Von Nicole Leidolph

Kai Wigand betrat den Konferenzraum exakt zehn Minuten vor dem Termin. Seine Gedanken kreisten um das, was in seiner braunen Büffelledertasche versteckt war. Vor dem Bürokomplex stand seit einigen Tagen ein Wagen, der in Fett Gebackenes verkaufte. Quarkbällchen, Berliner, alles lecker, alles ungesund. Dabei machten Kerstin und er eigentlich gerade eine Diät. Oder besser gesagt, Kerstin machte eine Diät und er hatte gefälligst mitzumachen. Sollte er noch öfter diese Berliner kaufen, würde er eine Erklärung brauchen. Sie wunderte sich bereits, wieso die Pfunde, die bei ihm am Anfang purzelten, nicht weiter schmolzen. Die Wahrheit konnte er nicht sagen. Kerstin ließ bei sowas nicht mit sich verhandeln. Sie war manchmal kompliziert und er hatte wirklich keine Lust auf Stress.

Er zog die Tüte mit den zwei Berlinern aus der Tasche und legte sie fein säuberlich auf den weißen Konferenztisch. Beim Essen würden sich kleine Zuckerkrümel lösen und herunterfallen. Deshalb zog er ebenfalls eine Serviette hervor und platzierte sie daneben. Dann stellte er seinen Thermosbecher mit Kaffee vor sich und setzte sich auf einen Stuhl. Der Termin heute war der Abschluss einer längeren Erarbeitungsphase. Er hoffte auf rasche Ergebnisse.

Er sah auf seine Armbanduhr. Achteinhalb Minuten. Entspannt lehnte er sich zurück, öffnete die Tüte mit den Berlinern und zog den ersten daraus hervor. Bevor er hinein biss, führte er ihn erst andächtig zur Nase, atmete ein und bereute es im nächsten Moment. Zuckerkrümel stiegen ihm in die Nase. Er konnte den Berliner gerade noch ablegen, dann nieste er zweimal lautstark. Es war eine komische Angewohnheit, an Gebäck zu schnuppern. Kerstin hatte schon einige Male gesagt, er solle sich das abgewöhnen. Das war zu der Zeit, als er noch keine Diät mitmachen musste. Acht Minuten. 

Jetzt griff er erneut nach dem Berliner. Vorausschauend hielt er die Serviette darunter und biss hinein. Was für eine Köstlichkeit! Dafür würde er töten. Berliner waren eine Art Sucht. Er schlenderte um den Konferenztisch herum bis zu der alles einnehmenden Fensterfront. Von hier aus hatte man eine ideale Aussicht auf das Nachbargebäude. Ein mehrstöckiger Betonklotz mit vielen Fenstern. Der Konferenzraum ihm gegenüber war ein bisschen größer als die anderen. Das lag daran, dass sich hier die Obersten der Oberen trafen und durch ihr enormes Ego mehr Platz brauchten. Vier Männer, keine Frau. Kerstin fand sowas nicht gut. Frauenquote und so. 

