Von Peter Burkhard

Während vieler Jahre teilten sich zwei Engel die Bahnhofshalle einer – für eidgenössische Begriffe – großen Schweizer Stadt.
Der eine, elf Meter lang, knallbunt, eine Frau mit üppigen weiblichen Formen und wuchtigen zwölfhundert Kilogramm Gewicht, schwebte hoch über den Köpfen der Menschen. Der andere, ebenfalls ein feminines Wesen, unauffällig, still und leicht zu übersehen, stand mitten im Getümmel tausender gehetzter Passanten.
Per Frachtflug aus Amerika und mit einem aufwendigen Transport zu Wasser und zu Land, war der imposante, farbige Schutzengel unter das Dach der großen, ehrwürdigen Halle gelangt. Die geflügelte Figur aus Polyester, ihre Schöpferin nannte sie „Nana“, war längst nicht bei all den Menschen beliebt. Unzählige Kunstexperten belächelten oder beschimpften sie als überdimensioniertes, vulgäres Sennentuntschi. Andere wiederum waren voller Bewunderung für das fliegende Kunstobjekt.
Der zweite, wesentlich zerbrechlichere Engel, eine ältliche Frau, war schon einige Jahre vor Nanas Ankunft eine Ikone. Meist in einen Wollmantel gehüllt und einen Schal um den Kopf geschlungen, stand sie an ihrem zugigen, hektischen und dennoch ganz besonderen Ort. Niemand kannte ihren Namen, noch wusste jemand, woher sie kam, sie wurde von allen nur der Engel vom Hauptbahnhof genannt.
Seit jeher stand sie über ihren Rollstuhl gebeugt, tagein, tagaus immer am selben Fleck, schaute den Menschen lange nach und segnete möglichst jeden, von früh morgens bis spät abends. Die unscheinbare Alte nahm nie Geld an und ließ sich nur selten auf Gespräche ein, um sich nicht von ihrer Tätigkeit des Segnens ablenken zu lassen. Nur manchmal, wenn Müdigkeit die fromme Frau überkam, setzte sie sich zwischendurch in ihren fahrbaren Untersatz und schlief etwas.

* * *

Alfons stand am frühen Nachmittag vor seinem Haus und kramte einige Prospekte und Briefe aus dem Briefkasten.
Als er einen Nachbarn vorbeigehen sah, winkte er ihm zu: „Schöne Namittag, Theo. Bisch underwägs?“
„Moin Alfons. Ja, ich mache einen kleinen Spaziergang, muss den Kopf auslüften und ein paar Gedanken sammeln für eine Kurzgeschichte.“
„Du schriibsch Churzgschichte?“
„Ja, seit bald zwei Jahren.“
„Ah, cool.“
„Ja, das macht Spaß. Fast jeden Monat beteilige ich mich an einem Mitmach-Projekt zu einem vorgegebenen Thema.“
„Das tönt intressant. Um was gaht’s dänn bi de nächschte Vorgab?“ Alfons legte die Post auf den Briefkasten und näherte sich dem Deutschen.
„Die Aufgabe lautet: Schreibe eine Geschichte, in der drei festgelegte Begriffe vorkommen. Das Thema ist trivial, aber tricky.
„Alles klar, aber da häsch ja nur wenig Spiilruum! Weles sind dänn die Begriff?“
Eine Windböe wirbelte ein paar seiner abgelegten Werbeschriften durch die Luft in den Garten. Worauf Alfons, auch schon beweglicher, sie stöhnend aufsammelte und zusammentrug.
„ … das war die Idee eines Mitgliedes unseres Forums. Der hat sicherlich ganz genaue Vorstellungen, wie er das angehen will, vermute ich.“
Alfons hielt kurz inne, bevor er wieder den wild gewordenen Prospekten nachjagte. „Jetzt han ich d´Hälfti verpasst und nöd alles verstande, sorry.“
„Er denkt an eine Geschichte so im Sinne von: Ich sitze hier zwar in dem ganzen Unrat der letzten Jahre ….“
„Theeeo! Wart schnäll, ich verstah dich nöd, wänn ich mues dur de Garte ränne. Weisch was, ich chumme mit uf diin Spaziergang und dänn verzellsch du mir de Reschte.“
„Du begleitest mich ein paar Schritte?“
„Ja klar, gärn. Es bizeli frischi Luft tuet immer guet.“

