Von Ursula Riedinger

Heidi schaltet den Computer aus und streicht liebevoll über die Tastatur. Sie hat noch mit 66 gelernt, damit umzugehen. Sie ist richtig stolz. Ihr Sohn Peter hat ihr Schritt für Schritt alles genau erklärt. Das konnte Peter, er war äusserst geduldig. Und er hatte sich überschwänglich darüber gefreut, wenn seine Mutter wieder etwas davon verstanden hatte, was sie mit dem „Ding“ alles anfangen konnte.

Und nun ist es soweit, sie hat ein Date. Zum ersten Mal im Leben ein richtiges Date. Und das dank ihres Chat über den Computer. Heidi hat es ihrem Sohn noch nicht erzählt. Erst mal schauen, wie die erste Begegnung wird. Sie hat sich verliebt! Eigentlich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig. Traurig, wenn man so etwas sagen muss. Aber so ist es nun mal. Darum ist das Gefühl umso unbeschreiblicher. Heidi fühlt sich zwanzig, nein dreissig Jahre jünger … Morgen wird sie ihn zum ersten Mal treffen. Aleeke. Das bedeutet „starker Löwe“.

Als Heidi als junge, etwas schüchterne Bibliothekarin Hans kennenlernte, war klar, dass sie bald heiraten würden. Vorher hatte es in ihrem Leben nur ein paar kurze Jugendschwärmereien gegeben. Hans war etwas älter, wusste, was er wollte im Leben. Das gefiel ihr. Er war streng protestantisch erzogen worden und hielt nichts von einer Liebelei vor der Ehe. Sie hatten zusammen im Chor gesungen und sich gut verstanden. Aber es gab nie ein Rendezvous mit ihm. Sie war eigentlich gar nicht richtig verliebt gewesen. Sie hatten geheiratet, wie es erwartet wurde. Sie dachte, das müsse wohl so sein, die Gefühle kämen dann von selbst.

Ihre Ehe war nicht schlecht gewesen, bald kam Peter auf die Welt, aber ihre Welten trennten sich immer mehr. Anfangs hatte sie es nicht bemerkt, sie war mit Peter, einem oft kränkelnden Kind, völlig beschäftigt gewesen. Als das Kind aus dem Gröbsten heraus war, wollte Heidi wieder stundenweise arbeiten gehen. In der Bibliothek bot man ihr eine Teilzeitstelle an. Aber Hans wollte das nicht.

„Ich möchte, dass du ganz für Peter da bist.“

Und für mich, meinte er wohl, ohne es auszudrücken. Das merkte Heidi im Laufe der ersten Jahre. Hans genoss es, bedient zu werden, er brachte schliesslich das Geld nach Hause. Als Peter 10 war, hatte Heidi eine Krise. Sie suchte sich Hilfe bei einer Selbsthilfegruppe, ohne Hans davon zu erzählen. Ihr wurde bewusst, dass sie ihr Leben so nicht weiterleben konnte. Sie eröffnete ihrem Mann, dass sie sich scheiden lassen wollte. Hans fiel aus allen Wolken.

Sie hatte es nicht bereut. Sie fing wieder an zu arbeiten, nachdem sie eine Tagesmutter für Peter gefunden hatte. Nach und nach schloss sie eigene Freundschaften. Viele gute Freundschaften, auch mit Männern, aber eine grosse Liebe war nie dabei gewesen. Dabei war Heidi auf eine bestimmte Art sehr attraktiv, gross, schlank, aber vielleicht zu burschikos für viele Männer. Sie trug ihr blondes lockiges Haar jetzt ganz kurz. Sie lernte, ihre Schüchternheit abzulegen. Da sie gut mit Menschen umgehen konnte, fanden viele Freunde, Männer wie Frauen, in ihr eine fürsorgliche Frau, die immer ein offenes Ohr für ihre Geschichten hatte. Einmal hätte sie sich fast in Oliver verliebt, einen ungemein charmanten, eleganten Mann. Dann wurde sie von ihm ganz unerwartet versetzt. Sie hatte wieder in einem Chor gesungen, Mal- und Englischkurse besucht. Schloss sogar mit dem Certificate of Advanced English ab. Sie mochte es durchaus, alleine zu leben. Aber manchmal fehlte ihr etwas.

