Von Magdalena Wenk

Wir leben in East St. Louis im Bundesstaat Illinois.
Das Stadtbild hier wird bestimmt von heruntergekommenen, graffitbesprayten Baracken und stillgelegten Fabriken und wenn man durch die Straßen wandert, findet man an jeder Ecke Menschen mit Zigaretten, deren Rauchschwaden ins fadenscheinige Hellblau des zerrissenen Himmels hinaufziehen, fast wie Geister.
 Meistens sind es Schwarze. Schwarze, deren Zukunft noch trüber ist als der Haschdunst, der sie umgibt.
Sie lungern in den Gassen herum und wenn du nicht aufpasst, überfallen sie dich.      
 Nimm dich in Acht, hat mein Großvater immer gesagt. Nimm dich in Acht, und geh nachts nicht auf die Straße, Jacob. Seit meine Mutter auf der Straße erschossen wurde, war er vorsichtiger geworden.
In St. Louis wird viel geschossen.
Mein Dad sagt immer, der amerikanische Traum habe sich hier ausgeträumt.
Er sei zerstoben- verpufft zwischen Gewalt, Armut und Kriminalität.
97,8 % der Bevölkerung in St. Louis sind schwarz. Man geht davon aus, dass die Verbrechensrate deshalb so hoch ist. Ständig patrouillieren Polizisten durch die Straßen, aber ich mag sie. Sie sorgen für Ordnung, für Gerechtigkeit. Sie haben diejenigen, die Mum getötet haben ins Gefängnis gebracht und beschützen uns vor Leuten wie ihnen.
Ich hasse das Leben in St. Louis.
Und dennoch werde ich wahrscheinlich nie von hier wegkommen, sondern irgendwann selbst einer der Schwarzen sein, die einem an der nächsten Straßenecke überfallen.
Unsere Zukunft ist vom Tag unserer Geburt vorherbestimmt. Das hat Großvater auch immer gesagt. Und für einen Schwarzen, der in East St. Louis aufgewachsen ist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du schlägst dich durch, indem du dir gewaltsam nimmst, was du brauchst. Oder du stirbst.

*

Selbst über Tagen, die eigentlich schön sein sollten, hängt in St. Louis ein dunkler Schleier.
Heute ist mein elfter Geburtstag.
Dicke Wolken thronen am Himmel und sehen aus wie graue, verklebte Watte.
Dad wechselt den gesamten Tag kaum ein Wort mit mir. Er redet nicht mehr viel seit die Sache mit Mum passiert ist.
Am Nachmittag kommt Tante Zora zu Besuch. Auch meine große Schwester Mia schlürft wenig später zur Haustüre herein. „Ach, Zora. Schön dich zu sehen“, murmelt sie erschöpft und streicht sich eine abtrünnige Haarsträhne aus dem Gesicht. Schweißperlen glänzen auf ihrer Stirn, weil sie wie immer die 15 Kilometer von der Arbeit bis nach Hause geradelt ist.
„Alles Gute zum Geburtstag, kleiner Bruder“ Sie wuschelt mir liebevoll durchs schwarze Haar und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Igitt Mia, ich bin doch keine 10 mehr“ Sie lacht.
Als Mia sich gesetzt hat, hält Zora mir ein kleines Päckchen hin.  „Alles Gute zum Geburtstag, Jacob“ Ich strahle und mache mich auf der Stelle daran, das Papier abzureißen.
Nachdem ich den Deckel aufgeklappt habe, starre ich einen Moment lang auf den Inhalt des Paketes.
Ich blinzle, um mich zu vergewissern, dass mein Kopf mir keinen Streich spielt.
Aber der Gegenstand auf dem Boden des Päckchens bleibt derselbe.
Es ist eine Pistole.
Ich werfe Dad, der mindestens genauso bestürzt aussieht wie ich, einen schnellen Blick zu.
Ich hebe die Waffe auf. Sie liegt schwer in meiner Hand. Damit kann man Leben beenden. Damit wurde Mums Leben…
„Natürlich ist es nur eine Spielzeugpistole“, reißt Zora mich aus meinen Gedanken. Es dauert kurz, bis die Bedeutung ihrer Worte zu mir durchgesickert ist. „Ich dachte, sie könnte dir gefallen. Und außerdem weiß ich, wie gefährlich es hier in St. Louis ist. Eine Waffe schreckt Angreifer ab.“
Tränen steigen in mir hoch und verschleiern meinen Blick. Zora hat sich getäuscht. Ihr Geschenk gefällt mir nicht. 
„Du solltest jetzt gehen“, sagt Dad frostig. Als Zora keine Anstalten macht sich zu erheben, wird er lauter. „Geh! Verdammt noch mal!“ Er schreit jetzt und versprüht seine Spucke auf ihrem Gesicht. „Ich dachte…“, stammelt sie. „Raus!“, Dad schlägt mit der flachen Hand auf den Esstisch, sodass eine Tasse klirrend zu Boden fällt und in tausend Scherben zerbirst.
Ich starre auf die weißen Scherben und den Kaffee, der sich darum herum ausbreitet, fast wie eine schwarze Blutlache. Mums Blutlache.

