Von Sonja Schirdewan

Nachdenklich steht sie draußen an der Straße bei der Parkuhr. Sie sieht hinauf zu dem imposanten Gebäude und fragt sich zum wiederholten Male, wie sie endlich aus dieser Sache heraus kommt.

Sie hasste es, hatte es schon immer gehasst. Das Mädchen weiß, dass seine Mutter ihm unbewusst die Schuld daran gibt, dass sie damals ihre Schuhe an den Nagel hängen musste. Als hätte sie sich ausgesucht, geboren zu werden. Ganz bestimmt nicht – in eine so kaputte Welt.

Sie hasste es, hatte es schon immer gehasst, wie ihre Mutter sie dauernd in diese engen unbequemen Strumpfhosen gezwängt hatte. Sie war noch nie eins dieser braven Mädchen gewesen, die gern Röckchen trugen, artig auf der Couch saßen und beim Teetrinken gesittet den kleinen Finger abspreizten. Viel lieber tobte sie draußen mit den Nachbarskindern herum, kletterte auf Bäume und schürfte sich auch schon mal die Knie auf. So manche harte Ohrfeige hatte sie dafür von ihrer Mutter kassiert, für zerrissene Kleider, zerzauste Haare und blaue Flecken.   

Sie hasste es, hatte es schon immer gehasst. Die dauernden Besuche beim Friseur seit frühester Kindheit. Sie erinnert sich noch gut an die ständigen Ermahnungen ihrer Mutter, doch endlich still zu sitzen, während die Friseurin ihr die Haare aufdrehte. Sie sollte immer perfekt aussehen, blonde Puppenlöckchen und ab ihrem fünften Lebensjahr auch Makeup, den widerlichen Lippenstift hatte sie sich immer wieder abgewischt, sobald ihre Mutter kurz wegsah. Dafür bekam sie dann zwar keine Dresche, sondern Zusatztraining aufgebrummt. Bis ihr das Blut aus den Schuhen lief. Wie gern würde sie doch mal wie andere Mädchen luftige Sandalen tragen bei diesem schönen Wetter. Doch mit ihren schwieligen, blutverkrusteten Füßen mit den ewig kaputten Nägeln sähe das nicht besonders schön aus.

Oh, wie sehr sie es hasste, es schon immer gehasst hatte. Tüll, Schminke, Schmerzen – die rosa Welt des Balletts. Ihre Freundinnen hatten längst alle schon den zweiten, wenn nicht sogar dritten Freund, doch sie… Ihr durchstrukturierter Trainingsplan lässt ihr keine freie Minute, neben ihrer Ausbildung und dem Sport hat sie einfach keine Zeit für so etwas, für ihre Mutter auch völlig Nebensächliches. Sie predigt jedes Mal, dass sie sich auf keinen Fall von ihrer Karriere ablenken lassen darf, schon gar nicht von einem Jungen. Dass sie selbst vor 18 Jahren diesen Fehler begangen hat und danach heiraten musste. Mit einem Kind am Hals, das ihr zu allem Überfluss auch die gertenschlanke Figur ruiniert hatte. Jedes Mal, wenn ihre Mutter so mit ihr spricht, sticht es sie mitten ins Herz und sie vermisst ihren Vater. Er hatte die Kälte seiner Frau schon lange nicht mehr ausgehalten und vor geraumer Zeit bereits die Flucht ergriffen. Mit ihm zusammen hatte sie früher immer das Gefühl, willkommen zu sein, geborgen, dann war er fort. Danach erst war es mit ihrer Mutter richtig schlimm geworden, sie hatte den Schmerz über die Trennung kompensiert, indem sie nun völlig die Kontrolle über das Leben ihrer Tochter übernahm und es ihr damit zur Hölle machte.  

Noch immer steht sie draußen vor dem großen Portal an der stark befahrenen Straße. Eigentlich braucht sie nur ein paar beherzte Schritte Richtung Fahrbahn zu machen. So schnell wie hier alle fahren, wäre niemand in der Lage, rechtzeitig zu bremsen und sie hätte ihren Ausweg gefunden. Eigentlich sollte sie schon längst drinnen sein, ihre Mutter sitzt wahrscheinlich bereits auf der Bank. Rasend vor Wut, weil ihre Tochter sich mal wieder verspätet. Im Gegensatz zu den gewissenhaften Ballerinen im Ensemble, die wahrscheinlich gerade dabei sind, sich zu dehnen und warm zu machen. Na ja, die ein oder andere hängt vielleicht auch gerade über der Toilette, weil sie heute Morgen auf der Waage ein Gramm oder zwei zu viel angezeigt bekommen hat.

