Von Amelie Sorglos

Immer wieder schaue ich auf mein Navi, beobachte die Strecke, die ich gefahren bin  und noch vor mir habe. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, wächst meine Nervosität. Wie wird es sein, wenn wir uns das erste Mal in die Augen sehen?

 

In einem Dating Portal habe ich sein Foto entdeckt. Ein so schönes Gesicht.

Die hohe Stirn, helle Augen und das weiße Haar strahlen Würde und Klugheit aus. Der Mann lacht nicht, er lächelt ein wenig. Seine Ernsthaftigkeit fasziniert mich, weckt in mir den Wunsch, ihn zu erheitern. Tiefe Falten haben sich in sein Gesicht eingegraben. Ich möchte ihn berühren, möchte die Spuren seiner Vergangenheit mit meinem Finger nachzeichnen, leicht und sanft, und küssen möchte ich ihn, zärtlich, vorsichtig, voller Neugierde, was passieren könnte. Ich liebe dieses Foto, betrachte es jeden Tag mehrere Male und stelle mir vor, wir würden uns irgendwann und irgendwo einmal begegnen.

 

Seit Wochen telefonieren wir miteinander. Jetzt kenne ich auch seine tiefe und ein wenig kratzige Stimme. Ich kenne seine Vorlieben, weiß, welche Speisen er liebt, welche Bücher er liest und kenne Themen, die ich möglichst vermeiden sollte, um ihn nicht zu enttäuschen. „Ich möchte dich berühren“, gestand mir Robert eines Tages.

„Ich möchte dich auch berühren“, hatte ich geantwortet.

Von den dreihundert Kilometern, die es zu überwinden galt, sprachen wir nicht, genauso wenig wie über unser Alter. Robert ist Neunzig und ich fünf Jahre jünger.

 

Jetzt sitze ich in meinem Auto, nur noch wenige Stunden trennen mich von der Erfüllung meines größten Wunsches, ich werde Robert gegenüber stehen und ihm in die Augen sehen. Was für ein Moment! Wenn ich daran denke, schlägt mein Herz schneller. Wie wird es sich anfühlen, wenn er meine Hand in seine nimmt? Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit erfüllt mein Denken, ich fahre schneller.

 

Das Navigationsgerät dirigiert mich zur nächsten Ausfahrt, einige Kilometer lege ich auf Dorfstraßen und an blühenden Feldern vorbei zurück, bevor ich das Ortschild: „Grünenheide“ erreiche. Die Straße führt mitten durch den belebten Ort, am Ende biege ich in einen schmalen Waldweg ein. Robert wohnt am Nachtigallenweg in einem großen Haus, mit einem noch größeren Garten. Gleich muss ich mein Ziel erreicht haben. Dichter Wald zu beiden Seiten der Straße, eine scharfe Rechtskurve und die Stimme der Frau aus dem Navi:

„Sie haben Ihr Ziel erreicht“.

 

Vor einem großen Tor bringe ich meinen Wagen zum Stehen, steige aus und befinde mich am Eingang einer Schrebergartensiedlung. Das kann nur ein Irrtum sein. Robert hatte mir Fotos von seinem Haus und dem Garten geschickt, von der Terrasse und dem Kamin, ein solches Anwesen kann sich nicht hinter diesem Tor verbergen. Ratlos stehe ich einige Augenblicke still und denke nach.

 

Die eiserne Tür quietscht, als ich sie öffne. Ein langer, kiesbestreuter Weg führt an Kleingärten und Gartenlauben vorbei zu einer Holzhütte, vor der einige Leute in der Sonne sitzen und Bier trinken. Ich gehe auf sie zu, entschuldige mich für die Störung und frage: „Ich suche ein Haus, das sich am Nachtigallenweg Nummer dreizehn befinden soll. Wo könnte das sein?“

Die Leute reagieren überrascht und bestätigen mir, dass ich mich genau hier befinden würde. „Kennen Sie vielleicht einen Herrn „Dr. Robert Bauernfeind“? Der sollte hier wohnen“. Die Gartenfreunde schütteln den Kopf, einen solchen Namen haben sie noch nie gehört.

Ich hole mein Handy aus der Tasche und wähle Roberts Nummer:

„ Kein Anschluss unter dieser Nummer!“

Für Sekunden fühle ich einen Schwindel, ein Sausen in den Ohren und würde  wohl stürzen, fände ich nicht Halt an einem Gartenstuhl, auf den ich mich fallen lasse. Die Leute um mich herum betrachten mich sorgenvoll. „Geht es Ihnen nicht gut?“ Nein, es geht mir nicht gut, vielmehr ist mir total übel, mein Magen fährt Karussell und am liebsten würde ich losheulen. Doch ich reiße mich zusammen. „Die Hitze“, fällt mir ein.

Schließlich nehme ich die Einladung an und trinke ein Bier, ein alkoholfreies.