Von Christian Spellerberg

Die Tür fiel hinter Marla zu. Dunkelheit hüllte sie ein. Ein modriger und feuchter Geruch stieg ihr in die Nase.

Nicht, dass es kein Licht gegeben hätte, aber der Schein der verstaubten Lampe war kaum mehr als ein leichtes Schimmern.

„Keine Angst, hab` keine Angst …“, sang Marla gedämpft, während sie sich entlang in die Tiefe tastete. „…ich bin daheim, bin zuhause, ich hab keine Angst.“  

Die Geräusche der fernen Straßen klangen nur noch gedämpft zu ihr herab, bis sie schließlich ganz verschwanden.

Unten angekommen, blieb sie einen Moment lang regungslos stehen und versuchte, die aufkommende Panik wegzuatmen. Es war so still, dass sie ihren Herzschlag laut und deutlich hören konnte.

Marla schluckte und hielt ihre flache Hand an die Mauer.

Ihre Mutter hatte immer gesagt, wenn Marla nur oft genug in den Keller gehen würde, würde auch ihre Angst verschwinden, doch das war seit einem Jahr nicht passiert. Nichts war besser geworden, nicht die Panik und nicht die Furcht vor den kleinen dunklen Gängen, die von hier unten aus abzweigten.

Links von ihr führte eine weitere Treppe in den etwas tiefer gelegenen Kohlenkeller hinab. Dort hing überhaupt keine Lampe, sodass man das Ende der Treppe nicht sehen konnte.

Marla schlich weiter vorwärts und warf immer wieder einen Blick auf die dunkle Treppe zu ihrer Seite.

Jedes Mal hatte sie das Gefühl, von unsichtbaren Augen aus der Dunkelheit beobachtet zu werden, sobald sie auch nur einen Augenblick lang nicht die Treppe im Blick behielt. Sie ging schneller, eilte um die Ecke, öffnete die alte Holztür des Kartoffelkellers, stürzte hinein, warf die Tür hinter sich zu und verriegelte sie von innen.

Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der Tür. Ihr Atem ging stoßweise und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich beruhigt hatte.

Es ist nur ein Keller, es ist doch nur ein Keller…, wiederholte Marla. Nur ein dunkler Keller mit einer schummrigen Lampe.

Aber es war mehr als das.

Sie öffnete die Augen. Hier bin ich erst mal in Sicherheit.

Die Kartoffelkiste stand neben dem Holzregal, in denen einige Kartons standen. In ihnen – das wusste sie – bewahrte ihre Mutter all die Dinge aus ihrem früheren Leben auf, die sie aus ihrer Wohnung verbannt hatte.

Marla ging zur Kartoffelkiste hinüber und öffnete sie. Sie wollte gerade den Korb mit Kartoffeln auffüllen, als sie spürte, dass jemand oder etwas sie beobachtete. Sie wandte den Kopf.

Nichts. Nur Einbildung. Dennoch fühlte sie sich von etwas angezogen. Ihr Blick fiel auf das Regal.

Kartons.

Einer neben dem anderen. Und ganz in der Mitte stand ein grauer Karton mit abgenutzten Kanten, der ihr nie zuvor aufgefallen war und sie schweigend ansah.

Lucy, hatte jemand mit einem schwarzen Stift in hektischer Handschrift auf die Seite geschrieben.

Langsam stellte Marla ihren Korb ab, ging zum Regal und legte ihre Hand auf den Karton.

Weder ihre Mutter, noch ihr Vater hatten seit einem Jahr über Lucy gesprochen, und wenn Marla vorsichtig eine Frage zu ihrer Schwester stellen wollte, wurde sie mit bösen Blicken zum Schweigen gebracht. Lucy gab es nicht.

Sie zog den Karton aus dem Regal und war verwundert, wie leicht er war.

Behutsam stellte sie ihn auf den Boden und öffnete ihn.

Jemand hatte alles sorgfältig zusammengetragen, was Lucy ausgemacht hatte. Benno der Hund, war in eine Plastiktüte gewickelt worden, damit er nicht einstaubte. Sie ging in die Hocke, um besser in den Karton greifen zu können.

