Von Nadja Buschmeyer

Ich war zu früh. Sogar viel zu früh, aber besser zu früh, als zu spät, dachte ich. Immerhin blieb mir so noch etwas Zeit, um in mich zu gehen, mich auf unser Treffen einzustimmen.

 

Der Kellner kam, kaum hatte ich Platz genommen in einem der zum Marktplatz ausgerichteten Korbstühle. Ich bestellte einen Milchkaffee. Dann zog ich das Smartphone aus meiner Tasche, wischte über das Display. Keine neuen Nachrichten. Was hatte nochmal bei Kai gestanden? Da war doch dieses Zitat, das mich so neugierig gemacht hatte …

 

Ich berührte die App auf meinem Handy. Da, Kais Profil. Und das Zitat: „Everything will be okay in the end. And if it’s not, it’s not the end.“

Spannend. Sein Lieblingszitat, wie er mir geschrieben hatte. Es verriet viel über seine Lebensweise, seine Art zu Denken. Optimismus ist nicht jedem in die Wiege gelegt.

 

Dabei war eine positive Lebenseinstellung wichtig, geradezu essentiell. Wie konnte man eine Beziehung erwägen mit jemandem, der nicht positiv in die Zukunft blickte?

 

Natürlich, das Leben gab einem schon genug Anlass zu trauern, aber musste man sich da reinsteigern?

 

Erneut überflog ich Kais Profiltext. Kurz und knapp.

 

„Ich würde mich als einen Mann in den besten Jahren bezeichnen, humorvoll und gebildet, auch Stil und Niveau sind mir nicht fremd. Meine Freunde würden mich als hilfsbereit und sozial bezeichnen.“

 

Er hätte noch mehr über sich verraten können, aber gerade diese Knappheit symbolisierte doch den Blick aufs Wesentliche, aufs Essentielle. Genau so hatte ich mir den perfekten Mann vorgestellt: attraktiv, witzig, klug, niveauvoll, hilfsbereit. Eben auf eine ganz eigene Art und Weise bodenständig.

 

Gut, das Wort „attraktiv“ hatte er so nicht benutzt, aber das wäre ja auch vermessen. Dafür war er „in den besten Jahren“, wie er schrieb und ein Blick auf die Altersangabe verriet, dass das wohl 42 sein musste. Wobei: Konnte man 42 wirklich als „in den besten Jahren“ bezeichnen?

 

42 war nicht schlecht, sicher nicht, aber für Einiges auch wieder zu spät. Kinder, zum Beispiel. Würde ich Kinder haben wollen mit einem Mann, der schon 42 war?

 

Ich war 33 und somit noch im grünen Bereich, selbst wenn man davon ausging, dass eine Hochzeit frühestens in zwei Jahren stattfinden würde. Dann wäre Kai 44. Bis das Kind da wäre, 45. Wenn alles auf Anhieb klappte. Im besten Fall wäre er also 63, wenn unser Erstgeborener volljährig würde. 63, also kurz vor der Rente, ein Alter, in dem andere schon Enkelkinder haben.

 

Dabei sollte es natürlich nicht bei einem Kind bleiben, ein Einzelkind wollte ich auf gar keinen Fall riskieren. An meiner Schwester konnte ich sehen, was mit Einzelkindern passierte. Nie konnten sie sich allein beschäftigten, völlig fixiert auf ihre Mütter, denen sie nicht fünf Minuten Ruhe gönnten.

 

Und egoistisch bis zum Äußersten. Nein, auf gar keinen Fall würde ich ein Einzelkind großziehen! Also zwei Kinder. Drei waren zu viel, und zu dritt spielte es sich auch schlecht. Zwei Kinder im Abstand von zwei Jahren waren ideal. Kai wäre also 65, wenn das Zweitgeborene volljährig würde.

Beunruhigt wischte ich über das Display. 65 war natürlich schon sehr alt. Nicht wenige erlitten noch vor der 65 einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall und dann wäre ich mit einem Mal alleinerziehende Mutter von zwei Kindern! Kaum auszudenken, wie ich das schaffen sollte. Oder, noch schlimmer: Kai würde zum Pflegefall und ich hätte plötzlich zwei Kinder plus einen schwerbehinderten Ehemann, um die ich mich zu kümmern hatte!

 

So langsam fing ich an zu schwitzen. Vielleicht war die Sache mit Kai doch keine gute Idee.

 

Ich überflog noch einmal das Profil. Ah, da, Kais Hobbys. Lesen, Musik hören, Sport.

Sport verringere das Schlaganfallrisiko, das hatte ich mal in der Apotheken-Umschau gelesen. Das eines Herzinfarkts ebenso.

 

Erleichtert überlegte ich, was für Sportarten Kai wohl betreiben würde.

