Von Barbara Hennermann

Es war einmal ein Spiegel, gefertigt aus feinstem, geschliffenen Kristallglas und bekränzt von einem prachtvoll gestalteten Goldrahmen. Er hing im Foyer eines herrschaftlichen Schlosses, mitten im schönen Frankenland. Dort betrachtete er das Kommen und Gehen der Bewohner und spiegelte wieder, was er sah.

 

Das war zum einen der König, ein rundlicher Herr, der wie alle Politiker mit Regieren, jedoch hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt war.

Ihm zur Seite stand seine zweite Gemahlin – die erste war vor Jahren an einer verschleppten Blutvergiftung verstorben. Die neue Königin war eine hagere Frau, die sich von ihrer Eheschließung weitaus mehr versprochen hatte. Darum widmete sie alle Zeit und Aufmerksamkeit ihrem Äußeren und sog Anerkennung und Wertschätzung allein aus ihrem Aussehen.

Dem Königspaar war eine Tochter aus erster Ehe des Königs zuzuordnen, welche allerdings den Eltern fremd blieb und von freundlichen Zofen aufgezogen wurde. Schneewittchen, so ihr Name, entzückte durch ihre freundliche Art und ihre Schönheit. Ihre Haut schimmerte wie weiße Seide, die Lippen leuchteten blutrot und das schulterlange Haar glänzte wie schwarzes Ebenholz in der Sonne.

 

Niemand im Schloss wusste, dass dem Spiegel übersinnliche Fähigkeiten innewohnten, die sich in der geschwärzten Rückseite desselben verbargen.  Auch verfügte er über eine eigene, selbständige Intelligenz. Aus purem Zufall hatte die Königin, als sie sich wieder einmal vor dem Spiegel drehte, dies entdeckt.

 

„Schbiegla, Schbiegla, anner Want, wer ist die Schönst´ im ganzen Lant?“, hatte sie ganz in Gedanken vor sich hingemurmelt.

Völlig überrascht vernahm sie daraufhin das Raunen aus dem Spiegel:

„Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land!“

Von nun an befragte sie den Spiegel täglich, denn die Bestätigung ihrer einzigartigen Schönheit war das Elixier gegen ihr frustrierendes und ansonsten sterbenslangweiliges Dasein.

 

Wie groß war darum ihr Entsetzen, als der Spiegel eines Tages statt der gewünschten Antwort raunte:
„Frau Königin, ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als ihr.“

„Schneewiddchen? Wer is Schneewiddchen?“,  kreischte die Königin, denn die Stieftochter war bisher gar nicht bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen.

„Schneewittchen, die Prinzessin“, wisperte der Spiegel und konnte ein schadenfrohes Kichern nicht ganz unterdrücken.

 

Die Königin tobte vor Zorn, war ihr doch in diesem Moment ihre Lebensgrundlage weggebrochen! Ohne weitere Überlegung wies sie den Hofjäger an, das Mädchen in den Wald zu bringen und zu entsorgen.

Dem Spiegel blieb dieses schändliche Vorhaben natürlich nicht verborgen und er sandte dem Jäger eine warnende Spiegelung. Dieser verstand den Hinweis, ließ das Kind im Wald laufen und brachte der Herrin falsche Beweise.

Dank seiner sensorischen Fähigkeiten beobachtete der Spiegel, dass Schneewittchen im Wald die Hütte der dort ansässigen sieben Frankenzwerge entdeckte und bei ihnen einzog.

 

Es wäre natürlich zu schön gewesen, wenn sich damit die Geschichte in Frieden und Freude aufgelöst hätte …

 

Da die Königin zwischenzeitlich keine neuen Befriedigungsquellen aufgetan hatte, lechzte sie weiterhin nach der Bestätigung ihrer Schönheit.

So trat sie vor den Spiegel, kunstvoll geschminkt und frisiert, und fragte in der sicheren Erwartung einer positiven Antwort:
„Schbiegla, Schbiegla anner Want …“

Die freudige Erwartung kehrte sich in jähes Entsetzen um.

Denn der Spiegel, welcher der Wahrheit verpflichtet war, antwortete:

„Frau Königin, ihr seid die Schönste hier. Doch Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als ihr!“

Nachdem ihr Kreischen verstummt und ihre Wut wieder beherrschbar war, schmiedete die Königin einen üblen Plan.

Als Krämerin verkleidet trat sie vor den Spiegel, um ihr Aussehen zu überprüfen.  Dann machte sie sich auf den Weg zum Haus der Zwerge.

Hilflos musste der Spiegel im parapsychologischen Spiegelbild mitansehen, wie sie das Mädchen antraf, täuschte und mit einem verzauberten Gürtel in den vermeintlichen Tod schickte. Der Spiegel sandte esoterische Strahlen zu den Zwergen, was das Zeug hielt und erreichte, dass die Zwerge vorzeitig von der Arbeit nach Hause zurückkehrten und Schneewittchen retten konnten.

 

Als die Königin abends abgekämpft und völlig derangiert im Schloss eintraf, stürzte sie Erfolg heischend sofort zum Spiegel.

„Schbiegla, Schbiegla …“, keuchte sie.

Doch der Spiegel schmetterte ihr triumphierend entgegen:

„…aber Schneewittchen ist noch tausendmal schöner als Ihr!“

Die Königin raufte sich die Haare – und hatte eine neue, infame Idee: Sie schuf einen vergifteten Kamm. Damit machte sie sich erneut auf den Weg zu der Maid.

