Von Eva Fischer

Meine Knie zittern. Die Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner Brust.

Wo ist Felix? Wie kann er so plötzlich aus meinem Sichtfeld verschwinden?

Der Spielplatz liegt einsam und verlassen in der sonntäglichen Mittagssonne. Gerade noch habe ich ihn auf dem Klettergerüst gesehen. Mit seinen zwei Jahren ist er ein sportlicher Kletterer, der jedoch nie ein waghalsiges Abenteuer eingeht. Auch ist er viel zu anhänglich, als dass er weglaufen würde.

„Felix! Felix!“ Mein Rufen verwandelt sich alsbald in hysterisches Krächzen, ja Flehen.

Der Spielplatz zwischen den Häusern ist relativ klein. Schon mehrfach bin ich ihn jetzt abgegangen. Dahinter erstreckt sich ein Fußweg, der zu unserem Haus führt. Aber auch da sehe ich Felix nicht.

 

*

 

„Ihr Sohn ist wirklich süß und hübsch wie seine Mama! Man sieht gleich, dass er Ihnen vertraut und dass Sie eine gute Beziehung zueinander haben.“

Ich schaue Felix zu, wie er mit dem Schäufelchen aus Sand eine imaginäre Pizza backt. „Für Mama!“  Er strahlt mich an, während er mir mit seinen kleinen Händen ein Stück anbietet, das zwischen seinen Fingern zerrinnt.

„Hm. Lecker!“, übernehme ich die restlichen Sandkörner.

Es ist Montagmorgen. Wir sind alleine auf dem Spielplatz. Zumindest sind keine Kinder hier. Eine junge Frau sitzt eine Bank weiter. Mal liest sie in ihrem Buch, mal schaut sie freundlich zu uns herüber.

„Nicht schlecht, wenn man nicht arbeiten muss“, zwinkert sie mir zu. „Mögen Sie auch eine Tasse Tee?“ Aus dem Rucksack holt sie eine Thermoskanne und schüttet Tee in zwei Plastiktassen. Felix schaut ihr interessiert zu.

„Für dich, kleiner Mann, haben wir natürlich auch etwas.“

Aus der Alufolie wickelt sie ein Stück Marmorkuchen. „Selbstgebacken“, erklärt sie mir. „Darf er ein Stück haben?“

Felix wartet meine Antwort nicht ab, sondern greift nach dem Kuchen, der ihm ganz offensichtlich schmeckt.

„Ich heiße Marie“, sagt die Fremde und reicht mir die Hand. Sie dürfte etwas älter als ich sein. Ihre blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Braune Augen schauen mich neugierig an. Ihre schlanken Beine stecken in weißen Jeans. Sie trägt ein modisches, fliederfarbenes Top.

„Und Sie müssen nicht arbeiten?“, frage ich, während ich die Tasse Tee dankend entgegennehme.

„Ach wissen Sie, meine Freiheit ist mir wichtig. Ich arbeite im Homeoffice. Da kann ich mir die Arbeit einteilen. Ich bin für einen Verlag tätig.“

„Ich war im Grunde gerne berufstätig“, gestehe ich. „Der Kontakt zu Erwachsenen fehlt mir. Auch wenn ich meinen Sohn natürlich über alles liebe.“

„Natürlich“, bekräftigt sie meine Aussage. „Das verstehe ich gut. Was haben Sie denn beruflich gemacht?“

„Ich habe im Hotel gearbeitet. Die Arbeitszeiten sind leider nicht kitakonform und mein Mann möchte, dass ich mich um die Familie kümmere. Er hat sich in der Computerbranche selbstständig gemacht, kommt meist spät nach Hause und will dann keine gestresste Ehefrau vorfinden oder gar alleine sein. Außerdem müsste ich dann auch mal sonntags arbeiten. Das gefällt ihm schon gar nicht.“

Marie wiegt den Kopf. „Das ist in der Tat schwierig. Das sehe ich ein. Wenn Sie Lust haben, können wir uns öfter treffen und ein bisschen miteinander quatschen. Solche Vormittage sind auch mir wichtig. Sie entspannen mich und machen mir den Kopf frei für meine Arbeit.

*

 

Marie ist ein Geschenk. Das Beste, was mir passieren konnte!

Wir treffen uns jetzt fast täglich. Sie hat immer neue Ideen.  Mal gehen wir mit Felix im Buggy in den Zoo oder bummeln durch die Einkaufsstraße oder setzen uns in ein Café und lästern über die Passanten oder schlendern durch einen Park. Das Gespräch geht uns nie aus und auch Felix liebt Rie, wie er sie liebevoll nennt. Sie erfindet immer neue Spielchen, bringt ihn zum Lachen.

Selbst Jörg ist der Meinung, dass ich mich positiv verändert habe, dass ich viel offener und lebenslustiger geworden bin.

„Du würdest doch so gern ans Meer fahren“, sagt Marie eines Tages zu mir. „Was hältst du davon, wenn wir deinen Traum Wirklichkeit werden lassen und für ein Wochenende gemeinsam verreisen?“

„Ich weiß nicht, ob Jörg damit einverstanden ist“, wende ich ein.

„Lass mich nur machen“, sagt sie und legt ihren Arm um meine Schultern.

*

 

Am nächsten Samstag lade ich Marie zum Essen ein. Jörg ist neugierig auf meine neue Freundin. Sie bringt ihm seinen Lieblingsrotwein mit und mir einen großen Strauß duftender Sommerblumen. Es wird ein sehr entspannter Abend. Wir plaudern und lachen, als würden wir uns seit Kindertagen kennen. Als Marie meinem Mann den Vorschlag unterbreitet, ein Wochenende mit mir ans Meer zu fahren, stimmt er zu meiner großen Überraschung zu.

