Von Vanessa Krust

Mit eiligen Schritten haste ich durch die Bahnhofshalle, während ich in der einen Hand meinen überladenen Jutebeutel trage und in der anderen Hand eine Box Nudeln vom Chinaimbiss, aus der ich mir im Laufen mühselig Gabel für Gabel in den Mund schaufle. Ich bin mal wieder spät dran und ausgerechnet heute haben sich die netten Damen vom Imbiss beim Zubereiten des Essens besonders viel Zeit gelassen. Seit ich zwischen München und Oberammergau pendle, bin ich eigentlich konstant spät dran und immer im Stress. Ich beeile mich, um rechtzeitig am Gleis zu sein und meinen Zug in die Heimat zu erwischen. Dabei nehme auch ich nicht viel von meiner Umgebung war. Das liegt daran, dass ich wie jeder hier nur mein Ziel im Blick habe und dabei das Drumherum vollkommen ausblende. Heute ist es jedoch anders. Ich quetsche mich gerade an einem Renterpärchen vorbei, als ich IHN entdecke. Im Chaos des Bahnhofs sticht er hervor wie eine Leuchtreklame und zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Das erste, was mir an ihm auffällt, sind seine hellblauen Augen, die so strahlend hell sind, dass sie dem Himmel am schönsten Sommertag Konkurrenz machen könnten. Sie haben ihren Platz in einem markanten Gesicht mit einer scharf ausgeprägten Kieferpartie, die ein leichter Bartschatten ziert. Sein großer, offensichtlich muskulöser Körper steckt in einem dunkelblauen Anzug. Aber was mich am meisten in seinen Bann zieht, ist der Blick, den er mir aus seinen wunderschönen Augen schenkt. Es kommt mir vor, als ob dieser forschende Blick bis auf den Grund meiner Seele schauen kann. Unser Blickkontakt kommt mir vor wie eine kleine Ewigkeit, obwohl nur Sekunden vergangen sein müssen, denn schon sind wir aneinander vorbeigelaufen. Es bereitet mir beinahe körperliche Schmerzen, ihn nicht mehr anschauen zu können. Es ist, als wäre er ein Magnet und ich sein verdammter Gegenpol, sodass ich mich ohne mein aktives Zutun im Laufen umdrehe, um noch einen Blick auf ihn erhaschen zu können. Ich entdecke seinen braunen Schopf in der Menschenmasse und kann beobachten, wie er sich weiter von mir entfernt, als ein stumpfer Knall ertönt. Im gleichen Moment zieht ein scharfer Schmerz von meinem unteren Rückenbereich Richtung Schultern und ich stöhne gequält auf.

“Passen sie doch auf!“ faucht eine weibliche Stimme wütend und ich zucke erschrocken zusammen. “Tut… tut mir leid…“ stottere ich eine lahme Entschuldigung zu der Frau, in die ich hineingerannt bin. Sie ignoriert mich jedoch einfach und zischt vor sich hin murmelnd davon. Mich lässt sie zurück, inmitten all dieser Menschen auf dem schmerzenden Hinterteil sitzend und völlig desillusioniert. Jetzt müssen alle um mich herum eiern und ich verdrehe innerlich die Augen, weil das mal wieder eine absolut typische Aktion von mir ist. Ich bin gerade dabei, mich mühsam aufzurappeln, als ich unerwartet Hilfe von zwei starken Händen bekomme, die mich an den Armen fassen und mir beim Aufstehen helfen. Verwirrt sehe ich auf und blicke in ein Paar hellblauer Augen.
“Ist alles in Ordnung bei ihnen? Haben sie sich verletzt?“ fragt mich mein neues Gegenüber und mustert mich besorgt. Ich bin erst nicht in der Lage, ihm zu antworten, denn vor mir steht niemand anderes als der Mann mit den wunderschönen Augen und dem durchdringenden Blick.
“Ja… ja, alles ok…“ stottere ich dann etwas unbeholfen, denn seine Anwesenheit macht mich furchtbar nervös. Das Lächeln, dass er mir kurz darauf schenkt, lässt meinen Magen Purzelbäume schlagen.
