Von Monika Heil

Ferdinand hatte sie eingeladen.

»Wie schön!« Elvira tänzelte vor Freude in kleinen Trippelschritten durch ihr Wohnzimmer. Immer wieder las sie die wenigen Zeilen.

Abendessen zu zweit, anschließend Staatsoper. Schwanensee. Sie verehrte John Neumeier und liebte seine Ballettinszenierungen seit Jahren. Früher hatte sich ihr Mann um die Karten gekümmert. Gott hab ihn selig. Als der Vorverkauf für Schwanensee begann, hatte sie im Krankenhaus gelegen. Blinddarm. Natürlich war die Vorstellung in kürzester Zeit ausverkauft. Und nun das! Sie konnte Ferdinand Oberländer schon immer recht gut leiden, doch dafür liebte sie ihn regelrecht.

 

Ohne große Aufmerksamkeit ging sie die weitere Post durch. Alles Reklame. Wie immer. Sie setzte sich – wie jeden Montag – an ihren kleinen Schreibtisch und schrieb ihre Wochenlisten.

Zuerst kam der Ablaufplan dran, dann die Einkaufszettel.

 

Montag

Post abwarten, danach Telefonate mit Mutter, Tante Marie, Sabine, Franz – abends Biotonne rausstellen

Dienstag

Volkshochschule, anschließend Mittagessen mit Emmi im Restaurant des Kaufhauses Jänichen, Stadtbücherei

Mittwoch

Fußpflege, Wochenmarkt, Aldi

Donnerstag

Wäsche, Hausputz

Freitag

Getränkelieferant, bügeln, Restmüll und Papiertonne

Samstag

Friseur, baden, Haushaltsbuch auf den neuesten Stand bringen

 

Auch wenn sich selten etwas an dem Geschehen änderte, die Liste schrieb sie jede Woche neu.

´Und abends Oper` setzte sie heute in ihrer schönen Schnörkelschrift auf die letzten Zeile.

 

Für Sonntags verzichtete sie auf Eintragungen. Den Tag hielt sie sich frei von Terminen. War das Wetter schön und lud zum Spaziergang ein, fuhr Elvira mit ihrem kleinen Auto hinaus an die Elbe. Dann machte sie den Möwen die weiße Sitzbank streitig, hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne und war glücklich. Einfach nur glücklich. Bei schlechtem Wetter las sie, gemütlich in ihrem Lieblingssessel sitzend, spannende Familien- oder Liebesromane. Das Angebot der Stadtbücherei war unerschöpflich. Dazu trank sie ihren Früchtetee aus eigener Herstellung.

 

Auch diese Woche lief anfangs alles nach Plan. Emmi, mit der Elvira seit Jahren in der Volkshochschule ´Computerwissen für Senioren` erlernte, traf sie am Dienstag. Bei Spaghetti carbonara freuten sie sich gemeinsam über das bevorstehende Ereignis.

 

Am Mittwoch wich Elvira, zum ersten Mal seit langem, von ihren Gewohnheiten ab. Zunächst verlief der Vormittag wie gewohnt. Die Einkäufe auf dem Wochenmarkt waren schnell erledigt. Drei Äpfel, ein Pfund Kartoffeln, ein Bund Radieschen. Im Supermarkt Butter, abgepackter Käse und Joghurt. Sie trug ihre Einkäufe auf frisch gepflegten Füßen und gut gelaunt zum Auto und verstaute ihren Korb im Kofferraum. Noch mit der Hand an der geöffneten Klappe entschied sie, nicht sofort nach Hause zu fahren. Sie hatte keine Tiefkühlkost eingekauft. Die Lebensmittel würden es eine Stunde hier aushalten. Es herrschten nur zehn Grad Celsius an diesem Morgen. Obwohl sie wusste, dass es verboten war, fütterte sie die Parkuhr mit einem weiteren Euro, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keine Politesse in der Nähe war, die sie dabei beobachten konnte.

 

Kurz darauf bummelte sie durch die Fußgängerzone und beschloss, heute ein bisschen leichtsinnig zu sein. Wann hatte sie das letzte Mal ein Kleid gekauft? Seit ihr Mann nicht mehr lebte, keines. Sie fand ein wunderbares graues Seidenkleid mit Jacke, das knieumspielend ihre noch immer schönen Beine zeigte.

»Sie haben eine Strumpfhose in der passenden Farbe?«, erkundigte sich die Verkäuferin.

»Wieso, gehen die nicht?«, fragte Elvira irritiert.

»Ich würde hellgraue Seide mit Perlglanz wählen.«

Die junge Frau zog drei Packungen in abgestuften Farbvarianten aus dem Regal und präsentierte sie der Kundin.

»Wenn schon, denn schon«, schmunzelte Elvira, als sie die Preise registrierte und entschied sich für den mittleren Ton.

Am Abend probierte sie ihr schickes neues Ensemble an, öffnete eine Piccolo, legte Mozart auf und träumte. Von John Neumeier und Ferdinand Oberländer.

 

Der Donnerstag verlief wie gewohnt.

