Von Anja Meier

Die Farbe des Waldes verändert sich, denn die Nacht bricht heran.
Noch reicht das sich bläulich färbende Licht zum sehen, doch die Zeit rinnt ihnen davon. Fichtennadeln fliegen in alle Richtungen und Bucheckern knacken unter dem Gewicht der Laufenden.
Nach der blauen Stunde kommt die Finsternis, dann wird es fast nicht mehr möglich sein ihr noch zu folgen.
Beute.
Der Atem der Menschen geht stoßweise. Die schweren Schuhe machen den meisten Lärm, übertönen selbst die Nachtrufe der sich in den Baumwipfeln sammelnden Raben. Die Vegetation aus Buchen, Eichen und einigen Nadelbäumen fliegt an ihnen vorbei.
Lange werden sie dieses Tempo nicht mehr durchhalten, aber noch sind ihre Schritte schnell und sicher.
Eine Frau und vier Männer, unter den orangen Leuchtwesten grau-braune, lange Kleidung, die vor den kleinen Zweigen und Ästen schützt. Diese würden sonst Striemen auf der Haut hinterlassen, die nach Abklingen des Adrenalins noch Tage lang brennen.
Ganz vorne, zielstrebig und ohne die Sorgen der Menschen, rennt ein kleiner Münsterländer. Ausgestattet ebenfalls mit orangefarbener Warnweste und an einem Schweißriemen der gleichen Farbe.
Blut.
Die Hundeführerin hat keinen Atem mehr zum Reden, getrieben durch das Schwinden des Tageslichts werden ihre Schritte und die ihrer Begleiter immer eiliger.

Der Zug am Geschirr bremst mich aus. Ich könnte so viel schneller. Hier ist es lang, mein Ziel, meine Beute. Die Spur ist keine gerade Linie, es ist eine Farbwolke unter vielen, wabernd im Nebel der Gerüche, doch nur diese eine ist heute relevant. In der Luft, auf dem feuchten Moos und dem Gehölz am Boden. Nase, Gehirn, Pfoten, ein Gefühl des Rausches und der Einheit, das ist, was ich kann.
Das ist richtig.
Jeder Tropfen Blut ist eine Explosion in meinem Kopf, lässt die Farbe noch mal aufleuchten bevor sie größtenteils wieder mit dem Nebel der anderen Gerüche verschwimmt. Lässt meinen Körper vor Erwartung und Verlangen erzittern. Speichel bildet sich in meinem Maul, das ist gut, umso klarer kann ich sehen. Hier lang und jetzt hier, näher, ich komme näher.
Da vorne wird sich der Wald zu einer freieren Ebene öffnen.
Kalt! Der Wind auf dieser Lichtung beißt in meine Nase, der Nebel verwirbelt, wo ist sie? Wo ist meine Farbe?

Sobald ihr Hund langsamer wird stoppt die Hundeführerin.
Die Männer hinter ihr stützen ihre Hände auf die Knie oder hocken sich hin und ringen so nach Luft, sie aber weiß es besser, geradestehen, Lunge nicht noch zusammenpressen.

Sie beobachtet ihren Münsterländer, er hat die Spur durch den Wald sehr gut verfolgt, jetzt steht er auf einer Lichtung, scharfer Wind von rechts.
Im Wald ist er durch die Mischung aus älteren Buchen und jungen, nur buschhohen Eichen gemindert, hier bringt er die feuchte Luft vom nahegelegenen See mit.
Enten. Verwesender Fisch. Kalte Steine.
Sie muss stehenbleiben wo die Spur noch sicher war, sie ist der Anker an dem er sich orientieren kann, doch sie sieht dass er noch lange nicht aufgegeben hat.
Der Brustkorb des Hundes hebt und senkt sich schnell, viele kleine Atemzüge um möglichst viele Informationen raus zu filtern.
Unbekannte Menschen. Reh. Chipstüte.
Die Männer hinter ihr erheben besorgt die Stimme, sie will sich gerade auf ihre Worte konzentrieren da reißt die Leine nach vorne, zwei Stolperschritte, dann hat sie ihren Takt wieder gefunden.
Jetzt rennt sie gänzlich.

