Von Agnes Decker

Während die Maschine leise vor sich hin gurgelt und die Küche mit dem Duft frisch aufgebrühten Kaffees erfüllt, schaue ich aus dem Fenster. Noch liegt der Garten im Schatten, doch durch die dicht belaubten Zweige des Apfelbaumes dringen schon die ersten Sonnenstrahlen. Auf nackten Füssen gehe ich durch den Flur, öffne die Haustür,  greife in die Röhre des Briefkastens. Mit der Tageszeitung in der Hand bleibe ich stehen. Schräg gegenüber ist die Nachbarin schon dabei,  ihre Fensterbänke abzuwischen. „Muss mich beeilen, solange es noch nicht so warm ist“, ruft sie mir zu und betrachtet dabei missbilligend meinen Schlafanzug. So ist das hier in unserer Siedlung. Aber immer noch besser als in dem Stadtteil, in dem wir vorher wohnten,  wo die gut betuchten Trendsetterinnen ungeschminkt noch nicht einmal zur Mülltonne gingen. Da ist die kleinbürgerliche Geschäftigkeit der Vorstadt doch wesentlich besser zu ertragen. Egal, was die Nachbarn denken und reden, ich werde morgens um diese Zeit nicht eine einzige Fensterbank abwischen. Anpassung war sowieso noch nie mein Ding. Andreas ist ebenso gestrickt, und das ist nicht unsere einzige Gemeinsamkeit. Ein warmes Gefühl steigt in mir auf.

Ich klemme mir die Zeitung unter den Arm und gehe zurück ins Haus. In der Küche nehme ich eine meiner Lieblingstassen aus dem Schrank und stelle sie auf die Anrichte. „Der frühe Vogel kann mich mal“, steht darauf, neben einem bunten Vogel, der sich mit einem Flügel die Augen zuhält. Na, wenn das nicht zu diesem Morgen passt. Mein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen.  Nachdem ich Kaffee und Milch eingefüllt habe, durchquere ich Küche und Wintergarten und öffne die Tür zum Garten. Der Duft des Kaffees, der aus meiner Tasse steigt vermischt sich mit dem der Rosen und des Lavendels. Unter meinen nackten Füssen kitzelt mich das noch feuchte Gras. Ich atme tief ein. Vorsichtig stelle ich meine bis zum Rand gefüllte Tasse auf den kleinen runden Tisch unter dem Rosenbogen und lasse mich mit einem tiefen Seufzer auf die Holzbank fallen. Das Leben ist doch einfach großartig.

Ich entfalte die Zeitung und drehe sie so herum, dass der hintere Teil oben liegt. Dann nehme ich den ersten Schluck und beginne, die Zeitung von hinten nach vorne zu lesen. So wie immer. Dabei seufze ich genussvoll vor mich hin und bin wieder einmal sehr froh, dass ich als Freiberuflerin meinen Tagesablauf selber gestalten kann.

„He, meine Schöne.“ Andreas steht in der offenen Terrassentür. Obwohl schon in Hemd, Hose und Krawatte, die Arbeitstasche und seine Anzugjacke unter dem Arm, sieht er noch herrlich verschlafen aus. 

Ein Rumpeln und Poltern lässt mich aufschrecken. Die Müllabfuhr kommt doch erst morgen oder hat sich das mal wieder geändert? Ich springe so schnell auf, dass ich meine Tasse umwerfe. Der Kaffee ergießt sich über die Zeitung und tropft auf den Boden. 

„Was ist da los?“ Ich laufe ins Haus und bleibe in der Küchentür stehen.  

„Keine Ahnung. Vielleicht ein Lkw.“ Andreas, der hinterher gekommen ist, lächelt mich an. „Sicher nichts Dramatisches, meine Süße.“

Vermutlich hat er recht. Ich nehme einen Lappen und ein Handtuch und mache mich auf, den Gartentisch abzuwischen.

Jetzt rumpelt es wieder,  lauter und so heftig, dass die Gläser im Geschirrschrank klirren. Andreas, der sich gerade einen seiner geliebten Doppelkekse aus der Schale auf dem Esstisch genommen und herzhaft hineingebissen hat, bleibt stehen und starrt mich an. Ich starre zurück. Sehe seine weit aufgerissenen Augen, seine in Falten gelegte Stirn  und seinen mit Puderzucker verschmierten Mund. Ein Teil der Füllung aus dem Keks ist auf seiner Krawatte gelandet, läuft langsam an ihr herunter und tropft auf sein weißes Hemd. Andreas schaut auf sein Hemd und dann mich an und wieder auf sein Hemd. Das Geräusch wird lauter und lauter. Gleichzeitig beginnt das Haus zu beben. 

„Ein Erdbeben“, brülle ich. „ Los raus hier.“  Ich rase in den Flur und stolpere fluchend über gefühlte zehn Paar Sneakers meines Sohnes. Mark, oh Gott, wo ist Mark? „Mark“, brülle ich so laut ich kann und reiße die Haustüre auf. Dort, wo eben noch Dora, meine Nachbarin stand, ist jetzt ein tiefes Loch. Ungefähr zehn Quadratmeter, schätze ich und denke, dass eigentlich keine Zeit dazu ist, Berechnungen anzustellen. Aber so funktioniere ich nun einmal. Dora steht Gottseidank unversehrt vor ihrer Haustür und starrt in das, was einmal ihr Vorgarten war.  Von dem Loch aus, in dem sich jetzt die Mülleimer, ein Teil der Hecke und einige Sträucher befinden, zieht sich ein Riss bis zur Straße, der langsam breiter wird.