Wieder schien sie erfolgreich und wieder retteten die Zwerge das naive Schneewittchen.

 

Doch die Königin gab den Kampf nicht auf – ihr dritter Versuch war erfolgreich: das Mädchen erstickte an einem vergifteten Apfelstück und die Zwerge konnten es nicht wiederbeleben.

Tränenreich betteten sie Schneewittchen in einen Sarg aus Glas und stellten es damit in den Wald.

 

Widerwillig musste der Spiegel im Schloss auf die bekannte Frage der Königin antworten:

„Frau Königin, ihr seid die Schönste im Land.“

Und die Königin lebte auf, sonnte sich in ihrer einzigartigen Schönheit und wurde wieder richtig zufrieden, so weit ein frustrierter und festgefahrener Mensch eben zufrieden sein kann.

 

Der narzisstische König hatte von alledem nichts mitbekommen.

Beim regierenden Nachsinnen darüber, wie er sein Land ohne viel Aufwand vergrößern könnte, fiel ihm eines Tages plötzlich seine Tochter ein.

„No, des Mädla müssd ja jetzat a endli im heiradsfähichn Older sei? No, da such ma doch amol nachm bassendn Mo!“

Daher schickte er seine Herolde durch die Lande, um die umliegenden Herzogtümer, Grafschaften und Königreiche aufzusuchen. Sie sollten alle heiratsfähigen und –willigen Männer zur Brautschau rufen.

Die Königin unterließ es natürlich wohlweislich, ihren Gemahl auf die Überflüssigkeit seines Tuns hinzuweisen.

 

So geschah es, dass ein Prinz auf seinem Weg zur Brautschau durch den Frankenwald ritt. Plötzlich verhielt sein Pferd den Schritt und der ihn begleitende Tross kam zum Stehen.

Was war das?

Mitten im Wald stand auf einer Lichtung ein Schrein aus Glas und darin lag das schönste Mädchen, das der Prinz jemals erblickt hatte!

Er stieg vom Pferd, kniete neben dem Sarg nieder und entbrannte augenblicklich in heißer Liebe.

„Noch nia sah ich ein Wesen von grösserer Schöheid!“, rief er aus.

„Erlaubd mir, des Mädla mit mir zu nemma, mei Liep wird sie umsorchn und pflechn.“

Anfangs wollten die Zwerge es nicht zulassen, aber als er neben dem gläsernen Schrein sitzenzubleiben drohte „bis zum Sangt Nimmerleinsdooch“, gaben sie nach.

Beim Anheben des Sarges jedoch rutschte das blühend aussehende Schneewittchen plötzlich nach unten, krümmte sich und – begann zu husten! Kurz darauf spuckte es den vergifteten Apfelschnitz aus und schlug die Augen auf.

Flugs hob der Prinz die Schöne aus dem Glasschrein und zu sich auf sein Pferd.

Mag sein, dass es die Unkenntnis von Alternativen war oder die menschliche Wärme nach Tagen der Einsamkeit im gläsernen Schrein – Schneewittchen wurde ebenfalls von heißer Liebe zu ihrem Befreier erfasst.

 

Gemeinsam begaben sie sich zum Schloss ihres Vaters.

In Erwartung möglicher Freier war dort der rote Teppich ausgerollt, über den das Paar nun schritt.

Neugierig blickte die Königin hinter dem Spiegel im Foyer hervor. Wer würde kommen? Wie würde der König, ihr Gemahl, reagieren, wenn er von Schneewittchens Tod erführe? Und wie die hoffnungsfrohen Freier?

So ganz wohl war ihr nicht  … Jedoch, es war der einzige Weg gewesen,  ihre eigene Haut zu retten!

Ein zufriedener Seufzer entrang sich ihrer Brust.

 

Dann jedoch … was war das? WER war das?

Die Königin krallte sich am Spiegel fest.

„Verräder! Lüchner!“

Beim Anblick der strahlenden, bildschönen Stieftochter drohte ihr Herzschlag sich rasend zu überschlagen.

Schreiend stürzte sie sich auf den Spiegel, kratzte mit ihren Fingernägeln die Rückseite ab, bis er die Spiegelung verlor und blind in das Foyer starrte.

Doch die Königin schlug weiter wie wahnsinnig mit bloßen Händen auf den Spiegel ein, bis das blinde Glas splitterte und klirrend zu Boden fiel.

Mit seiner letzten verbliebenen Intelligenz lenkte der Spiegel einen großen Splitter von besonderer Durchschlagskraft zur Halsschlagader der Königin und durchtrennte sie.

„Allmächd …“

Sie verschied mit einem Seufzer, ebenso wie der Spiegel.

 

Die Hintergründe der Tragödie blieben den restlichen Beteiligten auf immer verborgen.

Der alte König widmete sich wie gehabt den Regierungsgeschäften und kümmerte sich hauptsächlich um sich selbst.

Schneewittchen und der Prinz wussten nicht um das Suchtverhalten der Stiefmutter und beklagten kurzzeitig ihren Tod. Dann versanken sie in ihrer Liebe und vergaßen erst einmal die Welt um sich herum.

Die Spiegelscherben wurden vom Personal entsorgt und ein neuer Spiegel in den Rahmen gehängt. Der allerdings war dumm wie alle gebräuchlichen Spiegel, was aber aus naheliegenden Gründen nicht auffiel.

 

 

 

 

Hb V2 03/19