Am Freitag klingelte, wie immer, gegen zehn Uhr der Getränkelieferant. Doch heute stand nicht Werner Roth vor der Tür, sondern ein junger Mann, der sich mit: »Fred Walter Labandt, Krankheitsvertretung«, vorstellte und vorschlug: »Sagen Sie einfach Freddy zu mir.«

Während er die beiden Kisten Mineralwasser in Elviras Keller trug, stellte sie die vorbereitete Kaffeemaschine an, verteilte vier Schokoplätzchen in zwei kleine Schälchen, stellte Milch und Zucker bereit und holte ihr Portemonnaie. Eine Viertelstunde Plauderpause. Heute nicht mit dem gleichaltrigen Werner Roth, mit dem es immer Gesprächsstoff gab über Gott, die Welt und die Nachbarn. Auch Freddy Labandt mochte offensichtlich ihren Kaffee. Das Geld lag abgezählt auf dem Tisch.

 

»Hätten Sie bitte einen Aschenbecher für mich?«, fragte der junge Mann, während er eine Zigarette aus der Packung fummelte.

»Ach, Sie rauchen?« Elvira zog eine Augenbraue in die Höhe und signalisierte so ihr Unverständnis. Nichtsdestotrotz ging sie vor dem Nussbaumschrank in die Hocke und angelte aus dem Fach ganz hinten links den Aschenbecher ihres verstorbenen Mannes.

»Das sollten Sie sich aber ganz schnell abgewöhnen«, mahnte sie.

»Habe ich auch vor. Ganz sicher«, versprach Freddy eilig und zog genüsslich den Rauch ein. »Es ist nur so: ich bin morgen bei meiner Freundin eingeladen. Zum ersten Mal. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Das macht mich ganz nervös«, versuchte er eine Erklärung.

»Ich habe auch etwas Schönes vor«, erzählte Elvira. »Ich gehe mit einem Bekannten essen und dann ins Ballett.«

»Klingt gut.«

»Und der hat zum Glück keine Eltern mehr.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen. Auch Freddy musste lachen. Eine Viertelstunde später verabschiedete er sich.

»Danke für den Kaffee. Hat gut geschmeckt. Ich denke, nächste Woche genießt ihn Werner wieder. Viel Spaß in der Oper. Und tschüss!« Weg war er.

 

Elvira räumte das Geschirr in die Küche und öffnete schnell das Fenster, damit sich der kalte Rauch nicht im Zimmer festsetzte. Jetzt hat er seine Streichhölzer liegen lassen, stellte sie fest. Neugierig las sie die Werbung – Blumenhaus Siebenschön. Na, dieser Freddy scheint zu wissen, was sich gehört, ging ihr flüchtig durch den Kopf. Und er ist Linkshänder, stellte sie ganz nebenbei fest. Ich würde das rechte Streichholz abziehen.

 

Am Samstag verlegte sie ihr Baderitual ausnahmsweise auf den frühen Morgen. Und heute gab es nicht Fichtennadel, sondern beauty of Hawaii, ein Geschenk ihres Mannes zu ihrem Sechzigsten, nur einen Monat vor seinem plötzlichen Herztod. Und die teure Avocado-Öl-Lotion, die sie sich irgendwann selbst geleistet hatte. Ihre Friseuse erwartete sie – wie gewohnt – um elf.

 

Während Elvira mit Frau Seedorf erst über das holländische, dann über das schwedische Königshaus plauderte, beschloss sie spontan, das Frühlingsangebot von Douglas auszuprobieren und sich das große Abend-Make-up zu gönnen. Wenn schon, denn schon, dachte sie nicht zum ersten Mal.

»Das ist eine gute Idee«, pflichtete ihr die Friseuse bei, als sie beim Bezahlen ihren Plan erwähnte. »Man gönnt sich ja sonst nichts, oder?« Er lachte verschwörerisch.

»Sie sagen es«, nickte Elvira und verließ bestens gelaunt den Salon in Richtung Drogerie.

 

Ferdinand klingelte pünktlich zur verabredeten Zeit, überreichte ihr fünf gelbe Rosen, machte Komplimente über ihr jugendliches Aussehen und trank den angebotenen Apfelsecco. Eine halbe Stunde später verließen sie gemeinsam ihre Wohnung. Der Abend gestaltete sich genau so, wie sie ihn sich in ihren Träumen ausgemalt hatte. Ferdinand begleitete sie nach Hause.

»Magst du noch einen Kaffee?«, fragte sie und schaute ihn erwartungsvoll an. Er mochte. In ihrem Bauch spürte sie die Flügel von hundert Schmetterlingen, von denen sie gar nicht wusste, dass sie noch lebten.

 

Das böse Erwachen kam, als sie die aufgebrochene Wohnungstür entdeckten. Die herbeigerufene Polizei tat ihr Bestes. Einen – vielleicht d e n  entscheidenden –  Tipp konnte Elvira beisteuern, als sie auf dem Fußboden im Schlafzimmer ein Streichholzbriefchen entdeckte. Es war dem Einbrecher offenbar unbemerkt aus der Tasche gerutscht. Es hatte zwar keinen Werbeaufdruck, doch es fehlten drei Streichhölzer – Alle links.

 

Version 3