„Hilfe, Hilfe, hallo, Hilfe.“  Doras Stimme schraubt sich in höchste Höhen. Sie schaut ebenso fassungslos wie ich auf den tiefen Krater.

„Ich rufe die Feuerwehr an.“ So laut ich kann, versuche ich das unheimliche Geräusch zu übertönen, da hört es plötzlich auf. Nur noch meine eigene Stimme schrillt mir unangenehm im Ohr. Ich laufe wieder zurück ins Haus und begebe mich auf die Suche nach meinem Handy. Wenn man es dringend braucht, ist es natürlich nicht zu finden. Alles sollte seinen Platz haben, ich muss unbedingt dafür sorgen. Mit zitternden Händen durchwühle ich den Zeitungsstapel auf dem Küchentisch, als das durchdringende Tatütata des Martinshorns mich einhalten lässt. Da war schon jemand schneller als ich. 

Ein Adrenalinstoss fährt von oben nach unten durch meinen Körper.  Was, wenn auch bei uns…? Wir müssen weg, raus hier, sofort. „Mark, aufstehen“, ich eile in die obere Etage. „Aufstehen, schnell“, meine Stimme überschlägt sich.

 „Mom, ich geh heute nicht zur Schule. Mann, bist du uncool.“ Die vertraute Stimme meines Sohnes versetzt mir einen Stich in den Magen und eine Welle von Mutterliebe schwappt in mein Herz. 

Jetzt klingelt es an der Haustür. Zwei Stufen nehmend laufe ich wieder hinunter. 

„Mark, er muss aufstehen, er muss, bitte tu was“, rufe ich Andreas zu, der sich aus seiner Erstarrung gelöst hat und mir in den Flur gefolgt ist. Er wirft den angebissenen Keks, den er immer noch in der Hand hält, auf den Boden und hastet die Treppe hinauf. 

 Ein Mann in einer gelb-roten Jacke steht in der noch geöffneten Haustür. 

„Guten Morgen, ich bin vom Ordnungsamt.“ Er zeigt auf den Schriftzug auf seiner Jacke. „Ich muss Ihnen mitteilen, dass das Viertel evakuiert wird. Packen Sie schnell das Nötigste ein. Ich komme gleich wieder.“ Sein Blick scannt mich von oben bis unten. Ich bin immer noch im Schlafanzug. 

Andreas steht vor der Garderobe und holt seine Sporttasche und meinen Koffer aus dem Wandschrank. „Ich packe wichtige Unterlagen und du die Klamotten und was wir so brauchen. Mark packt auch schon. Los, hopp, hopp.“ 

Ausnahmsweise erleichtert mich der Kommandoton meines Mannes. Das Rumpeln und Beben hat gerade aufgehört. Ich nehme den Koffer und hetze wieder nach oben. Während ich mit einer Hand das Oberteil meines Schlafanzuges über den Kopf ziehe, schiebe ich mit der anderen die Hose herunter. Dann zerre ich Unterwäsche und ein Sommerkleid aus dem Schlafzimmerschrank. Nachdem ich mich angezogen habe, werfe ich den Koffer aufs Bett und wahllos Kleidungsstücke für Andreas und mich hinein. 

„Los jetzt, Sie müssen raus hier.“  Das ist die Stimme des Beamten. 

Andreas steht schon startbereit mit seiner Sporttasche in der Hand im Flur, als ich mit meinem Koffer die Treppe herabsteige, neben ihm Mark mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken. 

 „Sorry Mom“, murmelt er. Ich muss schlucken und atme tief durch, um nicht in Tränen auszubrechen.

„Also…“, der Beamte geht voraus. Wir folgen ihm. „…hinter der Absperrung wartet ein Bus. Der bringt Sie in die Sammelunterkunft.“

Als wir das Haus verlassen, schlägt mir die Hitze entgegen. Ich taumele leicht. Mir ist schwindlig und übel. Andreas schaut mich besorgt an.

 „Alles ok.“, höre ich mich stammeln. „Danke, alles gut.“

Andreas hat einen Arm um mich gelegt. Ganz eng kuscheln wir uns aneinander. Mit meiner freien Hand nehme ich die meines Sohnes, spüre seine Wärme und erwidere den leichten Druck.

Draußen ist es unnatürlich still. Nicht nur das Rumpeln hat aufgehört. Auch alle anderen Alltagsgeräusche scheinen verschwunden zu sein.  Nachbarn hetzen mit starren Gesichtern, ihre Kinder an der Hand hinter sich herziehend über den Bürgersteig. Einige bleiben kurz stehen und schauen zu ihren Häusern, so als würden sie Abschied nehmen, dann setzen sie sich wieder in Bewegung. 

„Auf der Flucht“, denke ich, „Jetzt sind wir alle Flüchtlinge.“ 

Das Loch ist jetzt weiträumig abgesperrt. Der Spalt im Erdboden hat sich verbreitert und läuft genau auf unseren Vorgarten zu.

„Schneller, schneller. Sie sind hier nicht sicher“, sagt der Beamte. 

„Ist es denn irgendwo sicher?“ Meine Stimme zittert. 

Der Beamte dreht seinen Kopf zur Seite, weicht meinem fragenden Blick aus. Er sieht müde aus. Ich kann seine Angst sehen und riechen. 

„Ich weiß es nicht“, antwortet er. „Ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber ich kann es nicht. Kommen Sie. Der Bus wartet.“ 

 

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