Da sie im schwachen Licht kaum etwas sah, wühlte sie mit einer Hand im Karton, bis sie plötzlich auf etwas Hartes stieß.

Sie zog den Gegenstand heraus. Es war das kleine Holzkrokodil, das Marla ihrer Schwester zu ihrem 7. Geburtstag geschenkt hatte.

Das wird dich beschützen, hatte sie Lucy strahlend erklärt. Stell es nur immer neben dein Bett, dann kann dir nichts passieren.

Lucy hatte trotz ihrer Angst mutig genickt. Ich nenne es Timi-Tapp. Er wird jetzt auf mich aufpassen.

Marla strich dem Krokodil traurig über dem Kopf und stellte es ab, dann beugte sie sich wieder über den Karton.

Ganz unten lag das Foto. Das letzte Foto mit ihnen allen zusammen.

Sie nahm das Bild heraus und hielt es in den Schein der kleinen Deckenlampe.

Das Bild zeigte sie selbst neben Lucy vor ihren Eltern in ihrem Garten stehen.

Ihre Mutter trug das rote Kleid, das sie so sehr geliebt hatte und strahlte über beide Ohren in die Kamera. Ihr Vater verzog wie bei jedem Foto das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln und hielt etwas unbeholfen Timmi-Tapp in den Händen.

Marla selbst trug das weiße Sommerkleid, das ihr schon längst nicht mehr passte und Lucy trug einen schwarz-roten Rock, in dem sie mit ihren schwarzen Haaren und Augen immer ein wenig wie Schneewittchen ausgesehen hatte.

In ihren Händen hielt Lucy, fest an sich gedrückt, einen selbstgepflückten Blumenstrauß aus ihrem Garten. Krokusse , blaue, rote und weiße.

Krokusse sind die Lieblingsblumen aller Krokodile, hatte Lucy voller Überzeugung erklärt. Die Blumen sind alle für Timi-Tapp. Aber es waren ihr zu wenige gewesen und ihr Garten hatte an diesem Tag voller blühender Krokusse gestanden.

Darf ich Timi-Tapp noch ein paar Blumen holen, hatte Lucy ihre Mutter am Abend gefragt, nachdem die Sonne schon untergegangen war. Ihre Mutter hatte es ihr zunächst verboten, aber Lucy hatte wie immer so lange gebettelt, bis ihre Mutter schließlich einwilligte.

Laut juchzend war Lucy aufgesprungen und barfuß in den Garten gelaufen, um Blumen zu pflücken.

Das war das letzte Mal gewesen, dass sie Lucy gesehen hatten.

Die letzte Spur von Lucy, die sie alle und die Polizei noch in dieser Nacht im Garten gefunden hatten, waren die Stängel abgerissener Krokusse. Sonst nichts.

Timi-Tapp, dachte Marla bedrückt, legte das Bild gemeinsam mit dem Plüschhund wieder zurück in den Karton, verschloss ihn und stellte ihn zurück ins Regal.

Nur das kleine Krokodil wollte sie mit nach oben nehmen, auch wenn ihre Mutter es wahrscheinlich nicht erlauben würde. Sie würde es geheimhalten, nahm Marla sich vor, legte das Krokodil zu den Kartoffeln und nahm den Korb in die Hand.

Der Rückweg war beinahe noch schlimmer als der Hinweg.

Jedes Mal malte sie sich aus, wie in der Zwischenzeit irgendetwas aus dem Kohlenkeller gekrochen war, sich zu ihr geschlichen hatte und nun dunkel und lauernd vor der Tür auf sie wartete.

Sie hielt ihr Ohr an die Tür. War da nicht ein Geräusch zu hören, etwas Kriechendes?

Unsinn, dachte Marla, packte den Korb etwas fester, legte den Türriegel zurück, öffnete die Tür einen Spalt weit und blinzelte vorsichtig in den dunklen Gang, bereit, die Tür sofort wieder zuzuschlagen, sollte dort etwas auf sie warten.

Doch da war nichts, nur Stille und Dunkelheit.