Er biss in den Berliner und blickte auf seine Uhr. Noch vier Minuten. Die Tür zum Chef-Konferenzraum öffnete sich. Herein kam ein untersetzter Mann mit grauen Haaren und ebenso grauem Anzug. Er stellte eine Aktentasche vor sich auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Kai konnte von hier aus erkennen, dass er schwer atmete. Ein bisschen Sport würde ihm nicht schaden. Ein weiterer Mann betrat den Raum. Er wirkte wesentlich athletischer, mit kurzen Haaren, Jeans und einem weißen Hemd. Er nickte dem Dicklichen zu und nahm ihm gegenüber Platz. Dann zückte er ein Tablet und vertiefte sich in irgendein Getippe. Kai erkannte in dem Grauhaarigen den CEO der Surprise Group Deutschland, einem milliardenschweren, weltweit operierendem Konzern. Er galt als einer der einflussreichsten Männer in der Geschäftswelt und hielt sich jetzt schon seit 15 Jahren an der Spitze der Macht. Der Jüngere war der geschäftsführende Manager des Online-Geschäfts, Surprise Interactive. Man hatte nach etlichen Jahren bemerkt, dass das Internet doch wichtiger war, als die Alteingesessenen wahrhaben wollten. Deshalb schickte man nun die dynamischen Stürmer ins Feld. Die Tür öffnete sich, als Kai seine Zähne ein weiteres Mal in den Berliner grub. Er war bei der Marmelade angelangt. Sie schmeckte cremig und hatte ein unaufdringliches Kirscharoma. So liebte er das. Ein schmaler Mann mit hohem Haaransatz nahm am Tisch Platz. Kai sah nur seinen Rücken, aber selbst aus dieser Perspektive wirkte er irgendwie nervös. Als würde er sich hektisch und zappelig bewegen, dabei saß er reglos auf seinem Stuhl. Er war der Leiter des Controllings. Vielleicht rührte seine Nervosität daher, weil er ständig irgendwelche Zahlen zu verantworten hatte. Sicher nicht einfach. Und da kam auch schon der Marketingleiter. Ein Schönling wie aus dem Buche. Seine weiß strahlenden Zähne ließen jeden erblinden.

Kai sah ein letztes Mal auf seine Armbanduhr. Sie waren pünktlich. Mit dem Daumen drückte er auf den Startknopf seitlich an der Uhr. Ein Timer begann rückwärts zu laufen. Er sollte seinen Berliner vertilgen, ansonsten …

Die Tür öffnete sich wieder. Eine schlanke Frau mit hochgesteckten, braunen Haaren betrat den Raum. Sie trug ein rotes Kostüm, das hervorragend zu ihrer schwarz umrandeten Brille passte. Unter ihrem Arm klemmte ein Ordner, in ihrer Hand hielt sie ein Tablet. Alles an ihr schrie „Sekretärin“. Nein, Assistentin, korrigierte sich Kai in Gedanken. So sagte man heute. Ihr Auftauchen irritierte ihn. Sie hatte er noch nie hier gesehen. Er nahm eilig einen besonders großen Biss. Zu groß. Die Marmelade quoll hervor wie Blut aus einer frischen Wunde. Die Frau blieb neben einem Stuhl abseits vom Tisch stehen. Für einen Augenblick hätte er schwören können, dass ihre Augen eine Millisekunde auf ihm ruhten und sich ihr Mund missbilligend verzog. Kai blieb der Berliner beinahe im Hals stecken. Im selben Moment gehorchte die Marmelade den Gesetzen der Schwerkraft und tropfte heraus. Sie traf seine Krawatte, als er herunterschluckte, hastig einatmete, sich verschluckte und laut hustete. Eine Wolke aus Puderzucker stob davon. Dieses Mal war er sicher, dass die Assistentin die Augen verdrehte. Er wischte eilig auf seiner Krawatte herum, aber verteilte alles noch mehr. 

Bevor es zu einem weiteren Missgeschick kommen konnte, stopfte er sich vorsorglich den Rest Berliner in den Mund und drehte sich kauend zum Tisch um. Zeit zu beginnen. Er schob einen der Stühle zurück und nahm darauf Platz. Er hatte sich gestern gründlich auf diesen Termin vorbereitet. Es war kein Problem gewesen, denn außer ihm war niemand hier. Das Bürogebäude befand sich im Bau. Zwischenzeitlich waren die Gelder ausgegangen, weswegen die Arbeiten seit Monaten ruhten. Im Konferenzraum hingen Kabel aus den Wänden und in der Decke waren die Lüftungsschächte noch nicht durch Gitter verdeckt. In der Fensterfront fehlte ein schmales Stück in der Scheibe. Das hatte Kai mit einem Spezialwerkzeug entfernt. Danach hatte er seine Ausrüstung in aller Ruhe auf dem Tisch aufgebaut. So einfach lief es selten. 

