Von Marcel Porta

„Wer weiß, wozu das gut ist. Vielleicht hätte uns irgendein Trampel blutige Füße getanzt.“

Inges Lachen war so ansteckend, dass ihre Schwester Uschi ihr nicht länger böse sein konnte.

„Aber was unternehmen wir jetzt stattdessen? Ich will nicht hier sitzen und in den Mond starren, nur weil du die Eintrittskarten vergessen hast.“

„Ich habe sie nicht vergessen! Ich habe keine mehr bekommen. Das ist ein Unterschied.“ Inge unterstreicht ihre Aussage mit erhobenem Zeigefinger.

„Wenn man am 28. April noch Karten für den Tanz in den Mai in der Mensa der Uni bekommen will, muss man mindestens Onassis heißen, du Ulknudel. Du hast vergessen, dich rechtzeitig darum zu kümmern!“

„Himmel hilf! Bist du nachtragend!“

„Gar nicht, sonst hätte ich dich hier stehen lassen und wäre …“

„Stopp, sonst gehe ich am Ende allein ins Ballhaus Eichhof. Dort ist ebenfalls Tanz heute Abend, und da ist bestimmt kein solches Gedränge wie in der Mensa.“

 

***

 

Egon fühlte sich elend. Er hatte eindeutig zu viel von dem köstlichen Käsekuchen gegessen, den seine Mutter zur Feier des ersten Mai gebacken hatte. Zudem plagte ihn das schlechte Gewissen, denn er konnte sich gut ausmalen, wie sauer seine Mutter würde, wenn sie die Bescherung entdeckte. So ganz unschuldig war sie ja nicht an dem Malheur. Was musste sie auch einen derart verführerischen Käsekuchen backen!? Wo sie doch wusste, dass der Egon über alles ging. Nur ein einziges Stück hatte er davon essen wollen, doch als er wieder zu sich kam, war der Schaden total.

Erst als es klingelte, erinnerte er sich an die Verabredung mit seinem Freund Carl-Christian. Sie wollten zu einer Kneipentour aufbrechen.

„Du, CC, ich glaube nicht, dass ich mitkann. In meinem Bauch kämpfen Magensäure und Käsekuchen um die Vorherrschaft. Und ich bin bei diesem Gefecht der Verlierer, scheint mir“

„Red kein Blech. Bier ist bei einem verkorksten Magen die beste Medizin. Und verträgt sich prima mit Käsekuchen. Ist eine alte Indianerweisheit.“

„Oh Mann, ich glaub nicht, dass ich das pack.“

„Also gut, muss ich eben zum letzten Mittel greifen: Ich geb dir einen aus. Im Königsstein.“

„Oh wundersame Fügung, mir geht es schon viel besser!“

 

***

 

„Kein Gedränge ist aber anders“, stellte Uschi lapidar fest, als sie vor dem Eichhof standen. Schon an der Kasse gab es eine lange Schlange.

„Das ist mir egal, ich will heute tanzen“, bestand Inge darauf, sich anzustellen. „Was kostet denn der Eintritt?“

„Keine Ahnung, werden wir sehen, wenn wir vorne sind. Wie viel Geld hast du denn dabei?“

„Etwa zehn Mark. Und du?“

„Auch so in der Größenordnung. Wird schon reichen.“

„Bestimmt sind hier jede Menge tollwütige Tänzer zu finden. Viel bessere als in der blöden Unimensa.“ Inge ist immer noch bemüht, ihr Versagen herunterzuspielen. Was ihre Schwester mit einem süßsauren Lächeln quittiert.  

 

***

 

Kaum eine Stunde und eine längere Sitzung Egons auf dem Klo später langten die beiden Freunde vor dem Königstein an. Eine verräucherte Bude, beileibe nicht mit dem besten Ruf, aber das Bier war gut und billig. Ideale Voraussetzungen also für eine Kneipentour mit schmalem Budget. Reiche Erben waren sie beide nicht, die wohnten nicht in ihrer Gegend.