*

Einige Tage später habe ich die Waffe immer noch. Ich trage sie stets bei mir. Mein Vater hat angeboten, sie an sich zu nehmen, aber ich habe abgelehnt. Ich habe begriffen, dass sie mich davor beschützt, dass mir dasselbe passiert wie Mum.
Wie jeden Mittwochabend haben wir sie heute am Friedhof besucht.
Als wir durch das schmiedeeiserne Tor wieder nach draußen treten, ist es ist bereits Abend. Eine schmale Mondsichel auf den schwarzen Himmel getreten, der sich über St. Louis wölbt wie ein dunkles Tuch. Ist der Himmel an anderen Orten auch so dunkel?
Die anderen Schwarzen in den Gassen beäugen uns neugierig und ich taste nach der Pistole in meiner Jacke. Sie ist noch da. Kalt und eisern. Und unecht. Mein Herz beginnt schneller zu pochen. Sie bietet mir im Ernstfall keinen Schutz. Sie ist lediglich eine Attrappe.
Plötzlich löst sich eine Gestalt aus dem wabernden Dunkel vor uns. „Hallo?“, Dads Stimme klingt hohl. „Hallo, wer ist da?“
Und dann passiert von allen Horrorszenarien, die ich mir ausgemalt habe, das Schlimmste:
Die Gestalt tritt auf meinen Vater zu, ein grobschlächtiges Grinsen auf dem Gesicht. Er ist ein Weißer, schießt es mir durch den Kopf und für einen Augenblick atme ich erleichtert auf. Weiße tun niemandem etwas. Die Verbrechen in St. Louis werden fast ausschließlich von Schwarzen begangen.
„Gebt mir euer Geld und euch passiert nichts“, zischt der Mann.
Mein Vater hält schützend die Hände vor mich und Mia und zieht mit zittrigen Händen seinen Geldbeutel hervor. Der Weiße reißt ihn ihm aus der Hand und öffnet ihn. Er lacht guttural auf. „Das soll alles sein? Du versteckst doch irgendwas“ Bevor Dad antworten kann, rammt der Mann ihm seine Faust ins Gesicht. Die Leute sehen jetzt zu uns herüber.
 Mein Vater hält sich die blutende Wange.
Dann stürzt er sich auf den Mann. Dads Faust kracht mit einem ekelhaften Knirschen gegen die Nase des Weißen, der zu Boden geht und ihn mit sich hinunterzieht. Blut rinnt aus den Nasenlöchern des weißen Mannes. Ich bin starr vor Entsetzen.
 Ich höre das schrille Kreischen der Polizeisirenen, noch bevor ich ihre zuckenden Lichter sehe. Dad hört sie auch. Erleichterung durchflutet mich. Jetzt wird alles gut. Die Polizei wird uns helfen.
 Doch die beiden Polizisten, die aus dem Auto springen, stürzen auf Dad zu und reißen ihn von dem Weißen weg. „Hat Ihnen der Mann etwas getan, Sir?“, fragt einer der Beamten den Weißen, während der andere Dads Oberkörper gewaltsam auf die Motorhaube des Polizeiautos presst, sodass er nach Luft ringt.
Wieso nehmen sie den Weißen nicht fest?
 „Sie waren Gott sei Dank früh genug da, um Schlimmeres zu verhindern.“, gibt der zurück und lässt sich von dem Polizisten auf die Beine helfen.
Wieso befragen sie meinen Vater nicht? Und wieso sagen sie Menschen um uns herum nichts? Sie können bezeugen, dass der Weiße lügt. Doch auf ihren schwarzen Gesichtern spiegelt sich Angst. Einige von ihnen weichen sogar zurück, als sie die Polizeibeamten sehen. Was ist hier bloß los?
