Von Ingo Pietsch

Michael beobachtete die Lichtstreifen, die durch die heruntergelassene Jalousie im Zimmer herum wanderten, wenn ein Auto draußen in die Straße einbog.

Es war schon halb zwölf und er konnte nicht einschlafen.

Die Scheinwerfer erhellten immer wieder das Regal mit der Dinosaurier-Sammlung und dem Pokemon-Poster mit Pikachu darauf.

Michael hatte sich die Bettdecke bis über die Nase gezogen und hielt sich die Ohren zu.

In der Wohnung darunter polterte etwas.

Er wusste nicht genau, was sich dort abspielte, aber seine Mutter hatte ihm erklärt, dass das Paar, das dort wohnte, sich nicht besonders gut verstand.

Die Frau hatte oft blaue Flecken und Platzwunden im Gesicht. Wenn er ihr half, Einkaufstragetaschen mit in die Wohnung zu bringen, behauptete sie immer, sie sei gestürzt. Sie sprach nicht gut deutsch, war aber immer freundlich zu ihm und er auch zu ihr.

Es stimme Michael ein wenig traurig, dass er nichts weiter tun konnte, um ihr zu helfen.

Aber das war nicht der Grund, warum er nicht einschlafen konnte.

Auch nicht der alte Mann, der über ihnen wohnte und sein Radio den ganzen Tag immer so laut drehte, dass Michael die Schlager sogar draußen auf dem Spielplatz hören konnte.

Michael dachte nach.

 

Heute hatte er eine merkwürdige Begegnung.

Zwischen den Mehrfamilienhäusern, auf einer großen Grünfläche, eingerahmt von Wäscheleinen, gab es einen kleinen Spielplatz, eingesäumt von vielen Büschen.

Dort standen eine alte Metallbank, eine Schaukel, ein kleines Klettergerüst und ein Sandkasten, der aber mehr von Katzen als von Kindern genutzt wurde.

Michael hatte seine Hausaufgaben schnell hinter sich gebracht und war zum Spielen rausgegangen. Nicht zu weit weg, da seine Mutter bald von der Arbeit nach Hause kam und sie dann gemeinsam essen wollten.

Er schaukelte und ließ sich den Wind um die Ohren wehen. Dabei rutschte ihm eine Transformers-Figur aus der Hand, die er mitgebracht hatte. In hohem Bogen flog sie in die Büsche.

Michael sprang von der Schaukel und rannte dorthin, wo er glaubte, dass die Figur verschwunden war.

Die Büsche reichten dem Zehnjährigen bis zu den Schultern und waren nicht sonderlich dicht. Er drückte die Zweige kräftig zur Seite. Schon fiel seine Figur auf den plattgetretenen Boden.

Die Kinder im Viertel spielten hier gern Verstecken.

Als Michael zurück zur Schaukel wollte, wäre er fast auf einen Ameisenhügel getreten.

Er bückte sich, um das wuselige Treiben näher betrachten zu können.

Mehrere Ameisenköniginnen machten sich bereit, den Bau zu verlassen. Sie trockneten ihre Flügel, um so schnell wie möglich wegzufliegen und sich einen Platz zu suchen, wo sie eine neue Kolonie gründen konnten.

„Na, wen haben wir denn da?“, ertönte die Stimme von Harry, einem unbeliebten Jungen aus der Nachbarschaft. Er war einen Kopf größer und etwas älter als Michael, übergewichtig und schon ein Mal sitzen geblieben.

„Äh, ich habe hier mit meinem Transformer gespielt.“ Michael saß direkt vor dem Ameisenhügel, den Harry so nicht sehen konnte.

„Zeig her!“, befahl Harry.

Widerstrebend hielt Michael den Roboter hoch.

Harry riss ihm das Teil aus der Hand. „Den habe ich noch nicht.“

„Aber, das ist mein Lieblings-Transformer!“, Michael bekam feuchte Augen.

Harry ballte eine Faust: „Wenn du Glück hast, kriegst du ihn wieder, wenn ich damit fertig bin, du Memme!“ Der Junge verschwand laut lachend zwischen den Häusern.

Michael wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und drehte sich wieder dem Hügel zu, den er beschützt hatte. Wer wusste, was Harry alles mit den Ameisen gemacht hätte.

Die Königinnen schüttelten ein letztes Mal ihre Flügel und hoben nacheinander ab.

Sie flogen ganz dicht an Michaels Kopf vorbei, wobei er ein leises Summen vernahm.

Dann war das Spektakel vorbei.

Michael sah noch einmal nach unten. Dort verschwand gerade die letzte Ameise wieder im Bau. Auf der Spitze des Hügels lag eine glänzende, goldene Münze.

Michael hob sie auf und betrachtete sie im Sonnenschein.

Auf beiden Seiten befanden sich mystische Zeichen.

 

Diese Münze hielt er jetzt in der Hand und überlegte, was er sich davon kaufen könnte.

Ein Videospiel, ein neues Fahrrad oder etwas für seine Mutter, was sie sich schon lange wünschte. Oder alles zusammen, denn die Münze war sicherlich viel wert.

Eigentlich sehnte er sich nach einem Haustier. Ein Hund oder eine Katze. Aber das ging leider nicht. Auch ein Aquarium oder ein Meerschweinchenkäfig machten zu viel Arbeit und waren auf Dauer zu teuer.

Langsam wurde Michael müde. Die Augen fielen ihm immer wieder zu.

Eine Fliege, die er steuern könnte, um andere, die er nicht mochte, zu ärgern. Auf einem Elefanten zur Schule zu reiten, wäre richtig toll. Ein Tyrannosaurus, der Harry jagte. Michael lächelte bei dem Gedanken.

Etwas Kuscheliges zum Schmusen – aber nicht so zerbrechlich. Furchterregend und trotzdem liebenswert.

Draußen schlug die Kirchturmuhr Mitternacht, doch das bekam Michael schon nicht mehr mit.

 

Michael erwachte aus einem Traum, der so schnell verflogen war, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte.

Der Wecker piepte. Michael sprang aus dem Bett. Die Goldmünze fiel ihm aus der Hand. Mit einem  Plopp landete sie auf dem Teppich.

Er schaute nach unten. Im Licht der aufgehenden Sonne sah er das Fellbündel auf dem Boden.

Er zog die Jalousie nach oben, um mehr sehen zu können.

Michael schlug die Hände vor den Mund, so sehr freute er sich.

Dort lag eine Katze und schnurrte, während sie schlief. Sie war sandfarben und kräftig. Sie gähnte, als die Sonnenstrahlen sie weckten.

Langsam stemmte sie sich auf und schlich um Michael herum. So gut es ging in dem kleinen Zimmer. Denn sie war so groß wie Michael selbst. Er streichelte sie und sie schmiegte sich an ihn. Lange Reißzähne ragten aus dem Maul.

Michel grinste: „Ein Säbelzahntiger! Da wird Mama aber große Augen machen und Harry erst!“