Von Ingo Pietsch

Tulpenweg 23 stand auf dem Brief.

Anscheinend war wieder jemand in das Haus eingezogen, das seit einem Vierteljahr leer stand.

Ein Nachsendeaufkleber zierte die Vorderseite des Briefes. Eine Rechnung eines großen Internet-Kaufhauses. Und dann noch ein Bekleidungs-Katalog, ein Spielzeugprospekt und der Flyer eines Brillenfachgeschäftes.

Karsten zuckte mit den Schultern. Die typische Post einer jungen Familie.

In dem kleinen Haus in der 23 hatte vorher eine ältere Dame gewohnt, die aus Altersgründen weggezogen war.

Karsten war von Beruf Fachkraft für Briefzustellung und schon mehrere Jahre für den innerstädtischen Bereich zuständig und konnte die Post schon fast blind zustellen.

Erst lieferte er die Post der Geschäfte in der Fußgängerzone aus, und dann folgten die Straßen rund um den Kern der City.

Die Häuser standen hier ein Stück weiter auseinander und waren meist Einfamilienhäuser oder Villen.

Es lohnte sich kaum auf das Postfahrrad mit den beiden Gepäckträgern aufzusteigen, bis er am nächsten Haus angekommen war. Aber die letzten Adressaten wohnten doch ein Stückchen weiter weg und der Rückweg war so schneller zu bewältigen.

Karsten pfiff fröhlich vor sich hin und die Sonne schien herrlich an diesem schönen Frühlingstag.

Der Tulpenweg war links und rechts von großen Eichen gesäumt. Im Sommer spendeten sie Schatten und im Herbst, zum Ärger der Anwohner, jede Menge Laub.

Und eigentlich war es kein Weg, sondern eine Allee.

Karsten wohnte nicht weit von hier und genoss ausgedehnte Spaziergänge, die bis in den Stadtpark führten.

Er schüttelte den Kopf, als er die Gedanken beiseite schob, denn es war noch kein Feierabend.

Karsten kam an den brusthohen schmiedeeisernen Gartenzaun, der mit einer Buchenhecke verwachsen war. Die Hecke war mit den vertrockneten Blättern noch recht nackt und Karsten spähte schon einmal in den Garten, ob dort nicht irgendwo Spielzeug herumlag.

Aber dort fand sich nichts dergleichen. Auch waren die Fenster noch ohne Gardinen. Und vor der Garage stand kein Auto.

Wahrscheinlich waren alle heute Morgen unterwegs.

Karsten rieb sich das Kinn. In den nächsten Tagen würde er sicher mehr über die neuen Anwohner erfahren.

Er legte den Hebel des Tores um und ging den kurzen Weg zur Haustür, in der Briefkastenschlitz befand.

Ein Blick in die leeren Fenster offenbarte jede Menge Kartons und Möbel, die ihren endgültigen Standort noch nicht gefunden hatten.

Karsten hatte seine Neugier gestillt und näherte sich dem Briefkasten. Über dem Schlitz, im oberen Teil, waren drei bräunliche Glasscheiben eingelassen, durch die man verschwommen in den Flur sehen konnte. Auch hier standen, schemenhaft zu erkennen, Umzugskartons herum.

Karsten steckte erst den Katalog, dann den Prospekt, den Flyer und anschließend den Brief durch den Schlitz. Alles schön nach Größe und Gewicht sortiert. Kaum war der Brief zur Hälfte verschwunden, als er Karsten förmlich aus der Hand gerissen wurde.

Ein Kläffen war von der anderen Seite der Tür zu vernehmen. Durch den leeren Flur hörte es sich so an, als wären es ein Dutzend Tiere.

Karsten ließ augenblicklich los. Einem wütenden Knurren folgte das Zerreißen von Papier.

Weiße Fetzen schneiten hinter den Glasscheiben herunter.

Erschrocken stürmte Karsten aus dem Vorgarten und setzte seine Tour fort.

So etwas hatte bisher nicht erlebt.

Er musste seine Zustellehre wahren und dachte den restlichen Arbeitstag darüber nach, wie er die Post heile zustellen konnte.

 

Am nächsten Tag waren zwei Briefe von der Stadtverwaltung an den Tulpenweg 23 adressiert.

Karsten war noch am späten Nachmittag hier vorbeispaziert, aber die Familie schien erst abends wieder zuhause zu sein und so hatte er niemanden angetroffen.

Allerdings hatte sich das Problem schon von selbst gelöst.

An der Tür klebte ein Zettel: Unser Hund ist in der Küche eingesperrt. Bitte die Post normal einwerfen.

Und tatsächlich. Im linken Fenster stand ein kleiner weißer Hund und spähte nach draußen.

Er hatte Karsten genau im Blick und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.

Was Karsten allerdings etwas Angst machte, war der böse Blick des Cesar-Hundes. Karsten fiel die genaue Hunderasse nicht auf Anhieb ein, aber er erinnerte sich gut an die Hundefutterwerbung.

Mit verengten Augenlidern verfolgte der Hund jede seiner Bewegungen.

Karsten öffnete den Schlitz und sah zu dem Hund hoch.

Der war in seinen Bewegungen wie starr.

Karsten hatte die Briefe gerade losgelassen da erklang auch schon ein das Bellen im Flur und er konnte es durch die Verglasung abermals große Flocken schneien sehen.

Er öffnete den Briefkastenschlitz und starrte genau in die Augen des wütenden Hundes.