Als erstes kribbelt es über den Rücken. Meine Nase bekommt die Information, dennoch spüre ich den ‚Erfolg‘ zuerst die Wirbelsäule entlang. Wenn sich dann die Krallen meiner Pfoten für den ersten, wieder sicheren Schritt in die Grasschicht auf der Erde bohren, dann fällt eine Spannung von mir ab um sich in einer Neuen aufzubauen.
Meine Gedanken, an meine Gefährtin die meine sichere Spur markiert und ihre Begleiter, an die Begebenheiten die in den letzten Stunden an diesem Platz passiert sind, an Hunger und meine schmerzenden Pfoten, sie verblassen nicht, sie werden weggefegt. Denn hier ist meine Spur. Hier entlang geht es zu meiner Beute.

Die Hundeführerin befindet sich jetzt ein gutes Stück vor den Männern.
Die haben nach einem Laut der Freude, aber auch der Verzweiflung über die bevorstehende Anstrengung ihre sperrigen Gerätschaften wieder geschultert.

Auf der Lichtung war es heller, jetzt biegen sie ins dunklere Gehölz ab. An dieser Stelle stehen mehr Fichten, den Geruch des Harzes können sogar menschliche Nasen wahrnehmen.
Durch die dünneren Stämme können sie das leuchten der Warnwesten von Mensch und Hund vor sich gut ausmachen, aber die Bäume stehen hier auch viel näher aneinander.
So intensiv.
Die Schultern und Kniegelenke der Männer schmerzen von den ungewohnten Seitwärtsbewegungen um hier das Tempo zu halten.
Die Dämmerung schreitet voran, so langsam sollten sie ihre Taschenlampen herausholen … doch sie wagen es nicht. Sie wagen es nicht, stehenzubleiben und den Hund und seine Hundeführerin aus den Augen zu verlieren.

Der kleine Münsterländer gibt keinen Spurlaut, er jagt stumm, erst beim finden wurde ihm beigebracht… – Scharfes, kurzes Bellen, erst fast noch heiser, dann kräftig und aufgeregt, es schmerzt fast in den Ohren, nachdem dort lange nur das Rauschen des eigenen Blutes zu hören war.
Gefunden!
Nur noch ein paar Schritte, dann sind sie da, die Schlaufe gleitet schon von der Schulter, eine Hand öffnet routiniert den Reißverschluss der Tasche.

Hier!
Die Farben der Spur rund um diese Senke sind überwältigend, es liegt hier schon einen Moment, auch das Blut hat sich hier gesammelt. Ich belle, so hab ich es gelernt, finden und bellen, nicht immer ist meine Partnerin so nah, jetzt ist sie neben mir. Normalerweise bin ich in diesem Moment am wichtigsten, doch heute schaut sie zuerst nach der Beute, bis die Männer da sind, dann fällt sie mir um den Hals, sie gibt mir mein Lieblingsseil. Ich nehme es, ich spiele mit ihr, wie immer, doch heute weiß ich war es anders, heute ist sie so erleichtert, so glücklich, dass ich es bis ins Mark spüre: ein Rausch annähernd so gut wie die Jagd.

Die 86- jährige, demenzkranke Rentnerin war nach dem Autounfall ihres Enkels leicht verletzt von der Autobahn aus in den Wald gelaufen.
Ihr Enkel war zwar auch nicht schwer verletzt, aber eingeklemmt, seine Rufe drangen nicht mehr zu seiner verwirrten Großmutter durch.
Fünf Stunden nach dem Unfall war endlich eine Hundeführerin mit ihrem ausgebildeten Mantrailing-Hund vor Ort um die bereits anwesenden Sanitäter zu unterstützen.

Er wurde kurz vor 18 Uhr auf die Spur der Vermissten angesetzt, 37 Minuten später legte einer der Sanitäter ihr eine Rettungsdecke aus seinem medizinischen Koffer um. Sie war benommen und unterkühlt, aber sonst wohl auf.