Von Monika Heil

Verschlafen schaut Björn auf die Uhr. Erst fünf. Viel Zeit. Es ist Sonntag. Und sein Geburtstag. Und Papawochenende. Seine Blase fordert: »Aufstehen«, und er gehorcht. Barfuß schleicht er sich ins Bad und kurz darauf wieder zurück. Noch eine Stunde. Routinemäßig wirft er einen Blick in das Zimmer der Zwillinge. Leer. Leer? Sein Hirn verweigert zu erkennen, was seine Augen sehen.

»Lisa? Marie?« 

Keine Antwort. Björn rennt in die Küche, ins Wohnzimmer, zurück in das Zimmer seiner Töchter.

»Lisa? Marie?«

Keine Antwort. Sein Herz hämmert. Er zieht die Bettdecken weg, registriert die unordentlich hingeworfenen Schlafanzüge der Mädchen.

»Lisa, Marie!« Seine Stimme überschlägt sich fast. Er reißt die Schranktür auf. Was hatten die Mädchen gestern angehabt, als ihre Mutter sie zum Papawochenende brachte? Er weiß es nicht. Panisch wühlt er in den Fächern, streicht über die wenigen Kleiderbügel. Was fehlt?

Björn gesteht sich ein, dass er keine Ahnung hat, welche T-Shirts und Hosen die beiden hier deponieren.

 

Die Polizei. Zehn nach fünf. Was soll er denen sagen? »Meine Töchter sind verschwunden.« »Seit wann?« »Keine Ahnung«, malt er sich den Dialog aus. Laura. – Unmöglich. Sie würde sofort kommen, klar. Dann wäre er nicht allein mit seiner Angst. Vielleicht hätte Laura eine Erklärung. Sie erlebt die Zwillinge täglich. Er hat sie nur alle 14 Tage am Wochenende.

 

Noch immer barfuß geht er mit schlurfenden Schritten zum Küchenfenster, schaut hinunter auf die Straße. Die Morgendämmerung hat eingesetzt. Niemand läuft dort vorbei. Es ist Sonntagmorgen. Die Menschen schlafen aus. Ein Auto kommt näher. Ein Streifenwagen. Langsam fährt er am Haus vorbei. Björn reißt das Fenster auf, erkennt, dass Rufen sinnlos ist. Er muss sich anziehen, muss handeln. Er geht in sein Schlafzimmer, setzt sich auf die Bettkante, versucht, seiner Beklemmung Herr zu werden und rational zu planen. Rausgehen? Selbst suchen? Doch die Polizei anrufen?  Gegen jede Vernunft beschließt er, zuerst ins Bad zu gehen und zu duschen. Vielleicht folgt der scheinbaren täglichen Routine in einer Viertelstunde eine plausible Auflösung dieser unbegreiflichen Situation, versucht sich Björn einzureden. Vielleicht haben sie sich unter den Betten versteckt? Er springt auf, rennt ins Kinderzimmer zurück. Fehlanzeige. Ja, er wird jetzt duschen, sich anziehen und wenn er wieder in die Küche kommt, werden die Kleinen dort sitzen und ihn auslachen, versucht er sich einzureden. Entschlossen geht er ins Bad.

 

                          ***

 

»Siehst du auch, was ich da sehe?«

»Fahr mal langsam. Halt an.«

»Zwei Prinzessinnen, Hand in Hand. Süß, die beiden.«

»Aber eindeutig zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Knut Lange bringt den Streifenwagen zum Stehen. Ralf Bender, sein Kollege, steigt als Erster aus und geht den Mädchen entgegen.

»Guten Morgen ihr zwei. So früh schon unterwegs? Und so schick angezogen? Wo wollt ihr beiden Prinzessinnen denn hin?«

»Zum Bäcker. Aber der hat noch zu.«

»Kein Wunder. Heute ist doch Sonntag.«

»Ich weiß, aber Müllers haben auch sonntags auf und unser Papa hat heute Geburtstag. Wir wollen ihn nämlich überraschen und ein selbst gemachtes Frühstück schenken.«

»Sagt ihr uns, wie ihr heißt und wo eure Eltern wohnen?«

»Papa wohnt in der Bahnhofstraße und Mama in Hamburg, weil, die sind nämlich geschieden. Und ich heiße Lisa.«

»Und ich Marie. Und die Prinzessinnenkleider hat uns unser Papa für Fasching geschenkt. Und weil er heute Geburtstag hat, haben wir sie angezogen. Und nun hat der Bäcker noch zu.«

Die beiden Beamten schauen sich an, unterdrücken ein Lachen, zumal sie sehen, dass die Mädchen den Tränen nahe sind.

»Ja, was machen wir denn da? Habt ihr Lust, mit uns ins Polizeirevier zu fahren? Ich habe mir von zu Hause Brötchen mitgebracht. Die schenke ich euch.«

»Und ich leckeres Körnerbrot.«

»Da fällt mir gerade ein, unsere Frau Lindemann, die auf der Wache für das Telefon zuständig ist, wenn wir unterwegs sind, hat uns Kuchen versprochen, weil doch heute Sonntag ist. Den könnt ihr haben. Oder noch besser, wir rufen euren Papa an, dass er auch dorthin kommt und wir frühstücken alle gemeinsam.«

»Uii, das ist super. Wir dürfen im Polizeiauto mitfahren? Wenn wir das im Kindergarten erzählen, dann wird Linus ganz neidisch. Und Papa können wir auch mit zu-nem Bäcker ein Frühstück schenken.«

»Und wir können verhindern, dass euer Papa ein Donnerwetter loslässt«, murmelt Knut Lange für die Kinder unhörbar, während alle vier zum Streifenwagen gehen.

                      ***

 

Während Björn unter der Dusche steht, klingelt im Flur das Telefon. Hektisch stellt er das Wasser ab und rennt – nass und nackt – in den Flur.

Eine Minute später verspricht er einem freundlich klingenden Polizeibeamten sofort zur Dienststelle zu kommen, um seine Kinder abzuholen. Nur eine Viertelstunde später trifft er dort ein.

„Herzlichen Glückwunsch“, lächelt der junge Polizist, der ihm öffnet. „Ihre reizenden Töchter haben uns erzählt, dass Sie heute Geburtstag haben und Sie mit einem Frühstück überraschen wollten. Nicht schimpfen, bitte. Die zwei haben es doch nur gut gemeint. Der Kaffee ist gerade durchgelaufen und Ihre Prinzessinnen trinken warme Milch.“

Fassungslos schaut Björn auf den spartanisch gedeckten Dienstschreibtisch. Er muss zweimal schlucken, um seine Rührung zu unterdrücken.

„Ich werde nachher ein ernstes Wort mit den beiden reden«, flüstert er.

„Tun Sie das“, schmunzelt Ralf Bender „aber nicht zu dolle.“ Der nächste Satz geht in einem laut gesungenem „Happy Birthday to you“ unter.

 

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