Von Helena Dorbandt

Monotones Surren erfüllte den sterilen Raum. Verknotete Kabel schlängelten sich von ihrem nackten Arm zu der piepsenden Maschine rechts von ihr. Sie fröstelte leicht und zog ihre Bettdecke mit zittrigen Fingern enger. Ihr schwacher Körper ruhte nun schon so lange auf diesem Bett, dass ihre Glieder bereits steif geworden waren und ihr Rumpf sich schmerzlich verkrampft hatte. Doch wollte sie keinem der Pfleger zu Lasten sein und so schwieg sie still.

Und wie in der letzten Zeit so oft, verbrachte sie ihre Zeit mit einem schweigenden Blick aus dem kleinen Fenster zu ihrer Linken. Lindgrüne Gardienen hingen an dessen Seiten und doch konnte sie einen Blick auf die sich wiegendem Äste vor ihrem Fenster werfen.

 

Ein sanftes Klopfen an der Tür riss sie schreckhaft aus ihren Gedanken. Es klopfte ein zweites Mal, dieses Mal lauter.

„Herein“, sagte sie, ihre Stimme kratzig vom vielen Schweigen. Mit einem leichten Quietschen schwang die Tür auf und drei Leute nacheinander betraten den Raum.

Allen voran betrat ein Mädchen das Zimmer, im geblümten Kleid. Ihre honigblonden Haare waren seidig und es bedachte sie mit einem herzlichen Lächeln. Die Frau, die nach ihr eintrat, hatte verblüffende Ähnlichkeit mit dem Mädchen. Auch sie war blond, doch trug sie ihre Haare in einem aufwendig geflochteten Zopf. Zuletzt folgte den beiden ein Mann, welcher wiederum der Frau beinahe wie ein Ei dem anderen glich. Die beiden Erwachsenen tauschten einen Blick, dann schloss der Mann vorsichtig die Tür.

 

Einen Moment standen die Drei einfach nur da, tauschten liebevolle Blick. Sie genoss es, den Anblick ihrer Liebsten. Sie waren gekommen, sie alle waren gekommen. Diese Gewissheit erfüllte sie mit unendlicher Wärme.

„Hey Omi.“ Das blonde Mädchen setzte sich mit einem sanften Lächeln an ihre Bettkante, einen eingepackten Blumenstrauß in ihren zierlichen Händen. „Ich hab dir ein paar Blumen mitgebracht.“ Mit flinken Fingern befreite sie den Strauß von dem Papier und ein Bund an gelben Tulpen kam zum Vorschein. Die Farben der Blüten leuchteten kräftig und brachten eine sonnige Frische in den sonst so kalten Raum.

„Danke, mein Kindchen“, antwortete sie mit schwacher Stimme. „Sie sind wahrlich wundervoll.“

„Annabel?“ Die Mutter der Kleinen legte ihr fürsorglich eine Hand auf die Schulter. „Magst du mal eine der Schwestern draußen fragen, ob sie eine Vase mit etwas Wasser für die Tulpen haben?“

„Na klar.“ Behutsam legte sie die Blumen auf den kleinen Beistelltisch und rauschte dann flink durch die Tür auf den Gang. Als die Tür klickend ins Schloss fiel, setzte sich ihre Mutter an den gleichen Platz, an dem die liebe Annabel noch vor wenigen Augenblicken gesessen hatte.

„Wir haben mit der Ärztin gesprochen, kurz bevor wir herein kamen“, begann die Frau. Unsicher sah sie zu dem Mann neben ihr auf, der ihr bedrückt zunickte. „Sie hat..“ Doch weiter kam die Frau nicht. Die Worte schienen ihr im Halse stecken zu bleiben.

„Sschh..“, flüstere sie und streckte ihre knochigen Finger nach der Frau aus. „Töchterlein, spar dir die Kraft.“ Sie tätschelte die Hand ihrer Tochter. „Ich muss es nicht wissen. Ich möchte es nicht einmal. Alles was zählt, ist, dass ihr heute bei mir seid.“ Sie sah von ihrer Tochter zu dem großen Mann. „Du und dein Bruder. Und natürlich die bezaubernde Annabel.“

„Ich..“, setzte ihre Tochter noch einmal an, doch ihr Bruder war schon an ihrer Seite, eine Hand auf ihrem Arm. Er gab ihr sichtbar Kraft und so schenkte ihre Tochter ihr lediglich ein trauriges Lächeln.

 

Da schwang die Zimmertür erneut auf und die kleine Annabel kam hinein getänzelt, eine für ihren zierlichen Körper viel zu große Vase in den Händen.

„Komm, ich nehm sie dir ab“, sprach der Mann und hob die gefüllte Vase auf ihren Nachttisch.

„Danke, Onkel Paul.“ Die Kleine quetschte sich neben ihre Mutter aufs Bett, ein strahlendes Lächeln auf dem pausbäckigen Gesicht.

„Erzähl mir, Kind. Wie geht es dir in der Schule?“

„Ich habe mich für unsere Schülerzeitung beworben“, erzählte ihre Enkelin stolz. „Wenn ich groß bin, möchte ich einmal bei der Zeitung arbeiten, genau wie du früher, Oma.“

„Das ist eine wundervolle Idee, meine Liebe.“ Sie seufzte schwerfällig. Jeder ihrer Atemzüge war anstrengend geworden.