Langsam öffnete sie die Tür ganz und ging den Gang entlang. Hinter ihr war alles sicher, doch noch lag die letzte Kurve vor ihr. Und die dunkle Treppe.

Am Ende des Ganges horchte sie einen Moment lang in die Dunkelheit. Wieder meinte sie, ein leises, fast nicht wahrnehmbares Schaben und Schlurfen zu hören.

Das ist nur die Straße draußen.

Vorsichtig blickte sie um die Ecke. Direkt vor ihr führte die lange Kellertreppe nach oben. Rechts davon gähnte das dunkle Loch des Kohlenkellers wie ein schwarzer Abgrund. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging zur Treppe, die sie endlich wieder nach oben führte.

Kaum hatte sie den Fuß auf die erste Stufe gestellt, war das Gefühl wieder da. Etwas starrte sie aus der Dunkelheit heraus an. Sie wusste es. Und zum ersten Mal blickte Marla NICHT zur dunklen Treppe.

Sie wimmerte und stieg hastig die Treppe nach oben. Nur raus hier. Marla bemerkte kaum, dass sie rannte. Das Schlurfen, das sie vorher so unscheinbar zu hören geglaubt hatte, war plötzlich ganz dicht. Es war hinter ihr. Und es kam hinter ihr her.

Sie ließ den Korb fallen, die Kartoffeln rollten mit einem lauten Poltern die Treppe herab, doch das kümmerte sie nicht. Sie stürzte die Treppe nach oben, noch 5 Stufen, noch 3, noch eine. Sie warf sich gegen Tür, riss sie auf und helles Tageslicht blendete sie. Ohne einen Blick nach hinten zu werfen warf sie die Tür zu und drehte mit zitternden Händen den Schlüssel um.

Ohne zu zögern rannte sie das Treppenhaus nach oben und klopfte wie von Sinnen an die Wohnungstür.

Es dauerte einen Moment, bis ihre Mutter mit besorgtem Blick öffnete.

Schluchzend fiel sie ihrer Mutter in die Arme.

„Aber Kind“, sagte ihre Mutter behutsam und strich ihr langsam übers Haar. „War es so schlimm?“

Marla konnte kaum sprechen und nickte nur, während ihr die Tränen über die Wange liefen.

„Und die Kartoffeln? Hast du sie verloren?“

Wieder nickte sie. „Hm“, meinte ihre Mutter nur. „Weißt du was? Ich hole eben die Kartoffeln aus dem Keller und du wartest einen Moment. Einverstanden?“

Marla löste sich von ihrer Mutter, wischte sich schniefend die Tränen aus den Augen und nickte.

„Gut“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Weißt du, vielleicht wartest du einfach kurz hier. Dann hörst du, dass mir und auch dir nichts da unten passieren kann.“

Ihre Mutter zog sich ihre Hausschuhe an und ging die Treppe nach unten.

Marla blieb in der offenen Wohnungstür stehen. Wie albern hatte sie sich doch benommen. Wie ein ängstliches Kleinkind. Und jetzt lagen auch noch alle Kartoffeln im Keller verteilt.

Und Timi-Tapp, dachte sie erschrocken. Den durfte ihre Mutter nicht sehen.

Sie eilte ihrer Mutter hinterher, vielleicht hatte sie ihn noch nicht entdeckt.

Doch ihre Mutter war noch gar nicht in den Keller gegangen. Sie stand regungslos in der offenen Tür und starrte die Treppe hinunter.

„Warst du im Garten“, fragte sie ihre Tochter tonlos, ohne sich zu ihr umzudrehen.

Marla schüttelte den Kopf. „Nein“, antwortete sie. „Nur im Keller. Ich hab` alle Kartoffeln verloren.“

Ihre Mutter sagte nichts und ging in die Hocke.

Nach einem Moment stand ihre Mutter unendlich langsam wieder auf und drehte sich zu Marla um. Und nun sah Marla, was ihre Mutter aufgehoben hatte.

In ihren Händen hielt sie einen verwelkten Strauß Blumen.

Es waren Krokusse. Blaue, rote und weiße.