Von Martina Annecke

„Keeekse!“, kreischte es aus dem goldenen Käfig. Dennis blickte kurz vom Laptop auf und arbeitete weiter an seinem Text. Doch der rote Papagei gab keine Ruhe.

„Keekse!“

„Ach halt doch deinen Schnabel!“, rief Dennis genervt zurück. Wie sollte er diesen Artikel jemals zu Ende schreiben, wenn er kaum eine Minute Ruhe hatte. Die halbe Nacht hatte er schon an dem Text gesessen, aber er kam einfach nicht weiter. Es war wohl keine gute Idee gewesen, das Wochenende bei Sonja zu verbringen. Er hätte besser nach Hause gehen sollen, als sie heute Morgen zur Arbeit fuhr.

„Keekse, Keekse!“

Dennis klappte seinen Laptop zu, rieb sich die Augen und stützte dann seinen Kopf auf die Hände. Es nützte nichts, hier würde er keine Ruhe finden. Besser, er fuhr in die Redaktion, da konnte er immer noch am besten arbeiten. Schnell noch die Krawatte umgeworfen, wehe er tauchte ohne auf, der Chef war da wahnsinnig altmodisch. Dennis war fast schon aus der Wohnung…

„Keekse!“

Seufzend wandte er sich noch einmal um und ging zu dem altertümlichen Vogelkäfig. Ein Erbstück seiner Freundin Sonja. Genau wie der alte Ara, der da drinsaß. Um die 60 Jahre sollte er inzwischen sein. Dennis beobachtete das große Tier, das aufgeregt von einem Bein aufs andere wackelte.

„Keekse!“

„Jaha!“

Dennis bückte sich und suchte in dem kleinen Schrank unter dem Käfig nach der Dose. Sonja liebte diesen Vogel, wahrscheinlich weil er von ihrer Oma kam, die sie genau so geliebt hatte. Von ihr hatte sie auch das Rezept für die Papageienkekse übernommen. Wer backte seinem Vogel schon eigene Kekse? Und immer dieser Spruch: Die Kekse sind für George, nicht für dich! Kopfschüttelnd öffnete Dennis die Dose und sog den Duft ein, der ihr entströmte. Es roch wirklich gut, leicht süß und nach Kokos. Dennis blickte in die Dose, nur noch ein Keks drin.

„Tja George, wenn es nicht irgendwo noch eine weitere Dose gibt, war das der einzige für heute.“

Das aufgeregte Tier hampelte immer weiter im Käfig herum. Dennis hätte den Ara längst in einen Zoo gegeben, aber Sonja mochte sich nicht von ihm trennen. Er wäre jetzt auch schon zu alt, um sich umzugewöhnen. Und anstatt immer zu meckern, solle er lieber Freundschaft mit dem Tier schließen. Na gut, einen Versuch war es wert. Der junge Mann öffnete den Käfig und streckte seine Hand nach dem Vogel aus, um ihn zu kraulen, wie er es bei Sonja oft gesehen hatte. Aber der Ara wollte jetzt nicht kuscheln und hackte nach seinen Fingern.

„Keekse!“

Blitzschnell zog Dennis seine Hand zurück.

„Blödes Federvieh!“

„Keekse!“

Sauer blickte Dennis auf das letzte Gebäckstück. Na, warte du dummer Vogel, dachte er bei sich. Ganz langsam und genüsslich zog er den Keks aus der Dose und roch demonstrativ daran.

„Der riecht aber gut. Und weißt du was, den esse ich jetzt selbst.“

Könnte ein Vogel entsetzt aussehen, dann wäre es wohl George in diesem Augenblick. Mit aufgerissenem Schnabel beobachtete er, wie der Mensch vor dem Käfig, eine Grimasse ziehend, in sein Futter biss. Seine Federn stellten sich auf, als er mit weiteren Keekse-Rufen erst auf seinen Stangen hin und her sprang und dann versuchte, an der Außenwand Halt zu finden.