Er zog seine marmeladenverschmierte Krawatte aus, lehnte sich nach vorne und positionierte sich. Schulter und Wange fanden ihren Platz, seine rechte Hand legte sich locker auf den Abzug. Durch das Zielfernrohr sah er den Konferenzraum so nah vor sich, als wäre er mittendrin. Das konnte er für das Geld auch erwarten. Dieses Lasergewehr der neuesten Generation hatte ihn ganze drei Einsätze gekostet. Das durfte Kerstin nicht wissen, weswegen er ihr den Preis verschwieg.

Er richtete den Blick auf die Assistentin. Sie sah gut aus. Jetzt reichte sie dem dicklichen CEO ihren Ordner. Als sie sich umdrehte und zum Stuhl zurückging, konnte Kai sie von hinten betrachten. Gestochen scharf. Kurz schien sie in seine Richtung zu schauen und entlockte ihm so ein Lächeln. Wirklich hübsch, genau sein Typ. 

Er riss sich von ihrem Anblick los und suchte sein Ziel. Die Stirn des CEO. Karl von Thale, Konkurrent seines Auftraggebers. Oder was auch immer. Wieso und weshalb er jemanden ausschalten sollte, war Kai herzlich egal. Er atmete tief und ruhig, konzentrierte sich, den Finger sicher auf dem Abzug. Den genauen Zeitpunkt hatte er im Vorfeld mit seinem Auftraggeber festgelegt. Gleich, gleich, gleich … Seine Uhr piepste dreimal. Jetzt. Einen kurzen Augenblick leuchtete ein roter Punkt mittig auf Karl von Thales Stirn auf, dann erschien an selber Stelle ein Loch, aus dem rasch Blut sickerte. Er saß einige reglose Sekunden mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Stuhl, bevor er wie ein gefällter Baum mit dem Gesicht nach vorne auf den Tisch kippte.

Die anderen Männer rührten sich nicht, starrten fassungslos auf die Szene, die sich ihnen bot. Kai vergeudete keine Zeit. Zack – der Controller, zack – der Interaktive. Nicht einmal fünf Sekunden und nur noch der Marketingleiter lebte. Er drehte sich in Kais Richtung, lachte sein Zahnpastalächeln und hob beide Daumen. Kai bezweifelte, dass er ihn sehen konnte, aber er wusste, von welchem Punkt aus er seinen Auftrag ausführen würde. Sie hatten es schließlich vereinbart. Und dann brach der Schönling plötzlich zusammen. Sein Mund stand offen und in den Augen funkelte Unglauben. Kai war mindestens ebenso überrascht. Durch sein Zielfernrohr sah er, wie die Assistentin eine zierlich wirkende Pistole sinken ließ, der Schalldämpfer größer als die Waffe. Sie blickte in seine Richtung, tippte sich grüßend an die Schläfe und verließ den Raum.

 

Kai traf sie vor dem Bürokomplex wieder. „Du hättest mir sagen können, dass du einen Auftrag hast.“

Kerstin schlug ihm mit dem Handrücken vor die Brust. „Wieso, hättest du dir dann den Berliner verkniffen?“

Er legte den Arm um sie. „Wir könnten doch mal wieder zusammen arbeiten, wie früher.“

„Wie romantisch. Mein Job war mit Sicherheit besser bezahlt, du kannst nicht verhandeln.“ Sie nahm die Brille ab, zog sich die Perücke vom Kopf und schmiss beides im Vorbeigehen in den nächsten Abfalleimer. „Hast du jedes Mal, wenn du hier warst, einen Berliner gegessen?“

Kai lächelte. „Schatz, wir wollen uns nicht streiten.“

„Wie oft warst du hier? Dreimal? Viermal?“

„Nein, eher zehnmal.“ Er zuckte mit den Schultern, als sie ihn ungläubig ansah. „Bezahlt wird pro Stunde. Nicht meine Schuld, wenn du immer so schnell bist. Ich konnte nicht einmal meinen Kaffee trinken.“

„Du hast den Kerl total verarscht.“

„Das kümmert ihn dank dir nicht mehr.“ Er schlug einen versöhnlichen Ton an. „Ich habe noch einen Berliner. Wollen wir teilen?“

Sie nahm ihm die Tasche aus der Hand. „Nein.“

 

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