Die Polizei ist doch gerecht!? Wieso nehmen sie das Opfer fest und lassen den Täter laufen? Mein Kopf weigert sich, das zu begreifen. „Stopp“, rufe ich, aber meine Stimme geht im Gemurmel der Leute unter. Einer der Polizeibeamten kommt auf mich und Mia zu, um uns ebenfalls zum Wagen zu geleiten. „Sie verstehen das nicht!“, brülle ich. Meine Gedanken überschlagen sich und die Angst wirbelt durch meinen Körper und lähmt meine Gliedmaßen. Es ist, als hätte jemand mich gepackt und mein Herz zusammengequetscht.
Und dann ziehe ich die Waffe unter meinem Mantel hervor. „Lassen Sie meine Familie in Ruhe!“, schreie ich den Polizeibeamten an, der mitten in der Bewegung erstarrt. Die Menschen um mich herum schnappen hörbar nach Luft. Es ist, als hätte ich einen Schalter betätig und den Moment eingefroren. 
„Leg die Waffe weg, Junge“, der Polizist kommt langsam auf mich zu, die Hand an seinem eigenen Waffenholster an seinem Gürtel. „Nein“, brülle ich. Tränen strömen über meine Wangen. Adrenalin jagt in Stößen durch meinem Körper. Sie dürfen Dad nicht wegsperren. Wir dürfen ihn nicht auch noch verlieren. Der Polizist hat jetzt seine eigene Waffe hervorgeholt und richtet sie auf mich. Mein Herz hämmert wie wild gegen meine Rippen, aber ich lasse meine Pistole nicht sinken. Großvater hat immer gesagt, man müsse sich für das einsetzen, was einem wichtig wäre. Meine Familie ist mir wichtig. Dad brüllt irgendwas, aber ich kann es nicht verstehen. Die Welt um mich herum dreht sich schneller und schneller. „Bitte, Sie verstehen das nicht. Die Pist…“, fleht Mia.
Dann zerreißt ein ohrenbetäubender Schuss die Stille.
Ich werde rücklings auf den Asphalt geschleudert.
 „Jacob!“, schreit jemand und ich spüre den pochenden  Schmerz der sich rasend schnell von meiner Brust aus in meinem gesamten Körper ausbreitet. Ich blicke in das leichenblasse Gesicht der Polizisten, der den Schuss abgefeuert hat. Er hat die Waffe fallen gelassen und bleibt wie angewurzelt in einigen Metern Entfernung stehen. „Jemand muss einen Krankenwagen rufen!“, Mia fällt neben mir auf die Knie, doch ihre Worte verhallten in der Nacht wie ein unerwidertes Echo und niemand leistet ihnen Folge. Die Zeit steht still. „Jacob, sieh mich an“, wispert Mia unter Tränen. „Alles wird gut“ Mein Atem geht flach und stoßweise. Der Blutfleck um die Einschussstelle auf meiner Brust wird immer größer. Und dann schließe ich die Augen. Ich höre Mia tränenerstickt etwas rufen, aber ich verstehe nicht mehr, was. Meine Glieder erschlaffen.
In einer schwarzen, sternenlosen Nacht verlasse ich diese schwarze, hoffnungslose Stadt für immer.
Das einzige, was von mir übrigbleibt, ist mein Blut, das den Asphalt in ein tiefes Rot taucht und sich mit dem Blut des weißen Mannes vermischt, dem Dad die Nase gebrochen hat.
Mein und sein Blut haben dieselbe Farbe.