohol verfallen und ihren Lastern. Ausmerzen, ausbrennen mit Stumpf und Stil!

Wie konnte ich nur jahrelang selber so leben, ohne Wahrheit und die tiefe Liebe zu Allah? Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Mitten in Europa, auf diesem belebten Bahnhof, direkt neben der Parkuhr. Man wird aufhorchen! Meine Brüder werden jubeln und meine Feinde heulen und wehklagen. Und ich werde eingehen in die Unsterblichkeit. Weg mit den Zweifeln! Es gibt kein Zurück.

 

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Na, du kleines Pummelchen, du Schnäuzelchen! Hast du Hunger, willst du Fresschen? Ich hab da was ganz Leckeres für dich. Komm, spring hoch, dann kannst du es schnappen. Ja, so ist es brav.

Ich weiß noch genau, wie du als kleines Wollknäuel zu mir gekommen bist. Hast gleich auf den Perser gepinkelt, du Schlimmer. Aber natürlich habe ich dir verziehen, als ich zum ersten Mal in deine treuen braunen Augen geschaut habe. So viel Vertrauen, so viel Ergebenheit. Mir wurde ganz warm ums Herz, du hast es entzündet wie ein Streichholz.

Dieser böse Karl-Heinz war ja Gott sei Dank schon fort. Mit ihm hättest du dich nicht verstanden, da bin ich sicher. Hättest ihn auch gerne beißen dürfen. Oder zumindest verbellen. Der hätte das verdient. Da hab ich jedenfalls einen erstklassigen Tausch gemacht. Diesen Idioten und Querulanten in Strumpfhosen gegen dich herzallerliebstes Knuddelchen. Hätte ich dich schon früher gekannt, wäre ich auf diesen Friseur garantiert nicht hereingefallen. Du hättest mich gewarnt. Oder ich hätte es selber gemerkt, jetzt, wo ich weiß, was wahre Liebe ist.

Denn ich liebe nichts auf Erden so sehr wie dich, mein liebes Purzelchen. Wusstest du das schon? Sogar mehr als mein heißgeliebtes Ballett. Ich habe dich sogar in meinem Erbe bedacht. Ja, da staunst du, gell? Für dich wird gesorgt sein, wenn ich vor dir sterben sollte. Sogar eine Parkuhr wirst du haben, an die du pinkeln kannst. Am liebsten wäre mir, wenn wir noch viele Jahre glücklich zusammen leben und dann zusammen gehen. Aber das sind trübsinnige Gedanken, völlig fehl am Platz. Wo wir es doch so gut miteinander haben. Du und ich.

 

 

© Marcel Porta, 2017

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