Fußball vielleicht. Das wäre typisch für Männer. Ein paar meiner Kollegen spielten ebenfalls. Jochen, zum Beispiel. Naja, momentan spielte er nicht, Zwangspause, Knie kaputt. Ob das am Fußball lag? Ich hatte schon von Spielern gehört, die durch einen unglücklich gelandeten Kopfball einem Schädel-Hirn-Trauma erlegen waren, was zu einer gefährlichen Hirnblutung oder -schwellung führen konnte, die wiederum im schlimmsten Fall zu einem Schlaganfall führte …

 

Auch beim Sport musste man also genau prüfen, welche Art der Betätigung man sich aussuchte. Aber vielleicht ließ Kai ja mit sich reden. Man konnte schließlich auch ohne Risiken gesund bleiben, zum Beispiel, indem man spazieren ging. Jeden Tag eine Stunde oder zumindest eine halbe. Ein strammer Spaziergang von nur 30 Minuten verbessere Gesundheit, Leistungsfähigkeit und das persönliche Wohlbefinden, auch das hatte ich irgendwo gelesen. Und das wäre natürlich eine Sache, die wir gemeinsam machen könnten, die gesamte Familie, was wiederum den familiären Zusammenhalt stärkte.

 

Mein Blick fiel auf meine Armbanduhr. Nur noch fünf Minuten. Überpünktlich war Kai zumindest nicht. Ich war ja lieber zu früh dran, als zu spät. Aber solange er pünktlich war, sollte es mir egal sein.

 

In meinem Kopf ging ich die Punkte durch, über die wir reden konnten. Ich wusste kaum etwas über Kai, zwei, drei Nachrichten hatten wir miteinander gewechselt, dann kam die Idee zum Treffen, relativ spontan.

 

Sein Musikgeschmack würde mich interessieren. Ob er deutsche Popmusik ebenso liebte wie ich? Hauptsache, nicht dieses elektronische Technogedüdel, das war so gar nichts für mich. Das konnte er sich alleine anhören oder notfalls über Kopfhörer, damit ich den Lärm nicht mitanhören musste.

 

Und Literatur? Was würde Kai wohl lesen?

 

Ich hatte keine Ahnung. Ich las am liebsten Hera Lind, aber das war natürlich Literatur für Frauen und niemals wäre ich auf die Idee gekommen, Kai meinen Literaturgeschmack aufbürden zu wollen. Er durfte lesen, was er wollte. Solange es nichts Verwerfliches war. Pornographie zum Beispiel, da gab es ja die dollsten Sachen, sogar in gedruckter Form!

 

Eine Minute noch. Eigentlich hätte ich Kai schon von Weitem sehen müssen. Aber nichts, niemand, der in schnellen Schritten auf mich oder das Café zueilte. Er würde sich verspäten. Na, das war ja ein guter Anfang …

 

Das Profilbild stach mir ins Auge. Ich mochte Schwarzweißfotos, sie haben einen künstlerischen Anspruch. Alles wirkte gleich viel edler, gehaltvoller. Die makellos weißen Zähne bildeten einen scharfen Kontrast zu den vollen, dunkelgrauen Lippen. Irgendwie begehrenswert. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, sie küssen zu wollen. Zusammen mit der verspiegelten Sonnenbrille ergab sich ein lässiges Aussehen, spitzbübisch und attraktiv.

 

Aber, wenn schon ich ihn für begehrenswert hielt, wie musste es dann erst anderen Frauen ergehen? Gelegenheit macht Diebe, über 50% aller Männer gehen fremd, das war statistisch erwiesen. Würde ich das tatsächlich durchstehen können, könnte ich mich dem tagtäglichen Konkurrenzkampf stellen, ihn jeden Tag ruhigen Gewissens zur Arbeit gehen lassen, ohne genau zu wissen, was er gerade tat oder mit wem? Würde ich das nötige Vertrauen zu ihm überhaupt aufbauen können oder würde ich eines Tages an der Vorstellung zerbrechen, dass er vielleicht gar nicht zu einer Fortbildung nach München oder Berlin musste, sondern sich insgeheim zu einem Schäferstündchen in einem anonymen Hotelzimmer traf? Es wäre ohne Frage sehr harte Arbeit, mich von seiner Loyalität und Treue zu überzeugen. Einfach zu haben war ich wirklich nicht, ich hatte schon auch meine Ehre …

 

Vier Minuten. Ganze vier Minuten war Kai schon zu spät. Das erste Date und schon zeigte er sich von seiner schlechtesten Seite. Unpünktlich und unzuverlässig. Und er war nicht einmal in Sichtweite.

 

Das Smartphone vibrierte in meiner Hand. „Sorry, stand im Stau. Gerade geparkt, bin in fünf Minuten da.“

 

Ich starrte auf das Display, analysierte jedes seiner Worte. Hätte er wirklich und leibhaftig im Stau gestanden, dann wäre es ihm doch ein Leichtes gewesen, mich in dem Moment darüber zu informieren, in dem er sowieso nichts anderes zu tun hatte, als darauf zu warten, dass der Verkehr wieder floss. Zweifellos hätte er mir eine kurze Nachricht zukommen lassen müssen oder zumindest einen Anruf, aber nein, nichts.

 

Erst jetzt, wo er eh schon im Verzug war, schickte er sich an, sich mit seinem Lügengebilde aus der Verantwortung zu stehlen. Jaja, so Menschen kannte ich bereits und ich konnte getrost auf sie verzichten. Wer brauchte schon einen unzuverlässigen und untreuen Ehemann, noch dazu einen alten Sack mit schlechtem Musikgeschmack und einer Neigung zu Schlaganfällen? Ich jedenfalls nicht.

 

Entschlossen winkte ich den Kellner zu mir heran.
„Ich möchte gerne zahlen!“