Dennis, abgelenkt von einer unerwarteten roten Masse, die auf seine Krawatte quoll, blickte erst wieder auf, als es laut schepperte. George hatte durch seinen Aufruhr den Käfig von der Kommode gerissen und war mit ihm auf den Boden gestürzt. Mensch und Tier erstarrten einen Moment.

„So ein Mist!“ Dennis versuchte, die Situation zu erfassen. Eine Delle im Käfig, die aufgesprungene Tür und überall verstreut lag mit Wasser durchnässter Vogelsand, bestreuselt mit verschiedensten Futterkörnern. Während Dennis immer noch wie eingefroren dort stand und überlegte, ob er das Chaos aufräumen konnte, bevor Sonja wieder zurück war, berappelte sich der Vogel schneller. Er wälzte sich auf die Füße und erkannte sofort seine Chance. Er machte einen Satz, um aus dem Käfig zu hüpfen und betrachtete seine Umgebung interessiert.  

„Auch das noch“, murmelte Dennis. Er hatte gehofft, den Käfig mitsamt Papagei wieder aufstellen zu können, aber jetzt ahnte er, dass George es ihm nicht einfach machen würde. Langsam stellte er die Keksdose auf eine Kommode neben ihm und sprach den Vogel an.

„Also gut George, braver Vogel. Hüpf doch wieder zurück“, versuchte er ihn mit leiser Stimme zu überzeugen, aber der Vogel betrachtete ihn nur aufmerksam mit schiefgelegtem Kopf. Leicht gebückt, mit vorgestreckten Händen ging Dennis auf den Papagei zu, der wiederum einige Hüpfer von ihm weg machte. Dennis wusste, nur mit einem beherzten Griff würde er den Vogel fangen, aber er hatte kein Tier mehr angefasst, seit er dem Streichelzooalter entwachsen war. Entschlossen stürzte er vor. Aber der Papagei hatte das Manöver kommen sehen und hüpfte mit gespreizten Flügeln aus seiner Reichweite. So ging es noch zwei- dreimal, bis Dennis einsah, dass er so nicht weiterkommen würde. Eine Decke- genau, damit würde er es vielleicht schaffen. Er ging zum Sofa und griff nach der Wolldecke, unter der sie abends gerne vor dem Fernseher kuschelten. Mit ausgebreiteten Armen verfolgte Dennis den Vogel weiter durch das Wohnzimmer, bis dieser in einer Ecke zwischen Sofa und Wand vermeintlich in der Falle saß. Mit Schwung warf Dennis die Decke, aber der alte Ara war wieder schneller. Mit Gekreisch breitete er seine Flügel aus und schaffte es sogar, auf eine Kommode zu hüpfen. Dennis wagte gleich einen weiteren Wurf, aber der Papagei floh weiter und riss ein paar Figürchen mit vom Schrank. Die Decke zog dann auch noch einen Bilderrahmen hinunter, dessen zersplittertes Glas sich zu den Porzellanscherben gesellte. Weiter ging die wilde Jagd. Aber als auch noch der Laptop mit dem harten Wohnzimmerboden Bekanntschaft machte, beschloss Dennis seine Taktik zu ändern. Er setzte sich auf das Sofa und wartete ab. Und tatsächlich näherte der Vogel sich nach einer Weile. Mit einem beherzten Sprung über den Couchtisch wollte Dennis dieser Jagd ein Ende machen. Aber er verhedderte sich in der Decke und fiel vornüber. Dabei schlug er so stark mit dem Knie gegen die Ecke des Tisches, dass er laut aufschrie. Sein schmerzendes Gelenk umfassend, ließ er sich zurück auf das Sofa fallen. Stöhnend, mit geschlossenen Augen wiegte Dennis sich hin und her. Dabei beschimpfte er George mit den beleidigensten Wörtern, die ihm für Vögel einfielen. Langsam ließ der Schmerz nach. Dennis öffnete die Augen halb und erblickte durch seinen Tränenschleier den Papagei gegenüber auf der Sessellehne hockend. Der Vogel hatte seine Flügel ausgestreckt und schien sie neugierig zu betrachten. Der arme Vogel, hat wohl zum ersten Mal seit Jahren seine Flügel gebraucht, dachte Dennis. Jetzt fiel ihm auch auf, wie schwer das Tier atmete. Auf einmal bekam er Mitleid mit George. Was war das nur für ein Leben, seit sechzig Jahren in diesem Käfig und dann gönnte er ihm noch nicht einmal einen Keks. Dennis setze sich auf. Was war eigentlich los mit ihm? Er war doch sonst nicht so gemein. Hatte der Stress auf der Arbeit so einen Fiesling aus ihm gemacht?

