Von Sabine Esser

„Ab Juli werden Sie für einen Monat die Urlaubsvertretung von Frau Heise übernehmen. Natürlich erfolgt eine entsprechende Einarbeitung, am besten während der täglichen Vorstandsmeetings“, teilt der Abteilungsleiter seiner entsetzten Sekretärin mit.

„Tut mir leid, ich konnte es nicht verhindern“, fügt er hinzu und flüchtet in sein Büro.

 

„Das kann ich nicht“, stöhnt Karin in der Kantine. Ihre Kolleginnen geben sich alle Mühe, sie zu beunruhigen:

„Frau Heise hat kreisrunden Haarausfall, und die Assistentin ist wegen unregelmäßiger Blutungen schon wieder krankgeschrieben.“

„Er ist wirklich unzumutbar, seine Tochter sollte hier ein Praktikum machen und ist gar nicht erst erschienen. Recht hat sie.“

„Und immer alles auf den letzten Drücker, wenn überhaupt.“

„Der hat ’ne Leiche im Keller mit einem von denen da oben, sonst wär‘ er schon längst weg vom Fenster.“

„Der sieht nicht nur aus wie ein Nazi, der hat auch solche Allüren – Gutsherrenart.“

„Sternzeichen Zwilling – hin und her – ein Vollchaot!“

„Wenn du mich fragst, der säuft.“

 

Dank Frau Heise ist Karin mit seinen Eigenheiten vertraut:

 

  • Er kommt gegen neun Uhr, sie muss spätestens um acht Uhr fünfzehn anwesend sein, um alles vorzubereiten. Überstunden sind vorprogrammiert.
  • Auf dem Schreibtisch sind die diversen Akten- und Zeitschriftenstapel linksseitig penibelst geordnet aufzubauen.
  • Von jeglicher Korrespondenz ist eine Dreifachablage zu erstellen: nach Datum, nach Thema und heimlich für das Sekretariat, um den Überblick zu behalten und Beweise (für den mindestens ein Mal wöchentlichen Fall der Fälle) zu haben.
  • Der Posteingangskorb hat akribisch sortiert zu sein: Zeitschriften (ganz unten), hausinterne Mitteilungen (Vorstand ganz oben, dann konkurrierende Haupt-Abteilungsleitungen, unten die eigenen Abteilungs- und Gruppenleitungen und sonstiges).
  • Daneben der Postausgangskorb.
  • Mittig soll alles frei bleiben für Herbeizitierte mit Vorgängen.
  • Der Rechner auf der linken Schreibtischseite muss eingeschaltet und eingeloggt werden.
  • Nur ein bisschen beiseite soll etwas schräg nach vorn die Designer-Thermoskanne mit Kaffee plus Gedeck stehen. Er trinkt den Kaffee schwarz.
  • Der Besuchertisch ist für plötzlich anberaumte Sitzungen stets für sechs Personen einzudecken. Ohne Kekse, außer bei Firmenkunden.
  • Von ca. 10.30 Uhr bis ca. 13 Uhr Vorstandsmeeting.
  • Danach „Vorgangsbearbeitung“.
  • Nach Feierabend muss der Schreibtisch absolut leer sein. „Er sieht jedes Staubkorn“, warnte Frau Heise.

 

Der erste Tag von Karins Urlaubsvertretung. Alles ist vorbereitet. Ohne sie wirklich wahrzunehmen, hastet der Chef in sein Büro mit den vier großen Fenstern und brüllt noch im Laufen: „Wo ist die Post?“

 

Karin springt unwillkürlich auf: „Im Posteingangskorb“ und setzt sich vorsichtig wieder hin.

 

Angespannt hört sie, wie er die sorgfältig geordneten Stapel durchwühlt. Winzige Pausen, in denen er flüchtige Handzeichen auf Informationen macht, die er nicht zu lesen gedenkt. Gleich danach klatscht etwas in den Ausgangskorb.

 

„Wo, zum Teufel, ist das Protokoll zum Austauschklingenmodul vom Mini-Shaver?“

Karin sprintet los, stoppt an der Zwischentür: „Bei den abteilungsinternen Protokollen.“

„Wo denn da?“, reißt er auch die letzten Vorgänge auseinander.

„Es lag ziemlich weit oben“, wagt sie zu erwidern.

„Wenn Sie schon keine Ordnung halten können, dann suchen Sie es gefälligst!“

Jetzt muss sie durch die Tür! Mit flatterigen Fingern sucht sie in dem Durcheinander, viel zu aufregt, um überhaupt etwas lesen zu können.

 

„Ich bin jetzt beim Vorstand. Bis ich zurückkomme, haben Sie den Vorgang hoffentlich gefunden“, verabschiedet er sich abrupt.

 

„Ist er weg?“, bietet die Kollegin aus dem Nachbarbüro Karin einen Schluck Cognac aus der Akte „Personal“ an.

Eigentlich hätte sie sehr gern diese Hilfe angenommen, aber sie verträgt keinen starken Alkohol.

So sortiert sie mit zusammengeschnürter Kehle den gesamten Papierkram neu.

 

Während der Chef beim Vorstand ist, summt das Telefon unaufhörlich, sie macht akribisch Notizen, sucht die entsprechenden Vorgänge heraus und legt alles zu dem sogar gefundenen Protokoll. Tausend Dank an Frau Heise, die sie so gut eingearbeitet hat.

 

Beim Mittagessen in der Kantine bringt sie nichts hinunter. Und nur mit viel Mut wagt sie sich danach wieder in „ihr“ Büro.

