Von Siggi Hallensleben

Ihre Internet-Dates waren allesamt Reinfälle gewesen. Auch Versuche, im Urlaub einen Traumprinzen zu ergattern, hatten sich bisher als Flops erwiesen. In einer Mädchenclique hemmt allein schon die Ansammlung weiblicher Masse anbahnende Flirts.

Letztes Jahr schloss sich Katja deshalb einer Reisegruppe an, die sie zu den Kunstschätzen Griechenlands und in ihr ganz persönliches Abenteuer führen sollte. Sie fand sich in einem klimatisierten Reisebus voller Senioren wieder, las vier historische Romane und holte sich einen Sonnenbrand.

Das Angebot ihres Bruders kam zur rechten Zeit. Er lud sie in die Schweiz ein, wo es ihre simple Aufgabe sein sollte, den alleinerziehenden Vater ab und an von seinen Aufsichtspflichten zu entlasten. Als Patentante besaß man schließlich Verantwortung und genug dazugehöriges Gefühl.

 

Bereits die Ankunft fiel ernüchternd aus. Es gab zwar Schokolade, Uhren, Käse und Berge, aber keine attraktiven Single-Männer.

Die Tage verliefen so, dass sich Katja nach der Ägäis zu sehnen begann. Mit einem fünfjährigen Lausebengel im Schlepptau, der anderen Kindern Spielsachen wegnahm, schloss man nur sehr einseitigen Kontakt. Zudem blühte ihr Bruder, kaum dass er die Hotelanlage betreten hatte, regelrecht auf, besuchte Animationsveranstaltungen, sonnte sich am Pool und ging mit hübschen Damen essen – selbstverständlich ohne den lieben Luki, den er ja in bester Obhut wusste.

Katja konnte das sicher verstehen. Alleinerziehende brauchten Auszeiten, und sie selbst besaß ja keine Kinder und war darum vollkommen ausgeruht und nervenstark. Letzteres wurde allerdings von Tag zu Nacht weniger, denn Junior war zweckmäßigerweise in ihr Zimmer einquartiert worden, damit alle zu einem gewissen Maß nächtlicher Aktivität kamen.

 

Am vorletzten Tag des „Familienurlaubs“ wurde die Nachtruhe frühzeitig durch hochfrequente Jodelversuche beendet. Katja zog ihre Bettdecke über den Kopf und versuchte, sich tot zu stellen. Im Nu bekam die Gesangseinlage rhythmisches Klopfen von der Nachbarwand als Untermalung.

Schlaftrunken schwang sich Katja aus dem Bett. Doch Lukas, ihr „genetischer Plagegeist“, war schneller. Beim Hinterhereilen schlüpfte sie mangels Zeit und klarem Denkvermögen bloß in ihre Flip-Flops.

 

Das Außen-Thermometer zeigte erfrischende zwölf Grad, was ihre Laune keineswegs besserte. Der Kleine war wie vom Erdboden verschluckt. Als sie gerade beschloss, brüderliche Hilfe zu holen, hörte man Gepolter durch die Morgenstille hallen. Augenblicklich brach ihr, trotz klammer Temperaturen und spärlicher Kleidung, der Schweiß aus. Hinter dem Hotel gab es einen Wanderweg, der zu einer Alm führte. An ihn grenzte ein Geröllfeld. Der Steinschlag stammte genau aus dieser Richtung. Im Geiste sah sie ihren einzigen Neffen bereits mit zerschmetterten Gliedmaßen im Abgrund liegen.

Katja überlegte nicht mehr lange und stürmte los. „Lukas! Bleib, wo du bist!“

„Fang mich!“, kam es munter als Antwort.

Ihre düsteren Mutmaßungen wandelten sich in Gewissheit. Er hatte den befestigten Weg verlassen und kletterte halsbrecherisch über ein paar Felsbrocken. Erneut begannen sich Steine zu lösen.

„Warte!“ Katjas Stimme überschlug sich vor Panik. „Ich komm dich holen.“

Lukas fühlte sich sofort zum Weiterklettern animiert.  

