Von Karl Kieser

„Greif zu, mein Lieber!“

Na, das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Die Kekse sehen ja auch ganz lecker aus. Was mögen die wohl für eine Füllung haben?
Mit dem ersten Biss darf ich nicht zu gierig erscheinen. Schließlich will ich einen guten Eindruck machen. Die beiden beobachten mich gespannt. Ich bereite mich innerlich darauf vor, ein überschwängliches Urteil abzugeben und beiße herzhaft zu.

Ich spüre es sofort, das war ein Fehler. Der Keks hat die Konsistenz von Beton. Die Füllung dagegen ist zu weich. Sie wird nach hinten herausgepresst und landet als satter Klecks auf meinem neuen Schlips. Das ist aber nicht mein akutes Problem. Eigentlich würde ich gerne schnell mal meine Schneidezähne untersuchen, ob sie noch intakt sind oder ob Bruchstücke davon sich mit den Betontrümmern in meinem Mund vermischen. Keramik gegen Beton, geht das gut? Die dentalen Nervenenden melden jedenfalls Alarm und ich kann gerade noch verhindern, alles in die hohle Hand zu spucken.
In den Gesichtern meiner Gastgeber scheint sich etwas zu verändern. Beim Hausherrn wandert die linke Augenbraue Richtung Haaransatz, seine Gattin bekommt einen besorgten Ausdruck. Habe ich mich etwa schon verraten? Bilden sich Unmutsfalten auf meiner Stirn? Der verkleckerte Schlips reist jedenfalls keinen von beiden aus dem Sessel. Mein Urteil scheint ihnen wichtiger zu sein.

Der vordersten Reihe meines dentalen Blendwerkes kann ich diese grobe Behandlung unmöglich ein zweites Mal zumuten. Ein Ablenkungsmanöver muss her. Ich hebe die linke Hand zum Zeichen, dass ich noch etwas Zeit brauche, weil ich noch nicht das volle Aroma auskosten konnte. Währenddessen schiebt meine Zunge die Brocken weiter nach hinten, damit sie von den strapazierfähigeren Backenzähnen zu Staub zermalmt werden können.
Es kracht bedenklich, aber wenn die oberste Schicht der Betonkekse erstmal durchbrochen ist, geht es doch einigermaßen zügig weiter.
Bisher habe ich mich, aus Angst um meine erst kürzlich renovierten Kauleisten, nicht auf die Würze konzentrieren können. Doch mit der fortschreitenden Zermalmung kommen immer mehr Geschmacksknospen mit dem Betonstaub in Berührung. In meinem Mund breitet sich ein säuerliches Aroma aus, das nach einer süßen Füllung schreit. Schade, die hat sich ja vollständig auf meinem Schlips entspannt.

Beim Hausherrn strebt nun auch die rechte Braue ihrem Zwilling nach, die inzwischen schon die halbe Stirn erklommen hat.
Die Gattin kann nicht mehr an sich halten. Ihr Timbre schwankt zwischen besorgt und hoffnungsfroh:
„Na, was sagst du?“

Ich kann nur ganz flach durch die Nase atmen. Wenn ich jetzt den Mund aufmache, dann wird der Betonstaub in meine Lunge gesogen. Das wird eine Katastrophe. Das anschließende Husten und Keuchen wird uns den Abend verderben und ich werde nicht einmal mein Urteil abgeben können.
Ich schüttele den Kopf, schwenke meine immer noch erhobene Linke und verdrehe die Augen. Das alles soll signalisieren, dass ich noch Zeit brauche, während ich verzweifelt versuche, den säuerlichen Betonstaub so weit einzuspeicheln, dass ich ihn gefahrlos in meinen Magen umleiten kann.

Was haben die zwei sich eigentlich dabei gedacht? Haben die nicht mal selbst einen Keks probiert, bevor sie sich einen Testesser einladen? Sind wir nicht Freunde?
Doch, das sind wir!
Daher, und weil ich stets an das Gute im Menschen glaube, schließe ich ein Attentat auf meine Gesundheit aus. Gründe für eine mögliche Erklärung fallen mir ein. Vermutlich hat der ofenfrische Keks viel bissfreudigere Eigenschaften. Möglicherweise gibt es sogar einen Kipppunkt und der hat die gesamte Keksproduktion erst kurz vor meinem Eintreffen in Beton verwandelt. Ähnlich, nur eben umgekehrt, könnte es sogar bei der Füllung sein, auf die ich inzwischen sehr neugierig geworden bin.
Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich meiner experimentierfreudigen Gastgeberin als Verkoster diene. Meine Freunde wissen, dass sie sich auf ein wohlwollendes, aber halbwegs ehrliches Urteil verlassen können.

Endlich ist es so weit. Die Ausbeute des ersten, ungestümen Angriffs auf den Keks ist zu einem Brei geworden, den ich vertrauensvoll hinunterschlucke. Das haben meine Freunde auch registriert. Die Spannung in ihren Gesichtern steigt.
Ich wedele weiter mit meiner Linken, während ich stumm mit dem Keks über den Klecks auf meinem Schlips schabe, um wenigstens etwas von der Füllung probieren zu können. Dann nage ich, ganz vorsichtig, an dem leicht beklecksten Keks und schließe verklärt die Augen, während ich erfolglos zu ergründen versuche, aus was im Himmel, diese Füllung bestehen könnte. 