“Ihre Nudeln können sie wohl leider vergessen.“ sagt er dann, woraufhin ich ihn nur verwirrt anschaue. “Nudeln?“ wiederhole ich und weiß nicht, worauf er hinauswill. Er grinst erneut und deutet dabei auf den Fußboden. Ich folge seinem Blick und erkenne jetzt auch, was er meint. Bei meinem Zusammenstoß mit der Frau ist mir meine Box vom Chinesen runtergefallen und deren Inhalt hat sich jetzt auf dem Boden der Bahnhofshalle verteilt. Peinlich berührt kann ich förmlich spüren, wie ich rot anlaufe. Mist, sowas kann auch nur mir passieren. Ich will gerade ansetzen, mich bei ihm für seine Hilfe zu bedanken und dann so schnell wie möglich zu verschwinden, als er beginnt, zu sprechen.
“Was halten sie davon, wenn ich sie auf eine neue Portion Nudeln einlade?“
“Sie wollen Nudeln essen? Mit mir?“ wiederhole ich irritiert, da ich das gar nicht glauben kann. Er nickt, als wäre das selbstverständlich. Dabei ist es das nicht. Männer wie er – offensichtlich erfolgreich, denn sein Anzug sieht wirklich sündhaft teuer aus – gehen normalerweise nicht mit Frauen wie mir aus. Ich meine, ich muss neben ihm wirklich ein seltsames Bild abgeben. Er im Anzug und mit perfekt sitzender Frisur. Ich in schwarzer, ausgewaschener Jeans und einer Jeansjacke, die von jeder Menge Löcher geziert wird und unordentlicher Frisur. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, weshalb er ausgerechnet mit MIR essen will. Wenn auch nur Nudeln in einem Chinaimbiss. Weshalb hat er überhaupt Zeit, wir waren doch in einem Bahnhof, da hatte niemand Zeit … Zeit! Verdammt! Das hatte ich ja ganz vergessen! “Shit, ich muss zum Zug!“ fluche ich. Ich will gerade loshetzen, als mein Gegenüber mich am Arm festhält. Er sieht mich bittend an. “Und die Nudeln? Sie können doch nicht hungrig in den Zug steigen!“ Er sieht mich dabei mit großen Augen an, sodass ich nach einem Moment seufzend nachgebe.
“Okay, gehen wir Nudeln essen!“ antworte ich, auch wenn ich mir nicht so sicher bin, ob das eine gute Idee ist. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein breites Grinsen ab. “Super, das freut mich!“ Kaum hat er das gesagt, setzt er sich auch schon in Bewegung.
Als wir endlich am Chinaimbiss meines Vertrauens angekommen sind, erkundigt er sich höflich nach meinen Essenswünschen. Wir sitzen nur kurz darauf an einem Tisch mit unseren dampfenden Tellern vor uns. Er beginnt, sich seine Nudeln genüsslich in den Mund zu schieben. Ich schiebe meine nur auf dem Teller hin und her, viel zu abgelenkt bin ich von seiner Art und Weise zu essen. Wir essen eine Weile schweigend, bis ich es vor Anspannung nicht mehr aushalte.
“Sag mal, wieso isst du eigentlich mit mir?“ platzt es aus mir heraus. Dass ich ihn geduzt habe, fällt mir viel zu spät auf. Nun ist er an der Reihe, mich verwirrt anzuschauen.
“Wie meinst du das?“ hackt er nach, und greift das “Du“ auf. Ich zucke mit den Schultern.
“Naja, ich meine, musst du nicht irgendwo hin? Zum Zug oder so? Oder hast du nicht etwas Besseres zu tun, als mit jemanden wie mir in einem mittelmäßigen Chinaimbiss viel zu fettige Nudeln zu essen?“ versuche ich ihm die Fragezeichen in meinen Gedanken mitzuteilen.
“Jemanden wie dir?“ wiederholt er und ich nicke. “Naja, Leute wie du verkehren eben normal nicht mit Leuten wie mir…“ erkläre ich.