Wenn sie ihn je heil ins Hotel zurückbekam, würde sie ihm den Hintern versohlen, antiautoritäre Erziehung hin oder her!

 

Ein akuter Niesanfall beendete ihren selbstlosen Neffen-Rettungseinsatz. Die Flip-Flops boten keinerlei Halt. Sie fand sich langgestreckt auf dem Boden und der lose Untergrund bescherte ihr eine rasante Abfahrt, die erst von einem kümmerlichen Baum gestoppt wurde.

Nachdem sie ihre fünf Sinne wieder beisammenhatte, stellte sie verwundert fest, dass sie noch lebte.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Tante Katja?“, erkundigte sich Lukas von oberhalb. Die Tatsache, dass er sie zum ersten Mal während dieses Urlaubs „Tante“ nannte, verriet sein schlechtes Gewissen.

Dem war leider nicht so. Ihr Schlaf-Shirt begann sich rot zu färben. Das Blut stammte aus ihrer Stirn, von der es über die linke Gesichtshälfte rann, sich am Kinn sammelte und in ihren Ausschnitt tropfte.

Mit einem Ärmel des Shirts probierte sie, die Blutung zu stillen und überlegte, ob sie von ihrem Recht zu heulen Gebrauch machen sollte. Ihr war definitiv danach.

Was sie letztlich hinderte, war ein Geräusch. Jemand näherte sich. Ein früher Wanderer oder etwa ein Tier?

 

Minuten später blickte sie genau einem jener Prinzen ins Gesicht, nach denen sie jahrelang vergeblich Ausschau gehalten hatte.

„Sie hat es ja ganz schön erwischt“, stellte er das Offensichtliche klar. Der Dialekt verriet den Einheimischen. In seiner linken Hand hielt er ihre unterwegs verloren gegangen Flip-Flops.  

„Ich und meine Mama wollten einen Ausflug machen“, erklärte Lukas. Er war in der Zwischenzeit unfallfrei zu ihnen herabgeklettert und drängte sich augenblicklich in den Vordergrund.

„Genauso seht ihr aus.“ Man konnte unschwer erkennen, was dieser Schweizer von verrückten Touristen hielt.

Katja fühlte sich zu elend, um ihren Neffen zu korrigieren. Sie warf ihm lediglich einen blutunterlaufenen Blick zu.

Er wusste diesem auszuweichen und berichtete unerschrocken weiter.

Nachdem der Fremde auf diesem Wege erfahren hatte, dass das Unfallopfer, wenn es nicht gerade frühmorgens auf Schotterpisten unterwegs war, im nahen Hotel residierte, sagte er: „Die Wunde an Ihrer Stirn gehört genäht.“

Katja wurde prompt munterer. „So schlimm wird es hoffentlich nicht sein.“

„Nun ja, ich würde heute lieber den Spiegel meiden.“

Von seiner einnehmenden Optik mal abgesehen, dürfte es bei diesem Männer-Exemplar noch ein weiter Weg bis zum Traumprinzen sein. Er wollte sie nicht einmal auf Händen tragen, sondern hakte sie bloß unter.

Um diese Zeit war nur der Portier wach. Der starrte ziemlich entgeistert drein, als er den anmarschierenden Trupp bemerkte.

„Grüezi Alfred, dürfen wir kurz den Erste-Hilfe-Raum benutzen?“, fragte der unkonventionelle Retter und steuerte sogleich sein Ziel an.

„Machen Sie es sich auf der Liege bequem“, bestimmte er anschließend. Nebenbei kommandierte er den hyperaktiv herumhopsenden Lukas auf einen Stuhl.

 

„Ich werde die Wunde zuerst säubern und dann nähen.“

Hatte sie sich verhört? „Können Sie das denn? Sind Sie Arzt?“

„Ich habe bereits die eine oder andere Naht gemacht. In ein paar Wochen wird nicht mehr viel davon zu sehen sein. Fünf Stiche dürften genügen. Ich lasse sie direkt am Haaransatz verlaufen.“ Das sollte wohl beruhigend klingen.