 

„Sie sind neu hier“, betritt er eine halbe Stunde später aufgeräumt und mit gerötetem Gesicht das Vorzimmer. „Keine Sorge, wir werden es schon miteinander aushalten. Vier Wochen, nicht wahr, Frau?“

„Sommer“, flüstert Karin.

„Frau Sommer also. Ein schöner Name. Haben Sie den Vorgang gefunden? Ein bisschen sortierter sollte mein Schreibtisch allerdings aussehen. Na ja, es wird schon werden“, lächelt er charmant.

„Er war doch noch gar nicht in seinem Raum“, wundert sich Karin später. „Wie kann er dann die Ordnung beanstanden?“

 

Der Rest des Tages verläuft ruhig, sogar einen diktierten und fehlerfrei getippten Text unterschreibt er. Und – Gott sei Dank – telefoniert er stundenlang. Die Stapel auf dem Schreibtisch sind nicht weniger geworden, als er gegen 17 Uhr das Büro verlässt. Karin sortiert zum dritten Mal alles neu.

 

Langsam gewöhnt sie sich an das große Büro, die Leute am Telefon sind meistens sehr nett und haben Verständnis, wenn sie erklären muss, dass ein Vorgang immer noch in Arbeit ist. Trotzdem hat sie jeden Morgen furchtbare Angst. Mal ist er freundlich, mal ist er unausstehlich. Seine Angriffe sind unvorhersehbar und nicht logisch zu begründen.

 

Mit ihrer Leistung hat es nichts zu tun, er behandelt alle ihm untergebenen Personen schlecht. Er höhnt, er spottet, er macht nieder. Bei den freitäglichen Sitzungen ab 9 Uhr zittern einigen Abteilungsleitern dermaßen die Hände, dass sie die Kaffeetasse ganz schnell wieder absetzen. Eine Gruppenleiterin verlässt sogar schluchzend das Büro und verschließt sich in der Toilette.

 

„Frau Heise kommt nicht zurück“, steckt ihr eine Kollegin in der Kantine. „Die nimmt Krankschreibung, dann Resturlaub plus Überstundenabbau und Frührente. Die hat ihre Tage hier genau ausgerechnet. Die Assi übrigens auch nicht. Die hat sich woanders beworben. Kannst die Vorratspackung Binden entsorgen.“

 

Karin ist gewarnt. Ihr Schicksal ist besiegelt: Man wird sie dauerhaft befördern wollen: Sekretärin des Hauptabteilungsleiters, eine Tarifgruppe höher, netto etwas mehr als einhundert Euro. Ist es das wert? Ständig muss sie die heimliche Drittablage konsultieren, weil er nicht weiß, was und wann und ob er überhaupt tätig war. Nie weiß sie, in welcher Verfassung er ist. Jetzt erst werden ihr die Tütchen „Fisherman‘s Friend“ bewusst, die er in der Schublade rechts oben liegen hat.

 

„Wie? Sie wollen nicht? Sie! Sie kriegen hier nie wieder einen Fuß auf die Erde! Außerdem: Man sieht sich immer zwei Mal im Leben“, brüllt er und rafft die Unterlagen für das tägliche „Vorstandsmeeting“ zusammen.

 

„Das hoffe ich nicht für Sie“, giftet Karin so laut, dass er abrupt in der schon geöffneten Tür stehen bleibt. Beide starren sich mit schmalen Augen an – für einen Moment steht die Zeit still. Bis er die Tür zuknallt.

 

„Wow, dem hast du es aber gegeben“, freut sich die Kollegin aus dem Nachbarbüro.

„Wollte ich gar nicht, ist mir so rausgerutscht. Und jetzt?“

„Jetzt steht dir die ganze Welt offen, Mädchen! Du kannst dich hausintern in jeder Niederlassung bewerben, die nehmen dich mit Kusshand. Die kennen den doch! Du kannst natürlich auch den Laden ganz verlassen. Du hast den A… plattgemacht, du schaffst alles!“

 

Den Rest der Woche ist er ihr gegenüber handzahm, grüßt sogar. Am Montagmorgen aber fällt er in sein aggressives Verhalten zurück. Karin hat es endgültig satt und schreit:

„Sie sind so klein, dass Sie sich nur gut fühlen, wenn Sie andere erniedrigen! Das ist widerlich!“

 

Wütend knallt sie die Zwischentür zu seinem Büro zu und lauert hinter ihrem Schreibtisch. Er soll bloß nicht wagen, die Tür zu öffnen … Sie ist bereit, ihm noch ganz andere Wahrheiten an den Kopf zu werfen.

 

Auch nach dem Mittagessen bleibt die Tür geschlossen. Sie weiß, dass er anwesend ist, denn seine Telefonanzeige leuchtet rot. Nach längerem Nachdenken – sie will sich kein Fehlverhalten vorwerfen lassen müssen – öffnet sie die Zwischentür und zischt:

„Ich entschuldige mich für die Form, nicht für den Inhalt.“

Sie gibt ihm keine Chance zu antworten, sondern schließt die Tür sofort wieder.

 

Ein kurzer Anruf bei der Personalabteilung reicht. Karin handelt zwei Tarifgruppen mehr aus und wechselt in das Vorstandssekretariat. Ab jetzt haben die diversen Protokolle und Besuchsberichte pünktlich vorzuliegen. Auch ist der zügige Zeitungsumlauf zu gewährleisten.

 

„Sonst sehe ich mich gezwungen, den Vorstand über ihr Versäumnis zu informieren.“

Karin liebt diesen Satz.