Von Marcel Porta

Siegbert war der Verzweiflung nahe. Dabei war bis vor Kurzem alles so gut gelaufen in seinem Leben. Mit siebzehn das Abitur mit einem Durchschnitt von 1,0 bestanden, das Studium der Physik mit summa cum laude abgeschlossen, Doktorarbeit und Habilitation waren gefolgt.

Mit 26 hatte er Gabriella geheiratet, eine heißblütige Sizilianerin, die ihm, obwohl sie Ärztin war, geistig nicht das Wasser reichen konnte. Doch ihre körperlichen Vorzüge und ihre Verliebtheit machten das wett. Alle Freunde beneideten ihn um sie. Selbstverständlich ihre, denn Freunde hatte Siegbert nicht. Er fand keine Gesellschaft anregender als seine eigene, und gesellschaftliche Konventionen waren ihm zu anstrengend. Die Welt der Logik mit ihren Herausforderungen war ihm Heimat, und da es nur wenige Einwohner in diesem speziellen Universum gab, legte er auf gesellschaftlichen Umgang keinen gesteigerten Wert.

 

„Können wir uns nicht mal mit ein paar Freunden treffen?“, fragte Gabriella immer wieder, denn sie vermisste den Austausch von Ideen, die eine Freundschaft lebendig erhält. und hatte Siegbert anfangs noch mit freundlichen und netten Worten abgelehnt, so war er irgendwann dazu übergegangen, überhaupt keine Antwort mehr zu geben. Doch eines Tages platzte ihm der Kragen und es kam zu einem handfesten Krach.

„Was willst du denn mit diesen Kretins? Die wissen nicht mal, was eine Deckungsveränderliche ist, und wenn ich was über den Schwarzschildradius erzähle, denken sie, ich rede von einem Computerspiel, das im Mittelalter angesiedelt ist. Was soll ich mit denen? Gar über Politik reden? Das ist Tand von Menschenhand und keinen Atem wert.“

„Es gibt doch noch was anderes als Physik!“, insistierte Gabriella, doch damit konnte sie bei ihrem Mann nicht punkten. Sie verstand immer weniger, wieso sie diesen geistigen Riesen und sozialen Zwerg geheiratet hatte. Wo war der zuvorkommende Liebhaber und brillante Unterhalter geblieben, dem sie damals in die Netze geraten war?

So verflüchtigte sich die anfängliche Euphorie, die Gabriella nicht hatte sehen lassen, welch eingeschränktes Weltbild Siegbert besaß und wie engstirnig er war, wie Wasser, das man auf den Ofen schüttet. Mehr und mehr gingen die beiden getrennte Wege.

 

Eigentlich hatte Siegbert jedoch gar nichts gegen Gesellschaft einzuwenden, solange es sich dabei um die Gegenwart schöner Frauen handelte. Denn bei ihnen suchte er keine naturwissenschaftlichen  Gespräche, keine physikalischen Einsichten, sondern physikalische Annehmlichkeiten. Mit diesen Frauen wollte er seine animalischen Begierden, die trotz seiner vergeistigten Lebensweise massiv vorhanden waren, ausleben. Zwar ließ der Vulkan in seinem ehelichen Bett außer gelegentlicher Abwechslung fast keine Wünsche offen, doch er vertrat den Standpunkt, seine außerordentlichen Fähigkeiten bei dieser Art Betätigung monogam zu vergraben, wäre ein Verbrechen gegenüber dem weiblichen Teil der Bevölkerung. Daran glaubte er fest und trug diesem Credo Rechnung.

Gerade ging es ihm diesbezüglich besonders gut, denn am physikalischen Institut hatte eine technische Assistentin die Arbeit aufgenommen, deren Namen ihren Fertigkeiten Rechnung zu tragen schien: Amanda hieß die unglaublich gut aussehende junge Frau. Und sie sah nicht nur gut aus, sondern darüber hinaus stand sie ihm ständig zur Verfügung. Das Versuchslabor hatte in den letzten Tagen Unerhörtes gesehen, wie gut, dass es verschwiegen war.

 

Doch dann geschah das Unglück! Aus heiterem Himmel wurde ihm zu Hause eines Abends schlecht und er verlor das Bewusstsein. Zum Glück war Gabriella zur Stelle, und als besorgte Ärztin und Ehefrau verschrieb sie ihm Tabletten, die er seitdem täglich einnehmen musste. Sobald er sie wegließ, kam der Drehschwindel zurück. Und frische Luft vertrug er überhaupt nicht mehr, sodass er das Haus nicht mehr verließ, sondern sich die Unterlagen aus dem Institut bringen ließ und zu Hause arbeitete. Die Heilung zog sich hin, er wurde immer ungeduldiger und vor allem die Sehnsucht nach Amanda wurde täglich drängender.