Und nun hatte sie den Computer entdeckt, um sich Infos zu beschaffen und Mails zu versenden, auch für ein paar anregende Spiele, Lexulous zum Beispiel, eine Art Scrabble auf Englisch. Dann stiess sie auf Chats. Mit Peters Hilfe lernte sie seriöse Chaträume von unseriösen zu unterscheiden. So begann Heidi mit verschiedenen Leuten auf der ganzen Welt, hauptsächlich auf Englisch, zu chatten.

Die Plattform, auf der sie Aleeke kennengelernt hatte, beschäftigte sich mit Literatur. Sie hatte selbst einen Chat begonnen, weil sie vom Buch des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe, Things Fall Apart, so beindruckt war. Aleeke hiess wirklich so, sie dachte zuerst, es sei ein Pseudonym. Ein kamerunischer Name. Sie hatten dann wochenlang, monatelang über afrikanische Literatur, aber auch über andere englischsprachige Literatur diskutiert, über V.S. Naipaul und Doris Lessing, über Wole Soyinka oder über Ishiguro. Nach und nach flossen in ihre häufigen Chats auch private Informationen. Aleeke Lucien Owona war Dozent für englische und afrikanische Literatur in Yaoundé.

Heidi erzählte aus ihrem Leben in der Schweiz, von ihrem Sohn, von ihrem Beruf. Aleeke hatte drei erwachsene Kinder, seine Frau war vor ein paar Jahren gestorben. Als sie immer herzlicher miteinander umgingen, fand Heidi, dass Aleeke wissen sollte, dass sie 68 Jahre alt war. Sie schickte ihm ein Foto. Es zeigte Heidi auf einer Wanderung in den Bergen, in Wanderschuhen und in einem T-Shirt. Sie lachte in die Kamera und winkte mit einer Hand. Aleeke schickte ebenfalls ein Bild von sich. Es zeigte einen grossen, sehr dunkelhäutigen Mann in bunter traditioneller Kleidung. Es war im Kreis von Freunden bei einem Fest aufgenommen. Auch Aleeke lachte in die Kamera. Er schrieb, er sei 60-jährig, würde aber normalerweise im Anzug herumlaufen.

Das Foto gab den Ausschlag. Heidi nahm es immer wieder zur Hand, sah das Lachen dieses sympathischen Mannes und fühlte Wärme aufsteigen für ihn. Ihre Chats erhielten eine neue Dimension. Aleeke schrieb ihr einmal:

„Wenn du nicht so weit weg wärst, müssten wir uns jetzt persönlich kennenlernen.“

Heidi ging es ebenso. Sie sehnte sich danach, Aleeke als Mensch zu sehen. Vielleicht hatte sie sich verliebt. War das Liebe?

Im Winter verlor Heidi jede Lebenslust. Wenn sie nicht mit Aleeke sprechen konnte, erschien ihr alles rundherum farblos, sinnlos. Sie schlief schlecht, mochte nicht viel essen. Sie grübelte und grübelte. Dann erkundigte sie sich bei der kamerunischen Botschaft. Wenn sie eine Garantie hinterlegte, wäre es möglich, ein Touristenvisum für ihn zu bekommen.

Jetzt ist der Tag gekommen. Heidis erstes Date. Heute um 9.00 Uhr landet die Maschine, die via Paris aus Yaoundé kommt. Heidi macht sich fein, weisse Bluse, dunkler Rock, oder vielleicht doch eine bequeme Hose… Sie ist nervös. Schon um 8.30 Uhr steht sie bei der Ausgangstüre im Flughafen Zürich, aus der die Passagiere kommen. In der Hand hält sie einen kleinen Strauss, in ihrer Handtasche hat sie ein kleines Päckchen mit Sprüngli-Truffes für ihren Gast. Sie schaut und schaut. Ihr Herz hüpft unruhig auf und ab.

9.00 Uhr. Jetzt ist das Flugzeug gelandet, er muss noch die Passkontrolle hinter sich bringen, sicher kontrollieren sie auch sein Visum sehr genau.

9.15 Uhr. Noch viel zu früh, aber das Flugzeug ist pünktlich gelandet.

9.35 Uhr. Die ersten Passagiere, die aus Paris kommen, strömen durch die Tür.

9.40 Uhr. Aleeke tritt in die Halle. Auch er hat sich fein gemacht. Er trägt ein traditionelles Gewand, dunkelblau mit leuchtenden Verzierungen in Form von gelben und roten Streifen. Er trägt nur eine grosse Tasche in der Hand.

Als er Heidi sieht, begann er zu strahlen. „How lovely to see you!“ Er läuft auf sie zu und nimmt sie in den Arm.

 

V2