Als ich meine Augen wieder öffne, haben sich meine Gastgeber vorgeneigt und starren mich gespannt an. Der Ton meiner Freundin ist jetzt drängend, als sie hervorstößt:
„Also, was ist jetzt? Heraus mit der Sprache!“

Ich lehne mich zurück in meinen Sessel und betrachte den angeknabberten Keks interessiert von allen Seiten. Dann lege ich ihn bedächtig vor mich auf den Wohnzimmertisch. In Gedanken wünsche ich ihm ein langes Leben.
Was mache ich jetzt? Ein schmeichelhaftes Urteil wäre Verrat an unserer Freundschaft. Hier hilft nur schonungslose Offenheit.

Noch bevor ich die einleitenden Worte finde, hält es auch mein Freund nicht mehr aus und versucht mich mit der Aussicht auf Rettung meiner Krawatte zur Eile zu drängen:
„Jetzt mach hin, Junge, sonst ist dein Schlips endgültig hinüber.“

Ich sehe meiner Freundin tief in die Augen. Fasziniert bemerke ich, dass sie um eine Nuance dunkler werden. Was mag das bedeuten? Galante Abwege sind jetzt aber nicht angemessen, daher zwinge ich mich in den Anfang meines Gutachtens:

„Liebe Doris, du weißt, dass ich deine Kreativität bewundere, aber mit diesem Backwerk hast du dein Talent in Stein gemeißelt.“

Ihre Augen werden wieder heller, beginnen zu strahlen. Bei Olav dagegen wandert die linke Braue wieder die Stirn hinauf. Ich weiß ja, dass unsere Freundschaft einige Knuffe verträgt, will es aber auch nicht übertreiben. Deshalb mache ich schnell weiter:
„Noch nie in meinem Leben habe  ich ein so interessantes Produkt verkostet. Die Zukunft wird zeigen, wie dauerhaft es die Jahrhunderte übersteht.“

Bei Doris bilden sich zwei steile Falten über der Nasenwurzel. Im krassen Gegensatz dazu wandern bei Olav nun auch die Mundwinkel nach oben. Unbeirrt, aber mit todernster Miene, gelingt mir die Fortsetzung:

„Die Prise Zement, die dem Teig seine unvergleichliche Bissfestigkeit verleiht, wird in perfektem Timing rechtzeitig vor meinem Eintreffen vollständig abgebunden haben. Ich muss meinem Zahnarzt unbedingt erzählen, dass ich sogar Beton mit seiner Spitzenleistung zerkauen kann.“

Doris starrt mich ungläubig an. Oh, ich weiß sehr gut, dass sie von mir mehr Unterstützung erwartet hat.
Olav wiehert vor Vergnügen, als er sich nun an seine Frau wendet:
„Ich hab’s dir gesagt, Kurt wird dir diese Missgeburt von einem Keks schonungslos um die Ohren hauen.“

Ich bin noch nicht fertig. Schließlich will ich eine umfassende Expertise abliefern. Also werfe ich Olav einen vernichtenden Blick zu und fahre fort:

„Die leicht saure Würze des Betonstaubes wäre durch eine cremige Süße wunderbar ausbalanciert worden, wenn sich die Füllung nicht bei der geringsten Belastung vollständig davonmachen würde. Die Füllung selbst ist eine bombastische Geschmackssensation. Ich glaube, ich habe Schokoladencreme, Tomatenmark und Erdbeere herausgeschmeckt.“

Olav haut sich vor Vergnügen auf die Schenkel und auch Doris muss inzwischen schmunzeln. Sie ist zum Glück nicht nachtragend und für jeden Scherz zu haben. Eine Empfehlung muss ich noch loswerden:
„Ich komme also zu meinem abschließenden Urteil: dieser Keks ist nahe daran, ein unzerstörbares Kunstwerk zu sein. Er sollte für alle Zukunft unversehrt aufbewahrt werden und sein Rezept sollte auf ewig verschollen bleiben.“

Doris lächelt wieder.
„Also gut, du Filou. Jetzt gib mir deinen Binder, damit ich ihn auswaschen kann.“

„Oh nein, meine Schöne. So wie er ist, wird er mich stets an dieses unvergleichliche Erlebnis erinnern und ihr werdet ihn immer dann wiedersehen, wenn ich zu einer neuen Verkostung eingeladen werde. Vielleicht regt sich dann euer schlechtes Gewissen und ich bekomme wenigstens ein leckeres Abendessen.“

Wir haben noch viel gelacht an diesem Abend. Die Vorschläge zur Vermarktung reichen vom Pflasterstein über Hüpfstein bis zum Schwiegermutter-Geschenk.
Der angeknabberte Keks findet seinen Ehrenplatz in Doris‘ Kuriositätenvitrine.
Es ist Doris selbst die schließlich entscheidet, die gesamte Testproduktion – immerhin noch 20 Kekse –  im nahen Wald zu verstreuen, als Prüfung für die Robustheit der Kiefer von Wildschwein und Co.