“Soso, sie verkehren als nicht mit dir. Interessant.“ Er schenkt mir ein spitzbübisches Grinsen und ich verdrehe die Augen über seine Zweideutigkeit. Typisch Mann. Er wird dann aber schlagartig ernst. “Ehrlich gesagt, bin ich wirklich froh darüber, hier mit jemanden wie dir zu sitzen und viel zu fettige Nudeln zu essen.“ erklärt er und greift meine Wortwahl auf.
“Aber warum?“ hacke ich nach und könnte mich kurz darauf selber ohrfeigen, noch weiter darauf herumzureiten.
“Du bist eine tolle Frau. Das habe ich gleich im ersten Moment erkannt, als ich dich gesehen habe. Weißt du, es ist in der heutigen Zeit schwer, jemanden zu finden, der ehrlich und nicht nur auf seinen eigenen Profit bedacht ist. Als ich dich gesehen habe, da wusste ich sofort, dass du nicht so bist. Du bist jemand, der ehrlich ist und seinen Weg geht. Und ich habe das dringende Bedürfnis, herausfinden, ob meine Vermutungen stimmen und wie viel mehr sich noch hinter dieser Frau verbirgt, die gerade so entzückend rot anläuft.“ Antwortet er. Entsetzt von seinen letzten Worten fasse ich mir an die Wangen, die tatsächlich glühen.
Ich kann nicht fassen, was er da gerade zu mir gesagt hat. Er kennt mich doch gar nicht und doch hat er Dinge aufgezählt, mit denen er gar nicht so Unrecht hat. Trotzdem fürchte ich, dass ich ihn enttäuschen muss. So wie er mich beschreibt, bin ich gar nicht. Aber das kann er nicht wissen. Und ich werde es ihm nicht sagen, denn es fühlt sich viel zu gut an, endlich einmal von jemanden wahrgenommen zu werden.
„Danke.“ antworte ich. “Zu mir hat noch nie jemand so schöne Sachen gesagt wie du gerade.“ Die letzten Worte flüstere ich eher, als das ich sie laut ausspreche und starre dabei auf meinen immer noch fast vollen Teller. Er beugt sich erneut vor und hebt mit einem Finger mein Kinn an, sodass ich ihm in seine schönen Augen sehen muss. “Wenn du mich fragst, hast du es verdient, jeden Tag weit mehr schöne Worte gesagt zu bekommen.“ sagt er mit heiserer Stimme. Ich schlucke. Die Spannung, die sich innerhalb dieses kurzen Moments der Berührung und des Blickkontakts zwischen uns aufgebaut hat, ist beinahe unerträglich.
Wie aus dem Nichts sagt er plötzlich: “Leider muss ich jetzt los, mein Zug wartet. Es hat mich wirklich sehr gefreut, mit dir fettige Nudeln im mittelmäßigen Chinaimbiss essen zu dürfen.“ Er zwinkert mir zu und grinst. “Ich hoffe, wir können das wiederholen. Also, ich meine das Essen im Allgemeinen, also, so als ein richtiges Date vielleicht…“ Ich starre ihn an. Tatsächlich ist er, der bisher eigentlich dauerhaft sehr selbstbewusst aufgetreten ist, jetzt unsicher. Er fährt sich nervös mit einer Hand durch seine Haare, die ihm jetzt wirrer als zuvor vom Kopf abstehen. Er sieht so süß aus! Kurzentschlossen erhebe ich mich ebenfalls, umrunde den Tisch und stelle mich direkt vor ihn. Ich muss mich auf die Zehnspitzen stellen, um einigermaßen mit ihm auf gleicher Höhe zu sein. Dann flüstere ich: “Ich würde sehr gerne zu einem Date mit dir gehen. Einem richtigen.“ Ehe ich kneifen kann, drücke ich ihm hastig einen Kuss auf die Wange. Er lächelt er mich an. “Ich freue mich wirklich sehr darauf, dich wiederzusehen.“ sagt er. “Ich mich auch.“ entgegne ich. Wie sehr kann er sich gar nicht vorstellen