 

Auf diese Tatsache schob er es auch,  dass sein Verstand zwar immer noch wie ein Präzisionsinstrument ersten Ranges funktionierte, es aber absolut keinen Grund mehr gab, auf seine Körperlichkeit stolz zu sein. Jeder Versuch, mit Gabriella im Bett seinem Vergnügen nachzugehen, endete mit einem Fiasko. Es MUSSTE die Sehnsucht nach Amanda sein, die seinen Geist blockierte und seine Schwellkörper ihrem Namen so gar keine Ehre machen ließ. 

„Mach dir nichts draus, Siegbert, das kommt manchmal vor. Die männliche Sexualität ist ein fragiles Gebilde. Wenn du krampfhaft versuchst, das Problem mit dem Holzhammer zu lösen, ist das nur kontraproduktiv.“

Am liebsten hätte er Gabriella nach diesen Worten eine reingehauen, doch das passte absolut nicht zu seinem kulturellen Selbstbild. So gab er keine Antwort, sondern versuchte weiter verbissen, seinen Nichtsnutz zu einem wenigstens halbwegs erwähnenswerten  Einsatz zu befähigen. Vergeblich, wie er sich nach endlosen mühevollen Minuten eingestehen musste.

 

„Du könntest mir helfen, meine Liebe“, resignierte er schließlich, „statt mir Ratschläge zu erteilen. Frauen haben da doch ihre Methoden, und du weißt, was ich besonders mag.“

„Gerne, mein Schatz, lass mich nur machen.“

An ihr lag es definitiv nicht. Sie bemühte sich nach Leibeskräften. Erfolg war aber auch ihr nicht beschieden, denn das einen Wurmfortsatz imitierende Anhängsel machte keinen Mucks. Weder sanftes Streicheln, hartes Rubbeln, noch die sonst stets erfolgreiche Mund-zu-Mund-Beatmung entlockten ihm ein Zucken, das als Beginn einer Rekonvaleszenz zu interpretieren gewesen wäre. Nichts, nada, niente, rien! Zum Verzweifeln!

Wie sollte er das nur seiner neuen Geliebten beibringen, wenn er das Haus wieder verlassen konnte. Amanda hatte sicher kein Verständnis und keine Engelsgeduld mit ihm wie Gabriella. Trotzdem war sie der Traum seiner Nächte, denn kaum war er abends eingeschlafen, erschien sie und trieb es so intensiv mit ihm, dass er sich beim Aufwachen fragte, wieso zum Teufel er in der Realität nicht mal in der Lage war, einen hohen Bogen zu pissen.

Immer noch war er stolz auf seine Leistungen, die er mit ihr schon erbracht hatte. Aber das waren Vergangenheitswerte und erlaubten keine Extrapolation in die Zukunft, wie er allzu nachdrücklich erleben musste. So, wie sich sein Lustorgan im Moment präsentierte, konnte er nicht einmal eine auf diesem einschlägigen Gebiet völlig unerfahrene Nonne beeindrucken.

 

So geriet Siegbert nach und nach in eine Depression, die ihm auch die geistige Arbeit verleidete. Die geliebte Physik, der er in seinem Zimmer mit komplizierten Berechnungen zu Leibe rücken wollte, mutierte von purem Vergnügen zu banaler Arbeit und bekam einen schalen Beigeschmack. Das Leben verlor mehr und mehr an Attraktivität.

 

„Du, ist das nicht verrückt?“, fragte ihn Gabriella eines Abends im Bett, als er trotz mehrerer Anläufe wieder einmal kläglich versagte. „Ich habe einen anonymen Brief bekommen. Das ist mir noch nie passiert.“

„Was steht denn drin? Und warum sagst du das so komisch?“

„Darin steht, dass du seit einigen Monaten eine Geliebte hast und regelmäßig mit ihr ins Bett steigst. Vielleicht ist das ja der Grund, warum es zu Hause nicht mehr klappt. Was meinst du dazu?“

„So ein Quatsch! Von wem und wann willst du den Brief denn bekommen haben?“

„Er ist anonym, wie gesagt.“

„Pah, das ist doch völlig unlogisch. Ich war doch schon mehr als sechs Wochen nicht mehr aus dem Haus.“

„Nun ja, den Brief habe ich schon vor etwa zwei Monaten erhalten“, sagte Gabriella gelassen, schlenderte mit wiegenden Hüften und nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, aus dem Schlafzimmer. In der Tür drehte sie sich noch einmal um, grinste ihn verschmitzt an, sandte ihm ein Luftküsschen wie in den ersten Tagen ihrer damals noch glücklichen Ehe, und dann hörte er nur noch ihr melodisches Pfeifen, das ausgesprochen fröhlich klang und seinem Zustand Hohn sprach. 

 

In Siegberts Gehirn wurden plötzlich bisher brachliegende Synapsen aktiviert, und es begann, auf Hochtouren zu arbeiten …

 

© Marcel Porta, 2017

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