„Mensch, ich freu mich schon aufs erste Bier“, ließ sich Carl-Christian vernehmen. „Und als Ehrenmann stehe ich natürlich zu meinem Wort: Du darfst dir ein Freibier gönnen. Auch wenn das ein Loch in meine Spesenkasse reißt.“
„Woll, mein Lieber, ohne das wär ich nicht hier. Dabei bin ich mir immer noch nicht sicher, ob sich das mit dem Käsekuchen verträgt.“

„Das passt super“, wollte Carl-Christian antworten, als er die Tür zum Lokal öffnete. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Denn just in diesem Moment kam ihm ein ca. 80 Kilo schwerer Fleischklops entgegengeflogen, der keinerlei Bodenhaftung hatte und ihm im Vorbeiflug die Tür aus der Hand riss. Der Klops stöhnte nach dem unsanften Aufprall auf dem Beton des Zugangs herzerweichend und konnte sich nicht dazu aufraffen, wieder aufzustehen.

„Mann, so einen Abgang kann ich mir gerade in meinem Zustand nicht leisten“, kommentierte Egon den Kunstflug. „Lass uns woanders hingehen, CC.“

„Hast recht, hauen wir ab, bevor der Nächste uns um die Ohren fliegt.“

 

***

 

„Was, zehn Mark kostet der Eintritt? Ihr habt sie ja nicht alle. Ich will doch da drin nicht mit Fred Astaire tanzen! Oder ist die Queen zu Gast?“ Inge und Uschi konnten es nicht fassen.

„Steht hier nicht rum und quatscht Opern. Entweder ihr zahlt oder macht die Fliege.“

Der Türsteher grinste sie an wie nach einer schiefgelaufenen Gesichts-OP.

Die beiden Schwestern warfen zähneknirschend ihren knappen Etat zusammen und wurden eingelassen.

„Wie viel Geld haben wir jetzt noch?“, wollte Uschi wissen?

„Es reicht gerade noch für eine Cola. Lassen wir uns eben zwei Strohhalme geben.“ Inges gute Laune ließ sich nicht vertreiben. „Randerscheinungen wie diese lassen mich kalt. Da wird sich schon was auftun.“

Die beiden jungen Mädchen stürzten sich ins Gewühl und waren nach einer halben Stunde ordentlich erhitzt. Die gerade noch zu bezahlende Cola war da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

„Na, dann mach mal!“, giftete Uschi. „Tu was gegen die Randerscheinung. Ich setze mich hier hin und warte auf die Erlösung von allem Übel.“ Heimlich feixend schaute sie Inge hinterdrein, die beleidigt abrauschte.

 

***

 

„Die spinnen doch“, beklagte sich Egon bei Carl-Christian. „Zehn Tacken sind ein Vermögen. Das können wir uns nicht leisten.“

Die beiden waren mittlerweile ebenfalls vor dem Eichhof angekommen und lästerten kräftig über den Eintrittspreis.

„Rein oder nicht rein, das ist hier die Frage“, kalauerte Carl-Christian. Dann wies er mit dem Kopf auf eine dunkle Gestalt hin, die sich gerade an der Seite des Lokals durch ein Fenster ins Innere quälte.
„Was, ich mit meinem käsekuchenverseuchten Magen soll da durch? Du kennst die Fabel von La Fontaine? Die mit dem Wolf? Ganz schön Scheiße, wenn man stecken bleibt.“

„Quatsch kein Blech, ich schiebe von hinten und du ziehst von vorne. Das klappt wie am Schnürchen.“

Die Verlockungen des Bieres, gepaart mit der Aussicht auf den hier stattfindenden Tanz überwogen am Ende Egons Bedenken. Per Spitzbubenleiter erklomm er das Fenster und sah auf der anderen Seite in die Tiefe.
Verdammt, wie konnte ich mich darauf einlassen, dachte er noch, da schob sein Compagnon von außen und drängte ihn durch die schmale Öffnung. Gerade noch konnte Egon sich artistisch am unteren Holm festhalten, sonst hätte er eine Wasserlandung zustande gebracht. So stand er jetzt auf der Klobrille und half seinem Freund herein.