„Weißt du was George“, sprach er den Vogel an, „was hältst du von einem Waffenstillstand?“

George sah ihn wieder mit schiefgelegtem Kopf an.

„Es gibt zwar keine Kekse mehr für dich, aber ich denke, ich kann in der Küche noch ein paar Trauben finden. Die magst du doch auch, oder?“

Der Ara trappelte wieder von einem Bein aufs andere. Dennis ging in die Küche, George lauschte auf die Geräusche, die von dort kamen.

Dann sah er den Menschen wieder in das Wohnzimmer kommen, verschiedenste Dinge unter die Arme geklemmt, die er jetzt auf dem Couchtisch abstellte. Eine Flasche Bier, einen großen Becher mit Wasser, eine Schale mit Trauben. Dann noch eine Flasche Schnaps, die er dem Vogel vor den Schnabel hielt.

„Das ist Schnaps George, damit trinkt man Brüderschaft. Kannst du Schnaps sagen?“

Tonlos öffnete der Papagei den Schnabel.

„Wohl nicht. Macht aber nix, du darfst sowieso nur Wasser trinken.“

Dennis ließ sich auf die Couch fallen und öffnete die Bierflasche, aus der er einen großen Schluck nahm. Dann goss er sich den Korn in ein kleines Glas und stieß damit an Georges Wasserbecher an.

„Prost George, ich bin Dennis. Kannst du Dennis sagen?“

Der Vogel beobachtete ihn nur.

„Na, nun trink schon, du hast doch bestimmt auch Durst.“

Dennis goss den Klaren hinunter und George hüpfte auf den Tisch, um sich an dem Wasserglas zu bedienen.

Dann platzierte Dennis die Schale mit Früchten und Nüssen neben sich und klopfte auffordernd auf das Sofa.

„Na komm, knabber was.“

Langsam hüpfte der Vogel näher und zog eine Traube aus der Schale, wobei er Dennis nicht aus den Augen ließ. Eine Weile beobachtete Dennis den Ara, wie er genüsslich eine Frucht nach der anderen verspeiste. Dann streckte der junge Mann die Hand nach dem Tier aus und kraulte vorsichtig seinen Kopf. George ließ es ruhig geschehen und entspannte sich.

„Na, du bist ja doch ein ganz Lieber.“

Eine Weile streichelte er den Vogel noch, dann griff er nach der Fernbedienung.

„Guckst du eigentlich auch gern Fernsehen?“ Dennis zappte durch die Programme, bis er eine bekannte Polizeiserie fand.

„Die finde ich eigentlich ganz ok. Da kann ich gut bei abschalten.“

George guckte eine Zeit lang interessiert zu, aber dann sackte sein Kopf nach vorne und er fiel in Schlaf.

„Eigentlich eine gute Idee“, meinte Dennis, „nur ein paar Minuten die Augen schließen.“

 

Als Sonja nach Hause kam, traute sie ihren Augen nicht, als sie die Szenerie in ihrem Wohnzimmer sah. Der umgekippte Käfig, die Scherben, der Alkohol auf dem Tisch, Dennis und ihr geliebter Papagei auf dem Sofa schlafend.

„Was ist denn hier passiert?“

Mensch und Vogel erwachten langsam. Dennis sah sich um und erinnerte sich allmählich wieder an das Geschehene.

„Na ja“, hilflos grinsend hob er die Arme, „George und ich haben Freundschaft geschlossen. Nicht wahr?“ Er stupste den Vogel an. Dieser schüttelte sich und blickte Sonja an.

„Dennis“, krächzte er. „Schnahaps“

 

 

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