 

Einen Moment verbrachten sie so in angenehmer Stille. Eingehend musterte sie ihre Liebsten. Sie hatte Spuren bei ihnen hinterlassen, dass war ihr klar, als sie in die Gesichter ihrer Familie sah.

Ihr Sohn war so selbstsicher und stark, wie sie es in jungen Jahren immer gewesen war. Paul hatte starke Instikte und wusste sich in allen Lebenslagen zurecht zu finden. Er strahlte eine wissende Gelassenheit aus, die sie mit großem Stolz erfüllte.

Madeline war zartbeseitet, im Gegensatz zu ihrem Bruder. Doch trug sie ihre Haare, und das erkannte sie mit einem freudigen Lächeln, so wie sie selbst es früher für gewöhnlich getan hatte. Nicht nur das, sondern sie hatte auch den gleichen Sinn für Gerechtigkeit, wie sie selbst es an sich wertschätzte.

Und ihre Enkelin, ihre zauberhafte Annabel, hatte ebenfalls mehr als ihre blonden Haare geerbt. Es war für sie etwas ganz besonderes, dass ihre Enkelin mit ihr die Leidenschaft für das Schreiben und den Journalismus teilte. Sie war wortgewandt und schlau; Annabel würde es einmal weit bringen.

„Ihr seit mir alle gut gelungen“, flüsterte sie und drückte die Hand ihrer Tochter. Diese erwiderte die Geste krampfhaft.

„Du warst immer gut für uns alle da, das ist wahr.“ Keuchend streckte sie ihre Hand, um sich mit angestrengter Bewegung die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Doch die Schläuche, die in ihrem Arm veranktert waren, machten ihr Probleme. Da streckte ihre Enkelin ihre kleine, weiche Hand aus und nahm ihr die Strapazen damit ab.

„Danke.“, murmelte sie schwach. Ihre Zunge fühlte sich schwer an, wie gelähmt. Ihr Sohn ließ sich mit besorgter Miene an ihrem Fußende nieder. Auch ihre Enkelin sah ängstlich von ihr zu ihrer Mutter und wieder zurück.

„Alles gut, Omi?“ Das zarte Mädchen lächelte autmunternd.

„Natürlich, meine Kleine.“ Sie gab sich alle Mühe, ihrer Annabel Mut zu machen. „Oma ist nur müde.“

„Anni, möchtest du einen Schokoriegel?“ Madeline strich zärtlich durch das glänzende Haar ihrer Tochter. Es sollte ungezwungen klingen, doch die Sorge schwang unweigerlich in ihrer Stimme mit. Das Mädchen blickte einen Moment verträumt ins Leere.

„Nein“, sagte sie dann jedoch bestimmt und sah zu ihr herüber. „Ich möchte bei meiner Omi bleiben.“

„Das freut mich sehr, meine liebe Annabel. Ich..“, wollte sie noch hinzu fügen, als ein Hustenkrampf sie erschütterte. Es drückte schmerzhaft in ihrer Brust. „Ich..“, versuchte sie es noch einmal, doch die Kraft fehlte ihr.

„Ruh dich aus, Mutter.“ Ihr Sohn sprach die Worte als liebevollen Befehl. Sie konnte nicht mehr tun, als schwach zu nicken, daher beließ sie es dabei.

 

Die Stille im Krankenzimmer wurde nur von den unentwegt arbeitenden Maschinen ausgefüllt. Schwach drehte sie ihren Kopf um noch einmal einen Blick auf die leuchtend bunten Blumen zu werfen, die noch immer ihren Nachttisch schmückten. Gelb war immer ihre Lieblingsfarbe gewesen und es freute sie, dass man sich daran erinnert hatte.

Lang sah sie zu den Tulpen, bis diese vor ihren Augen bereits zu verschwimmen schienen. Doch nicht nur die Pflanzen zerliefen vor ihren Augen; es war, als hätte jemand den ganzen Raum unter Wasser getaucht. Und auch ihr Brustkorb fühlte sich an, als würde das Gewicht von tausend Tonnen Wasser darauf lasten.

Mit letzter Energie umschlang sie die schlanken Finger ihrer Tochter enger. Es fror sie nun noch mehr unter der dünnen Decke und ein Zittern ließ ihren Körper erzittern.

Ihr Frösteln ging nicht unbemerkt vorüber. Die ganze Familie rückte enger an sie heran. Die angenehme Temperatur ihrer Körper erfüllte sie mit wohliger Wärme.

„Ich hab dich lieb, Mama“, flüsterte Madeline ihr ins Ohr. Sie wollte Lächeln und ihr antworten, wie viel Liebe sie für sie alle empfand. Doch ihre Muskeln wollten ihr nicht mehr gehorchen. Die Kraft wich ihr wie ein sanfter Lufthauch aus ihrem Körper. Es kostete sie ihre letzte Kraft, noch einen intensiven Blick auf ihre Liebsten zu werfen.

‚Sie werden sich an mich erinnern‘, war ihr letzter Gedanke, bevor ihre Lider schließlich zu schwer wurden. ‚Sie werden immer einen Teil von mir in ihrem Leben tragen.‘ Ihr Kopf sackte schwer in ihr Kissen und sie fiel in einen unendlichen Schlaf.