Von Juliane Soain

Gefühlt war es der beste Tag des Sommers. Superwarm, nur ein laues Windchen strich angenehm über die Haut. Ein perfekter Tag für den Strand. Viele meiner Freunde kamen zu diesem Treffen. Auch Annie war wieder dabei. Auf sie habe ich mich am meisten gefreut. Leider haben wir uns schon recht lang nicht mehr gesehen, und das, obwohl wir uns gleich auf Anhieb verstanden. 

„Träum nicht“, rief Annie mir zu, als mich der Ball am Arm traf. Langsam hob ich ihn auf und warf zurück. Geschickt wich sie mit einem Drehsprung aus und blickte mich neckisch an. Während wir versuchten, uns gegenseitig abzuwerfen, dachte ich drüber nach, wie lange ich sie schon kenne. Fast sechs Jahre müssten es sein. Gefühlt eine Ewigkeit. An unser erstes Treffen erinnerte ich mich, als ob es erst gestern gewesen wäre. Freunde brachten sie mit. Ein wunderschöner Abend endete leider viel zu schnell. Dass ich sie erst nach einer langen Zeit wiedersehen würde, ahnte ich damals noch nicht.

Plötzlich traf mich wieder ein Ball und riss mich aus meinen Gedanken. Frank kam angerannt. Ich ahnte nichts Gutes, doch blieb mir keine Zeit mehr, um davonzurennen. Schon packte er mich und schmiss mich auf die Schulter. 

„Wer fünf Mal abgeworfen wird, geht baden!“ Doch nicht mit mir, dachte ich und versuchte, mich zu wehren. Doch alles vergeblich. Als ob ein Wiesel aus dem festen Griff eines Bären entkommen wollte.

„Na warte, Frank, wenn ich dich erwische!“, brüllte ich wie ein begossener Pudel aus dem Wasser. Und genauso sah ich auch aus. Eigentlich war Frank ein Arsch. Seinetwegen war Annie immer traurig. Alle wussten es. Es war ein offenes Geheimnis. Leider ist er zu keinem besonders nett. Ich weiß gar nicht, was alle an ihm fanden.

Nachdem meine Freunde genug über mich gelacht hatten, zog ich mich zurück. Ein wenig Ruhe tat mir gut. Zum Glück befand sich drei Aufgänge weiter ein toller Ort. Dort hatte das Meer etwas vom Land weggespült. Nun befindet sich am Waldrand eine, – ich nenne es einfach mal Miniklippe. Sie ist vielleicht fünf Meter hoch. Ein schöner Ort zum Füße baumeln lassen, ohne sich in wirkliche Gefahr zu begeben.

Als ich mich dem Vorsprung näherte, saß dort bereits jemand. Einige Meter weiter erkannte ich Annie. 

„Hat er dich auch vergrault?“, setzte ich mich zu ihr. Sie nickte nur stumm.

„Ich habe gehört, dass es für dich nicht einfach ist.“

Tränen liefen ihren Wangen herunter. Vorher fielen sie mir überhaupt nicht auf. Sanft legte ich meinen Arm um sie. Woraufhin sie ihren Kopf an meine Schulter lehnte. Es fühlte sich fast an, als ob wir verbunden wären. Als ob ihr Schmerz auf mich überging. Ich fühlte mit ihr. 

„Wir sollten wieder zurück“, merkte ich eine Ewigkeit später an, auch wenn ich gerne noch mit ihr hiergeblieben wäre.

„Die anderen werden uns schon vermissen.“

„Frank ist ein Arsch. Immer tyrannisiert er mich. Ich kann ihm nichts recht machen. Egal wie sehr ich mich anstrenge, es ist nie genug. In seinen Augen bin ich nichts. Nur die ganze Hausarbeit, dafür bin ich gut genug“, wischte sie sich die Tränen aus den Augen.

Ratlos stand ich da. Doch schon einen Moment später setzte sie ein Lächeln auf. „Lass uns gehen.“

So wie das mit schönen Tagen ist, gehen sie auch irgendwann leider zu Ende. Als wir uns verabschieden wollten, lehnte Annie sich an mein Auto. Diese fiesen Knöpfe an den Jeans! Das Geräusch erinnerte mich an die Tafel in der Schule und diesen einen Lehrer, der immer mit der Kreide gequietscht hat. Vier hässliche Streifen, bis auf die Verzinkung, zierten nun mein Auto! Ihr hättet ihren Blick dabei sehen sollen. Pure Absicht! Nun gut. Nachdem ich wieder normal atmen konnte, sagte ich ihr, dass es nur ein Auto ist und sie nächstes Mal besser aufpassen soll.