„Natürlich, Luisa, braucht etwas Abwechslung. Sie hat es nicht leicht immer nur mit dem Kleinen um sich herum.  Ich werde mit Felix ein Männerwochenende planen. Das tut uns beiden auch gut. Außerdem kann ich vorerst in meiner Firma keinen Urlaub nehmen. Also amüsiert euch! Wo soll es denn hingehen?“

„Nach Kijkduin. Ich kenne dort eine nette, kleine Pension, mache selber gerne Spaziergänge am Meer, vor allem jetzt im Juni, wenn die Feriensaison noch nicht begonnen hat.“

Marie blinzelt mir verschwörerisch wie eine Schwester zu, der es gelungen ist, die Eltern zu überreden, uns eine sturmfreie Bude zu hinterlassen.

*

 

Wir fahren mit Maries offenem Cabrio. Über uns ist der Himmel, Freiheit! Baumwipfel tanzen im Wind. Die Aussicht auf Sonne, Sand und Meer lässt meine Glückshormone weiter nach oben schießen. „Cause I’m happy…“ grölen wir in einer Endlosschleife.

In der Pension angekommen, werfen wir unsere Koffer in die Ecke, bevor wir Hand in Hand zum Strand laufen.  Ich löse mich und renne mit nackten Füßen ins Meer. Marie holt mich ein und legt ihre Arme von hinten um meine Taille.

„Bist du glücklich, Süße?“ Ich spüre ihren Atem, bevor sie mir einen Kuss auf die Lippen drückt. 

„Überraschung!“ Wie eine Zauberin zieht sie zwei Pikkolos aus ihrem Rucksack.

„Darf es ein Glas Champagner für die Lady sein?“

„Und heute Abend gehen wir tanzen!“ Ihre Augen funkeln mich an. Sie dulden keinen Widerspruch.

Wann war ich das letzte Mal so glücklich? Alles ist wie ein Rausch, ein Ausflug ins Abenteuerland, weit weg von jeglichem Alltag, jeglicher Norm, jeglicher Vorstellung, was möglich ist.

Als wir gegen drei völlig erschöpft auf unser Doppelbett sinken, massiert mir Marie die Schultern und streichelt meine Brüste. Es ist mir nicht unangenehm. Ich habe Jörg und sogar Felix vergessen, als ihre Hände noch weiter nach unten wandern.

„Das kannst du immer haben, Süße“, wispert sie mir ins Ohr.

*

Als ich morgens wach werde, spüre ich ihren Körper wie eine Katze um mich gewickelt. Sanft mache ich mich frei und gehe zur Toilette. Mein Kopf dröhnt. Der Blick in den Spiegel zeigt ein übernächtigtes, blasses Gesicht. Die Wimperntusche hat Schlieren hinterlassen. Ungläubig starre ich mich an. Scheiße! Das bin ich nicht! In was für eine Situation habe ich mich da reingeritten!

Beim Frühstück gibt mir Marie eine Kopfschmerztablette und ein Glas Wasser. Wir machen noch einen Spaziergang am Meer, aber sie spürt, dass ich auf Distanz gehe. Sie nimmt Rücksicht, bleibt freundlich und gut gelaunt.

„Wen liebst du am meisten, Luisa?“, fragt sie mich auf der Rückfahrt.

„Felix!“, antworte ich spontan.

„Falsche Antwort, meine Liebe!“

„Und was wäre die richtige Antwort gewesen?“, hake ich nach.

„Jörg, natürlich!“ Sie bricht in ein schrilles, gekünsteltes Lachen aus, dass es mir kalt über den Rücken fährt.

Nein, „Marie“ wäre für dich die richtige Antwort gewesen, denke ich, schaue aus dem Fenster und hoffe, dass ich bald zu Hause bin.

*

 

Marie lässt nicht locker. Ich brauche Zeit. Das könne sie verstehen. Ihre Hartnäckigkeit macht mich zunehmend nervös. Jeden Tag schickt sie mir WhatsApp, möchte mich sehen. Jörg kann ich meine Probleme nicht anvertrauen, aber auch er spürt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Nachts wache ich immer wieder schweißgebadet auf, sehe ihr Gesicht wie eine Fratze vor mir. Tagsüber bin ich unkonzentriert und fahrig. Trübe Gedanken quälen mich. Ich fühle mich wie in einer Falle.

Marie schlägt mir einen guten Psychologen vor, den sie kennt. Entsetzt lehne ich ab.  Ich wünschte, ich wäre ihr nie begegnet.  „Verschwinde aus meinem Leben!“, fauche ich sie an. „Das meinst du nicht wirklich, Luisa! Du bist krank, sehr krank. Lass dir doch endlich von mir helfen!“

*

 

„Felix!“ „Felix!“

Meine Schreie versickern ungehört zwischen den Häusern, prallen ohne Antwort von den tauben Wänden ab.

Ich habe Angst, jeden Augenblick den Boden unter meinen Füßen zu verlieren. Vielleicht ist Felix doch schon zu Hause? Zitternd mache ich mich auf den Weg, suche nach dem Hausschlüssel, als mir mein Mann öffnet.

„Luisa, was ist nur los mit dir? Kannst du nicht mehr auf unseren Sohn aufpassen? Zum Glück hat Marie ihn auf der Straße gefunden und hergebracht.“

Ich sehe Marie im Halbdunkel stehen. Auf dem Arm trägt sie Felix, der mich verängstigt ansieht.

„Gib mir sofort meinen Sohn zurück!“, brülle ich sie an. Sie dreht sich zu Jörg um, als wäre ich eine lästige Besucherin.

„Der Arzt wird gleich da sein“, sagt sie.

Warum sieht keiner außer mir, dass diese Frau wahnsinnig ist?