Zwanzig Minuten später nach einem angeregten Spaziergang entlang des Seeufers setzten sich die beiden in einem Gartenrestaurant direkt ans Wasser.
Bereits nach dem ersten Schluck erhob sich Alfons. „Ich mues emal.“
Er verschwand in Richtung Toilette, um kurz darauf ausgelassen gestikulierend mit einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen Mann an den Tisch zurückzukehren.
„Theo, dörf ich dir de Eduardo vorstelle? Er chunnt us Havanna, läbt aber scho sit viele Jahr i eusere Nachbargmeind. Mir händ eus amene Foodfestival für karitativi Zwäck känneglehrt. Und jetzt laufed mir eus zuefällig i de Toilette über de Wäg.“
Eduardo wartete Theos Reaktion gar nicht erst ab, schnappte sich einen Stuhl vom Nebentisch und gesellte sich mit einem breiten Grinsen zu den beiden. Schnell entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch.
„Ich war bisher viermal in Kuba“, meinte der Deutsche und strahlte, „jeweils während zwei bis drei Wochen, unterwegs im ganzen Land. Ich liebe die Insel und deine Landsleute, nur das System …“ Er brach ab und blickte unsicher zu seinem Gegenüber.
„Sprich’s ruhig aus.“ Eduardo presste seine Lippen zusammen, dann fuhr er fort: „Du kennst mein Land bestimmt viel besser als ich, unsereins ist bis heute kaum über die Stadtgrenzen Havannas hinaus gekommen. Leider. Immerhin war ich in den Siebzigerjahren für fünf Jahre als Student in der DDR, in Leipzig und Magdeburg.“ Er wischte sich eine graue Strähne aus dem Gesicht. Seine Mimik entspannte sich und endete in einem verklärten Lächeln. „Das war eine gute Zeit, wir waren wie eine Regenbogen-Community. Nicht im heutigen Sinn, aber wir waren eine bunt gemischte Gruppe delegierter Kommilitoninnen und Genossen aus Namibia, Vietnam, Chile, weiß der Teufel woher sonst noch und mit uns, einer Handvoll Kubaner. Dort habe ich auch Annett kennengelernt, meine spätere Ehefrau.
Alfons hob erstaunt seine Augenbrauen. „D’Annett hätt au in Magdeburg studiert? Das han ich gar nöd gwüsst.“
„Ja, sie gehörte zu den missliebigen, verbürgerlichten DDR-Kommilitonen, welche auf uns angesetzt waren, um uns zu überwachen. Aber sie war anders, liebenswürdiger und vor allem vertrauenswürdiger. Sonst hätte ich mich ja nicht in sie verliebt, zumal sie fast zehn Jahre älter ist als ich.“

„Und wie seid ihr von der Elbe in die Schweiz gelangt?“

„Mit einem Umweg über Havanna, mich zog’s zurück in die Heimat. Doch Annett wollte keinesfalls in Kuba bleiben und als sie hier eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule erhielt, war die Sache geritzt.“
Alfons lehnte sich zurück und grinste über sein Kugelbäuchlein: „Ich bin au emal in Magdeburg gsi. Aber nur ein Tag, won ich mit es paar Kollege de Elbe entlang nach Hamburg gradlet bin. E schöni Gägend“.
„Stimmt“, bekräftigte Theo, „auch kulturell und kulinarisch war der Osten noch nie zu verachten. Denkt nur an die Spreewald-Gurken, Fläminger Jagd oder die göttliche Pottsuse.“
„Ich verstah nur Bahnhof.“ Alfons verdrehte die Augen.
„Na, diese Gurken kennt man auch hier, die bekommst du überall. Fläminger Jagd ist so ’ne Art Ostjägermeister und Pottsuse ein typischer Brotaufstrich aus der Region. Alles lecker Zeugs.“

 

Genüsslich in Erinnerungen schwelgend und gepackt von kulinarischen Träumereien bemerkte keiner, wie der Nachmittag im Nu zerrann. Erst als ein Kursschiff nahe am Ufer vorbeituckerte, fuhr Eduardo zusammen, schaute auf die Uhr und zückte sein Portemonnaie. „Hombres, ich muss. Es geht gegen Abend und die Pflicht ruft. Du weißt ja, Alfons …“
„Lass das mal mit dem Bezahlen, ich übernehme das“, intervenierte Theo, „war schön dich kennengelernt zu haben. Vielleicht gibt’s ein nächstes Mal, wieder hier am See oder in Havanna, bei ropa vieja, wer weiß.“
„La Habana. Mal sehen, das wird schwierig, sehr schwierig.“ Der Kubaner schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, winkte zum Abschied ohne sich nochmals umzusehen und entfernte sich raschen Schrittes.

* * *

„Chömmer bitte e chli schnäller laufe, Theo, so chömmed mir nie hei.“
„Wenn du meinst, ich habe zwar keine Eile. Netter Typ, dieser Eduardo und überaus temperamentvoll für sein Alter. Was meinte er wohl damit, dass es schwierig werden könnte mit Havanna?“

„Das isch e langi Gschicht.“

„Erzähle!“
„Es gaht um d’Annett, sini Frau. Aber das isch es heikels Thema, lönd mir das.“
„Ne, das will ich jetzt wissen, was ist da dran heikel?“
Zögerlich liess sich Alfons darauf ein und erzählte seinem Nachbarn die Geschichte über die seltsame Wandlung von Eduardos Ehefrau:
„ … und sither bringt er sie jede Morge früeh zum Bahnhof und holt sie am Abig wieder ab. Für ihn wird Havanna wohl immer en Erinnerig bliibe, genauso wie sini guete Ziite z’Leipzig und z’Magdeburg.“

 

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