„Wäre es nicht besser, in ein Krankenhaus zu gehen? Mein Bruder könnte mich hinfahren“, wandte Katja nervös ein und schielte unwillkürlich zur Tür. Wenn sie schnell genug war, müsste ihr die Flucht gelingen. Bis zum Portier waren es nur wenige Meter. Fünf Stiche!

„Hier ist alles Nötige vorhanden. Das Ganze dauert nur ein paar Minuten. Oder haben Sie etwa Angst?“ Die hellbraunen Augen blitzten provokativ.

„Natürlich nicht“, log Katja.

„Gut. Mein Onkel betreut normalerweise dieses Hotel. Momentan liegt er mit einer Sommer-Grippe im Bett.“
„Ach, dann sind Sie seine Vertretung?“

Statt einer Antwort baute er sich unmissverständlich vor ihr auf und vereitelte jeden weiteren Fluchtgedanken.   

„Gibt es keine Betäubung?“ Angesichts des nun bereitliegenden Instrumentariums war dies ein berechtigter Einwand.

„Bei so einer kleinen Naht lohnt sich das nicht“, war die widerspruchsungeeignete Entgegnung.

 

Am Ende prangte ein großes Pflaster an ihrer Stirn. Die Schürfwunden wurden ebenfalls gereinigt. Mittlerweile klemmte ihr Kiefer vom heftigen Zusammenbeißen.

„Wann war Ihre letzte Tetanusimpfung?“

„Vor fünf Jahren.“ Das stimmte sogar. Wegen einer Auslandsreise hatte sie ihren Impfschutz erneuern lassen. „Ganz sicher“, beteuerte sie, als sie seinen misstrauischen Blick bemerkte.

Zögernd nickte er. „In Ordnung. Nach zehn Tagen können die Fäden gezogen werden. Falls sich jedoch etwas entzündet, Ihnen schwindelig oder schlecht werden sollte, lassen Sie sich sofort in eine Ambulanz chauffieren.“

 

Nachdem alles wieder ordnungsgemäß an seinem Platz lag, begab sich der resolute Ersthelfer zur gegenüberliegenden Ecke. Dort saß, käsebleich und wie festgewurzelt, der eigentliche Übeltäter. „Kommen wir zu dir, junger Mann.“

Lukas Pupillen weiteten sich, während der Rest von ihm sichtbar zusammenschrumpfte.

„Weitere Ausflüge im Alleingang unterbleiben in Zukunft. Ist das klar?“

Lukas nickte so heftig, dass er fast vom Stuhl kippte.

 

„Ich habe leider keine Krankenkarte bei mir“, erwähnte Katja, jetzt, da alles überstanden war.

„Kein Problem. Ich kann das sowieso nicht abrechnen“, meinte der passionierte Folterknecht und legte eine bedeutungsschwere Pause ein. Dabei zuckte ein Mundwinkel verräterisch. „Ich bin nämlich Tierarzt… Und was meinen Onkel betrifft: Er wird das Pflaster und Desinfektionsmittel verschmerzen…. Falls Sie wieder einmal im Nachthemd in den Bergen herumkraxeln wollen, können Sie mich gern vorher anrufen… Nun muss ich aber los. Auf der Alp wartet eine kranke Kuh.“

Sie brauchte ein paar Sekunden, bis seine Worte Zugang zu ihren Gehirnwindungen fanden. Kranke Kuh – Tierarzt! Wahrscheinlich würde sie den Rest ihres Lebens mit einem fünfstichigen Andenken herumlaufen.

Lukas war erneut schneller. Bevor sie zu reagieren vermochte, gestand er: „Katja ist gar nicht meine Mama, sondern meine Tante. Und sie hat noch nicht mal einen Freund.“

Die Besagte schnappte daraufhin nach Luft und ihrem Neffen.

 

Ein breites, froschähnliches Grinsen verfolgte sie zur Tür hinaus mitsamt der Frage, was wohl passieren würde, wenn man diese Lippen küsste.

Erst in ihrem Zimmer fiel ihr ein, dass sie weder seinen Namen noch seine Telefonnummer wusste. Und bedankt hatte sie sich auch nicht.

Doch das konnte man vielleicht nachholen …

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