Von Svetlana Gießbach

«Ich werde verrückt: Ich habe zwei Hemisphären. Mit der einen Hemisphäre will ich Kaffee, mit der anderen – Eistee. Die Zukunft der anderen ist in meinem Kopf (alles wird ein Jahr im Voraus geplant: Anrufe, Meetings, Präsentationen), meine persönliche Zukunft ist hinter dieser Tür, durch die ich mich nie getraut habe zu gehen. Nun, das muss ich nicht. Dies ist der einzige Ort, an dem ich das nicht muss».

Solche Gedanken wandern in Marcus‘ Kopf herum. Heute hat Marcus den Tag frei genommen. Es scheint zu gelingen, sich zu entspannen, aber in der Wochenmitte, wenn man normalerweise von seinen Mitarbeitern mit Problemchen zerrissen wird, ist es kategorisch unmöglich, sich hier und jetzt zu entlasten. Doch bei dem Versuch, diese plötzliche Leere mit allerlei spekulativen Achtsamkeitsübungen zu besetzen, spürt Marcus nur, wie sich sein Körper versteift, als würde er einen Anfall von Psychopathie in Schach halten wollen.

«Zufälligerweise ist heute eine Feuerübung im Bürogebäude: Sie bringen mürrischen Mitarbeitern Disziplin bei. Zumindest ist es eine Art von Aufatmung», rechtfertigt sich Marcus gegenüber der Frau, die ihm mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck sitzt gegenüber. Marcus bemerkt, wie sich ihre Aufmerksamkeit auf ihn persönlich richtet: Die ohnehin angespannte Körperhaltung der Frau kippt nach links von ihrer streng senkrechten Achse zur Bodenoberfläche. Das tun kleine Kinder oft, wenn sie sich zum ersten Mal in einem Spiegel sehen und ihr Spiegelbild mit sich selbst abgleichen, indem sie den Kopf leicht neigen. Marcus bedeckt seinen Mund vorsichtshalber mit der Hand und gähnt methodisch, um sein Gemurmel vor Außenstehenden zu verbergen.

«So lange halte ich es nicht aus», schießt die Kugel der Realität wieder hervor und saust an Marcus vorbei.

«Die Entbindungsklinik ist ein Ort der Emanzipation: Früher haben sie auf dem Feld entbunden», denkt Marcus in seiner rechten Hirnhälfte, und hinter den Vorhängen eines Rennwagens breitet sich ein weites Feld aus, und durch das Aufheulen des Motors hört er deutlich seine Frau Nina mit unmenschlicher Stimme nach ihm rufen.

Wie lange muss man wohl warten? Ein Tropfen der Verschwommenheit. Ein Schnappschuss ohne Folie zeigt Marcus, dass die Ewigkeit fünf Minuten wert ist. «Es sind erst fünf Minuten vergangen. Wo sind endlich die Ärzte, es wuseln nur Besucher hin und her», bemerkt Marcus ungewollt hilflos.

«Das war’s, ich gebe auf! » – ruft Marcus vor sich hin, als hätte er sich in dem Feld verirrt, in das Nina ihn gerufen hatte, als er von der Rennstrecke kam. Das gelbe Auto vor dem lavendelfarbenen Feld, zu warten schien, war für ihn nur noch aus der Ferne sichtbar. «Nein, nein, ich bin nur müde von der Arbeit, also muss diese Pause mit Arbeit aufgefüllt werden, nur eine weitere», überzeugt sich Marcus und zieht seinen Laptop aus der Aktentasche.

«Einlagen. Verdammte Vorräte. Pampers gehen vor, und Mann und Frau sind auf diesem Entwicklungspfad sozusagen gleich. Aber dann: Pads. Verdammte «Zugehörigkeit» zum schwachen Geschlecht. Du kannst es nicht durchstreichen, oder! », bestätigt Marcus seine linke mathematische Hemisphäre, «und auch seine statistische, algebraische, halbgeometrische und ja, am Ende – logische! ».

Es war eine Tabelle mit Berechnungen für die nächsten 25 Jahre, mit einem Diskontsatz und Kursvorhersagen für Bitcoins und einige andere erfundene elektronische Tesla-Währungen.

Marcus schaut sich um und dimmt die Helligkeit des Bildschirms, damit niemand, nicht einmal er selbst, mit den Sichtbarkeitseinstellungen zu kämpfen hat, sondern einfach aufhört zu gucken.

Die Excel-Tabelle trägt zwar keinen Namen (Tabelle 1), aber, wenn man sich die Zeilen aus der Nähe ansieht, erkennt man, worum es geht: Jedes Jahr quellen die Ausgabenposten auf wie in Sauerteig getränkte Hefe. Die linke Gehirnhälfte würde sich, wenn sie ein Mensch wäre, beim Anblick der Zahlenskala die Hände abklatschen: Aber Marcus schafft es, sie beim Betrachten der Summen und Zwischensummen auszuschalten.

148.104 Euro – bis zum 18. Lebensjahr, und dann wird alles variiert: optimistischer Plan, pessimistisch und schließlich realistisch.

 

Marcus tüftelt noch eine Weile an den Excel-Boxen, falls man samstags nicht zu Lidl zum Einkaufen geht. «Eines ist klar – Jungs sind billiger! », klickt Marcus von Tabelle 1 zu Tabelle 2 und wieder zurück.

«Ich Glückspilz, es wird ein Junge», schmunzelt Marcus. «Auch, wenn es ein paar Tausend weniger sind, ist es trotzdem weniger! », erwärmt sich Marcus‘ halbherzige Seele. Marcus‘ Gesicht fühlt sich an, als würde es von Berliner Keksmarmelade triefen. Marcus‘ Fersen werden wärmer: Die Wärme des Laptops erreicht alle seine Glieder. Und es ist nicht mehr er, der Nina sucht, sondern Nina geht auf ihn zu, bahnt sich ihren Weg durch das lila-rosa Feld, obwohl die Sonne schon hinter dem Horizont untergeht.

«Redemann! », schreit der Praktikant fast. Und die größte Beere Erdbeermarmelade kullert an Marcus‘ Krawatte hinunter, übersetzt seine Alpha-Wellen in einen Beta-Dammbruch und bildet einen zu sichtbaren Streifen klebrigen Matsches, als dass der Praktikant ihm jetzt in einem kurzen Traum erscheinen und eine Serviette anbieten könnte. Aus der Ferne hatte Marcus zunächst verwirrt und erst jetzt erkannt, dass es sich um eine Praktikantin handelt.

Marcus Redemann springt auf, zuckt mit den Augen und bemerkt schnell, dass sein Laptop sorgfältig auf einem Stuhl neben seinem Schoß abgestellt wurde. Die Gynäkologin mit ihrem zwar unerfahrenen Blick, aber lädt Marcus ein, zu seiner Frau hinüberzugehen, die gerade entbunden hat.

Glücklich, wenn auch müde, kann Nina kaum flüstern: «Marcus, Marcus, schau sie an», sobald er den Raum betritt.

Der Arzt beendet seine Handlungen und verkündet beiläufig: «Ja, Sie haben übrigens ein Mädchen.».

Marcus‘ linke Hemisphäre wacht auf und tröstet den noch immer verständnislosen Marcus: «Lass uns die Ärzte wegen des falschen Ultraschalls verklagen. »

 

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