 

***

Gefühlt ist heute der regnerischste Tag des ganzen Jahres. Seit heute Morgen schüttet es wie aus Eimern. Nach dem Arbeitstag freue ich mich schon auf das Feierabendbier und seichte Unterhaltung aus der Flimmerkiste. In meinem Kopf blitzt plötzlich ein Gedanke auf, als irgendein Star anfängt, von irgendwelchen Tests zu erzählen. Und einen Moment später fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Wie in einem Film spulen sich die Ereignisse vor mir ab. Von den Kleinigkeiten, wie auf den Fuß zu treten bis zu den Kratzern am Auto. 

Hat mich Annie all die Jahre getestet? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Oder sind das Sachen, die sie bereits negativ erlebt hat? Wollte sie wissen, wie ich drauf reagiere? Aber wozu? Genüsslich nehme ich einen Schluck. Voller Stolz sitze ich da, das Rätsel um Annies seltsames Verhalten gelöst zu haben. Das kam mir schon immer seltsam vor. Der Flimmerkiste habe ich bisher keine große Beachtung geschenkt. Zu sehr beschäftigt mich die Sache mit den Tests. Nun lenkt aber dieser rappende Typ für einen kurzen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich. 

„Ich werde nie vergessen“, gibt er zum Besten, gefolgt von etlichen Beleidigungen. Noch bevor ich einen tieferen Sinn darin erkennen kann, klingelt es plötzlich an der Tür. Eiskalt läuft es mir den Rücken runter. Wer hat sich zu so später Stunde hierher verirrt? Neugierig gehe ich hin. Meine Hand auf dem Türgriff, spüre ich die innere Unruhe. Was wenn es ein Räuber ist? Durch die milchige Scheibe erkenne ich nicht viel. Die dunkle Lampe, die ich längst austauschen wollte, rächt sich für meine Faulheit. Mindestens 30 Sekunden stehe ich mit der Klinke in der Hand und zögere. Schließlich drückt die Neugier sie nach unten. Durchfeuchtete Regenluft strömt mir entgegen. Wie herrlich frisch sie doch ist! Als ich die Tür zur Gänze öffne, erblicke ich dieses völlig durchnässte, kleine Wesen, das hoffnungsvoll zu mir aufblickt.

Meine Augen mustern sie und blieben an ihrem nassen Kuscheltier hängen, das unter ihrem Arm klemmt. Teddys Fell ist ebenso durchnässt und die einst flauschigen Haare kleben in Strähnchen zusammen.

Völlig überrascht, sprudelt es aus mir heraus: „Was machst du denn hier, Annie? Ich mein, weiß du, wie spät es ist?“

Eigentlich habe ich keine Antwort erwartet und fahre fort: „Ach sicherlich weißt du es. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“, wobei ich mir die letzte, dumme Frage hätte sparen können. Sicherlich wussten sie es nicht.

Die Kratzer am Auto. Das war sicherlich der finale Test. Franks Heiligtum, sein Auto. Sie hat es bestimmt mal unabsichtlich zerkratzt. Wie konnte ich dieses Puzzlestück übersehen?

Obwohl der Regen ihr immer noch ins Gesicht peitscht, kann ich klar erkennen, wie Tränen ihre Wangen herunterlaufen. Mir ist schon länger bewusst, wie hart die Zustände bei ihr zuhause sind. Ein Mädchen, das nicht geliebt wird. Sowas kann auf Dauer nicht gut gehen.

„Komm erst mal rein. Ich hole dir ein Handtuch und mache dir einen Kakao. Danach kannst du mir ja erzählen, was passiert ist. Und dann rufen wir deine Eltern an“, lege ich schon das Programm für nachher zurecht. 

Mit einer trotzigen Elfjährigen habe ich natürlich noch keine Erfahrung. „Nein, ich will nicht wieder zurück.“

Einerseits bin ich stolz. Andererseits bin ich besorgt. „Zumindest einen Brief sollten wir deinen Eltern schreiben, dass es dir gut geht.“

Nachdem sie gegessen und getrunken hat, legen wir uns auf das Sofa. So wie sie mich umklammert, habe ich das Gefühl, dass sie seit langem zum ersten Mal glücklich ist. Obwohl sie die ganze Zeit geweint hat. Es dauerte nicht lange, bis sie friedlich in meinem Arm einschläft. 

***

Ich liebe dieses Auto. Hier vergesse ich immer die Zeit. Angenehm blubbert der Motor vor sich hin, während ich versuche, meine Gedanken zu sammeln. 

Bin ich rational? Eher nein.

Als Annies Telefon klingelt, sehe ich, wie sie zusammenzuckt. Langsam versuche ich, es aus ihrer festen Umklammerung herauszuziehen. Es dauert einen Moment, bis ihre Finger nachgeben. Einen Augenblick später, schlägt es auf dem Boden auf. Ein Riss zieht sich vom unteren Rand zum oberen und durchschneidet dabei Franks Namen. 420 PS drücken uns unserem Ziel entgegen. Wobei, der Weg ist das Ziel. Oder?

 

V3

Vielen Dank an alle, die mitgewirkt haben!