Auch das hasst sie, die ewige Disziplin. Die ständigen Kommentare der anderen Mädchen in der Umkleide, der Trainerin, ihrer Mutter, weil sie es nicht schafft, sich bei ihren 1,65 m Größe auf 40 kg herunter zu hungern. Sie sei fett, sie würde sich gehen lassen, sie müsse abnehmen, auf jeden Fall eine Diät machen.

Der große Auftritt steht kurz bevor, deswegen findet die Generalprobe hier im muffigen ehrwürdigen Theater statt. Muffig, staubig, alt.

Ein plötzlicher Gedanke heitert ihre Stimmung etwas auf. Da drinnen ist alles so alt, trocken und staubig, dass ein einzelnes Streichholz genügen würde, um den Kasten in  Brand zu stecken. Ein einzelnes Streichholz und alles ginge in Flammen auf, die Tänzerinnen, ihre Mutter, ihr ganzes bisheriges Dasein. Sie hätte endlich die Chance auf einen Neustart, ein ganz anderes Leben, eines, das sie sich selbst aussuchen könnte, selbstbestimmt. Unwillkürlich muss sie lächeln. Sie sieht hoch zu den breiten Fenstern. Sie kennt sich in dem Gebäude aus, weiß, wo sich die Notausgänge befinden und wie sie diese verbarrikadieren könnte. Sie müsste den Staub, der sich über Jahrzehnte hinweg durch die Arbeiten an den Holz-Kulissen und Papp-Bühnenbildern gesammelt hat etwas aufwirbeln. Kein Problem, dafür bräuchte sie nur die alten schweren Vorhänge etwas aufzuschütteln. Und dann, wenn sich alle auf die Probe auf der Bühne konzentrieren, fliegt das Streichholz in die Mischung aus Sauerstoff und Holz- bzw Cellulose Partikeln… Und dann: Boom! Natürlich musste sie vorsichtig sein, weit genug wegbleiben von der Explosion und schleunigst den Rückzug antreten durch den selbstverständlich einzigen noch offenen Ausweg. Bevor überhaupt jemand mitbekäme, was hier vor sich geht, hätte sich die trockene Holzverkleidung endgültig entzündet und selbst, wenn jemand noch die Geistesgegenwart besäße, zu den Feuerlöschern zu greifen, wäre da kein Rankommen mehr, dafür würde sie gesorgt haben. Während sie also draußen stände, mit bestem Blick von der anderen Straßenseite aus, würden sich drinnen die Flammen ausbreiten, die Wände hinauf züngeln. Giftiger Rauch breitete sich aus, Kohlendioxid nähme allen Anwesenden die Luft zum Atmen, sie erstickten langsam und qualvoll.

Nein, das wäre zu gnädig, brennen sollen sie, brennen wie der Hass in ihrem eigenen Herzen, so schmerzvoll und unausweichlich. Es sollten nachher lediglich schwarz verkohlte Überreste übrig bleiben von allen, die ihr jemals wehgetan hatten. Zusammen gekrümmte Leichname, die höchstens  anhand ihrer DNS oder Zahnunterlagen zu identifizieren wären. Sie stellte sich mit einem harten Lächeln im Gesicht vor, wie es ein paar Tänzerinnen vielleicht doch geschafft hatten, der Flammenhölle im großen Theatersaal zu entkommen und nun angsterfüllt im Foyer an den Fensterscheiben festsaßen, panisch dagegen hämmernd mit einem letzten Hoffnungsschimmer auf Rettung. Wie sie sie auf der anderen Seite entdecken und um Hilfe rufen würden, bis sie nichts weiter als ein leises Krächzen hervorbrächten. Während sie diesem faszinierenden Schauspiel zusehen und den anderen Ballerinen und vor allem ihrer Mutter zuwinken würde. Nachher bei den Autopsien sollte man feststellen, dass sie bis zum letzten Atemzug so verzweifelt geschrien hatten, dass ihre Lungen von innen verbrannt wären.

Sie seufzt resigniert, kramt nach den Bandagen, mit denen sie gleich ihre Zehen umwickeln wird, um ihre Füße in die engen Ballettschuhe zu zwingen. Eine immer wieder schmerzhafte Tortur. Dann steigt sie die alten ausgetretenen Steinstufen bis zu dem beeindruckenden Portal hinauf.