 

***

 

„Na also, geht doch!“

Inge hatte tatsächlich einen Tanzpartner gefunden, der sich als spendabel erwies. So saßen die beiden Schwestern jede vor ihrer eigenen Cola und genossen die kühle Süße.

„Der muss jetzt aber nicht denken, dass ich nur noch mit ihm tanze!“, erklärte Inge, kurz bevor der Galan von einem Toilettengang zurückkehrte.

Die Aufforderung zum Tanz ließ nicht lange auf sich warten und mit beschwingten Schritten bewegte sich Inge Richtung Tanzfläche. Sie tanzte für ihr Leben gern und der Kerl machte seine Sache immerhin nicht schlecht, auch wenn er sonst so gar nicht nach ihrem Geschmack war. Aber bei Spendierhosen schaute man nicht immer so genau hin.

Inge schloss beim Tanzen gerne die Augen, überließ sich ganz der Musik und den wiegenden Bewegungen. Als sie die Augen wieder öffnete, saß direkt in ihrer Blickrichtung ein junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er lächelte sie an und blinkerte ihr zu. Sie lächelte zurück, woraufhin er sich seinem Freund zuwandte und mit ihm redete, sodass der ebenfalls zu ihr hersah. Sofort war ihre Neugier geweckt. Was hatte er seinem Freund gesagt? Eher ein Kompliment für sie oder eine Beleidigung? Als sie wieder am Tisch saß, schaute sie in die Richtung, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Vergeblich, er war nicht mehr dort.

 

„Darf ich dich zum Tanz auffordern?“ Inge wollte schon ablehnen, da schaute sie nach oben und sah, wer sie da aufforderte. Es war der süße Kerl von eben. Dem sie eine Frage stellen musste, wenn sie sich nicht weiter verrückt machen wollte.

„Was hast du zu deinem Freund gesagt, eben?“ Ihre Impulsivität brach sich mal wieder Bahn.
„Mensch, CC – so heißt mein Freund nämlich – schau dir mal diese Frau an, die bekommt auf der nach oben offenen Egonskala eine glatte 12.“

„Aha, und das bedeutet?“
„Es ist die höchste Zahl, die jemals vergeben wurde, seit es diese Skala gibt. Dein Lächeln eben war so umwerfend …“
„Also, schmeicheln kannst du schon mal gut.“ Inge brach in ein Lachen aus, das in Egons Ohren wie das Glockenspiel einer orientalischen Spieluhr klang. „Wenn du jetzt noch tanzen kannst, darfst du mir einen Drink bezahlen. Denn ich bin zwar ehrlich, aber pleite.“

 

Bis in die tiefe Nacht tanzten die beiden miteinander und hatten keine Augen mehr für Freund und Schwester. Sie zogen sich in eine Nische zurück, in der Kerzen auf dem Tisch standen und für eine besondere Stimmung sorgten. Stunden vergingen wie Minuten.

Am Ende begleitete er Inge nach Hause. Sie liefen Hand in Hand durch die Nacht, deren Schwärze langsam der Morgenröte wich. Er verabschiedete sich von ihr und sang auf seinem eigenen Nachhauseweg lautstark immer wieder den einen Song: „Love me tender, love me true.“ Mit Inbrunst und ziemlich falsch.

Sie hatten sich nicht einmal geküsst, aber er würde sie wiedersehen. Sein Herz hämmerte in der Brust bei diesem Gedanken.

 

***

 

„Wir gratulieren ganz herzlich und stoßen mit euch an auf das nächste Jahrzehnt eurer Liebe.“

Sechs sind es bisher gewesen, und die beiden Söhne mit Enkeln und Urenkeln sind angereist, um mit den Jubilaren zu feiern.

Ein bisschen nachdenklich ist Egon, wie immer, wenn der Tag sich jährt. Es war so ein unglaublicher Zufall, dass er und Inge sich begegnet sind. Wenn damals nicht die Schlägerei … oder Inge nicht versäumt hätte, rechtzeitig … Wie wäre mein Leben in dem Fall verlaufen, fragt er sich. Doch dann gibt er sich selbst die bewährte Antwort: Egal, glücklicher hätte ich nicht werden können.

 

V2

© Marcel Porta, 2018