So ging es nicht weiter.

 

Wieder befand sich ein Memo an der Tür. „Post bitte hinten auf die Terrasse legen“

Karsten sah zum Küchenfenster hinein: Der Hund lag schlafend am Boden.

Karsten umrundete das Haus und achtete dabei peinlichst genau darauf, nicht auf irgendeine „Tretmine“ zu treten.

Die Terrasse hatte ein Überdach und man konnte durch ein Panoramafenster ins Wohnzimmer blicken.

Eine Sofaecke stand schon, der Rest war noch verpackt.

Karsten legte die Post auf einen runden Tisch und beschwerte sie mit einem Stein.

Wie in einem Horrorfilm stand plötzlich der Hund am Fenster und atmete die Scheibe an. Er leckte die Scheibe ab und stellt stolz seine spitzen Zähne zur Schau.

Karsten zuckte zusammen. Er ging langsam rückwärts von der Glasfront weg.

Woher auch immer der Cesar-Hund wusste, wie es funktionierte: Er sprang an den Griff der Schiebetür, die zur Seite gedrückt werden musste und sprang aus dem Stand dagegen.

Karsten rannte so schnell er konnte zum Eingang zurück, doch der Hund war schneller.

Er bekam sein schwarz-gelbes Hosenbein zu fassen und brachte ihn zu Fall.

Karsten landete weicher als gedacht auf dem Rasen.

Der Hund zog und zerrte an der Hose. Karsten setzte sich voller Panik auf und schob sich auf dem Hintern rückwärts Richtung Ausgang.

Fast hätte er dabei seine Hose verloren.

Ein Ruck und das Bein war befreit.

Hund und Mensch belauerten sich.

Die Hose war hin und Karsten wütend.

Der Hund hüpfte immer wieder auf einem Fleck auf und nieder und bellte dabei.

„Aus!“, rief Karsten mit fester Stimme.

Der Hund drehte sich ein paar Mal irritiert im Kreis und war plötzlich still.

Karsten stand auf, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, ging zum Garten hinaus und verschloss gewissenhaft das Gartentor.

 

Am nächsten Tag hing ein Schild am Gartenzaun:

Vorsicht vor dem Hund! Wenn Hund kommt, flach auf den Boden legen und auf Hilfe warten. Wenn keine Hilfe kommt – viel Glück.

Karsten war den Besitzern nicht einmal böse.

Unter dem Schild stand ein Zusatz: Wir haben Fluffy jetzt angeleint.

Karsten öffnete das Tor langsam und es quietschte dabei unsäglich. Aber weder im Fenster noch im Garten tauchte irgendwo ein hyperaktives Fellbündel auf.

Er steckte die Post in den Briefkasten und horchte ahnungsvoll hinter den Briefen her. Aber es blieb ruhig.

Karsten hatte sich extra eine Tüte mit Leckerlis besorgt und jetzt war Fluffy nirgendwo zu sehen.

Karsten fand Fluffy angeleint auf der Terrasse.

Sofort begann der Hund knurren und stürmte auf den Briefträger zu.

Der zuckte zusammen, doch dank der Leine erreichte ihn der Hund nicht.

Die Leine straffte sich und konnte den agilen Hund kaum bändigen.

Karsten warf ihm ein Leckerli hin. Doch der Hund schnaubte den Hundekuchen lediglich verächtlich an und trottete auf sein Kissen zurück.

Der Briefträger zuckte mit den Achseln und setzte seine Tour fort. Dann eben nicht.

Ein großer, dunkler Hund schnupperte eine Eiche nach der anderen ab und markierte überall sein Revier. Der Hund sah verwildert aus und strahlte etwas aus, das einen Abstand halten ließ.

Karsten sah dem Köter nach, wie er sich Fluffys Haus näherte und dann über das Tor sprang.

Er vernahm ein furchtbares Gebell und wusste sofort, dass der große Hund Fluffy angriff.

Sofort eilte Karsten zurück und stürmte in den Garten.

Der Hund hatte Fluffy eine Ecke gedrängt, den Tisch umgeworfen und präsentierte sein riesiges Maul.

Geistesgegenwärtig schnappte sich Karsten den Gartenschlauch, der an der Wand hing, drehte den Hahn bis zum Anschlag auf und zielte dann auf den Hund.

Der Hund wurde von dem Wasser umgeworfen, rappelte sich aber gleich wieder auf.

Mit fletschenden Zähnen und vor Geifer triefendem Maul wandte er sich Karsten zu.

Dem schlug das Herz bis zum Hals.

Karsten spritzte den Hund wieder an, doch der ließ dich diesmal nicht davon irritieren und riss ihm den Schlauch aus der Hand.

Nur ein Satz und das Tier hätte ihn erreicht.

Karsten kramte in seinen Taschen, zog ein Leckerli hervor und warf es dem Hund unglücklicherweise an den Kopf, statt vor die Pfoten.

Blutunterlaufene, hervorquellende Augen glotzten ihn wütend an.

Dann, mit einem Mal fing er an zu winseln, wälzte sich ein paar Mal am Boden und rannte schließlich davon.

Fluffy hatte ihm ins Bein gebissen und erst losgelassen, als das Untier sich davon machte.

Karsten setzte sich zu Fluffy und hielt ein Leckerli hin, das er ihm aus der Hand fraß.

Der Briefträger kraulte den kleinen Hund, der ihm das Gesicht ableckte.

So hatten sich zwei neue Freunde gefunden.