Von Monika Heil

Es war einmal – lange bevor die Schweden nach Stade kamen – da lebte in der Stadt ein verwitweter Fischer mit seiner einzigen Tochter. Jette Jensen war zwar arm, aber freundlich zu jedermann, bestrickend schön und von anmutiger, graziler Gestalt. Langes, schwarzes Haar umrandete ihr zartes Gesicht. Ihr heller Teint erinnerte an feinstes Porzellan und bildete einen auffallenden Kontrast zu ihren dunklen Augen und den leuchtend roten Lippen. Ihr Vater nannte sie stolz: »mein Schneewittchen« und die alten Frauen in der Nachbarschaft, die sich mit Märchen gut auskannten, pflichteten ihm bei.

 

Im Alten Land, in dem kleinen Dörfchen Jork, lebte die reiche und hochmütige Bauerntochter Cosima Quirin. Auch sie war hübsch, doch hatte sie bei weitem nicht die edle Ausstrahlung und Zartheit der Fischertochter aus Stade.

 

An jedem Ersten und Fünfzehnten eines Monats wurden am alten Hafen, den die Stader auch Fischmarkt nannten, Verkaufsbuden aufgestellt, an denen Fisch, Gemüse, Obst, Eier und andere Lebensmittel feilgeboten wurden. Cosima verkaufte die Früchte vom elterlichen Hof – Kirschen, Äpfel, Birnen oder Pflaumen – je nach Jahreszeit und Jette alles, was ihr Vater gefangen hatte – Stint, Hering selten einmal Aal.

 

Zu jener Zeit lebte auch ein junger Steuereinnehmer, ein staatlicher Beamter, in der Stadt. Bernhard Voss war für den Güterverkehr der von der Elbe kommenden Ewer und kleinen Frachtschiffe zuständig. Deren Lasten wurden am Tretkrahn entladen, im Waagegebäude gewogen und Bernhard legte die dafür zu entrichtenden Steuern fest. An den Markttagen musste er zusätzlich gleich morgens in der Früh´ die Standgebühren von den Marktleuten einziehen. Der junge Mann mochte seinen Beruf, auch fand er das Leben in Stade höchst abwechslungsreich und angenehm. Gern kehrte er abends im Gildehaus bei den Brauerknechten ein, ließ sich einen Humpen Bier bringen und tauschte sich mit den hanseatischen Kaufleuten über Politik, Handel und aktuelle Belange aus. Zur Nachtzeit ging er zufrieden zu seinem Haus in der Bungenstraße. Er war ein angesehener Bürger der Stadt und hatte es schon bald zu einem gewissen Wohlstand gebracht, sodass er eines Tages sogar ein junges Mädchen als Bedienstete anstellen konnte.

 

An den erwähnten Markttagen begleitete ihn bei einem zweiten, nun privaten, Rundgang kurz vor der Mittagszeit seine Magd Gerlind über den Fischmarkt, der von imposanten Fachwerkhäusern umgeben war. Langsam gingen sie von Stand zu Stand rechts und links des kleinen Hafenbeckens, Wasser West und Wasser Ost genannt. Dabei achtete Bernhard mehr auf das vielfältige Warenangebot denn auf die Marktfrauen, die einander mit Lockangeboten zu übertrumpfen suchten. Jette Jensen aber, die ihren Stand am Wasser West hatte, nahm er wahr, sah ihr gewinnendes Lächeln, erwiderte ihren freundlichen Gruß. Stets kaufte er ein paar Fische, die er der Magd in den Korb legte.

»Mach ein gutes Abendessen daraus«, bat er dann Gerlind. Am Stand von Cosima Quirin am Wasser Ost blieb er nicht einmal stehen.

»Kauf ein paar Trauben und ein Kilo rote Äpfel«, forderte er seine Begleiterin nach einem kurzen Blick auf das Warenangebot auf und ging, ohne die begehrlichen Blicke des jungen Frauenzimmers wahrzunehmen, grußlos weiter. Cosima, die ihn am Stand von Jette Jensen beobachtet hatte, wurmte das mächtig und sie wurde jedes Mal schier grün vor Eifersucht. Sie war die Schönere, sie war die Wohlhabendere, sie war die Klügere. Ihr musste der fesche Herr Steuereinnehmer seine Aufmerksamkeit schenken und nicht dem armseligen Fischermädchen.

 

Eines Tages hatte Bernhard Voss im Wirtshaus eine Bemerkung fallen lassen, dass er sich bald zu verheiraten gedenke. Die Schönste vom Fischmarkt sollte es sein. Schnell verbreitete sich die Kunde unter den Marktfrauen und manch eine unverheiratete Matrone bekam rote Wangen, wenn der junge Mann vorüberging.

»Du bist die Schönste, du bist die Schönste«, raunten Cosimas Freundinnen schmeichlerisch.

»Jette Jensen ist schöner als sie, schöner als sie«, flüsterten ein paar Alte. Cosima schäumte vor Wut und sann nächtelang nach einem Mittel, die vermeintliche Nebenbuhlerin aus dem Weg zu räumen.

 

Am nächsten Markttag führte sie außer den großen Obstkörben auch ein kleines Körbchen mit ausgesucht schönen Früchten mit sich. Mit munterem Lachen hüpfte sie gegen Mittag scheinbar ausgelassen von Stand zu Stand, hier einen grünen Apfel herschenkend, dort ein paar saftige Knubber-Kirschen feilbietend. Langsam leerte sich der Korb, bis am Ende nur noch ein großer, rotglänzender Apfel übrigblieb, den sie Jette Jensen mit honigsüßem Lächeln anbot.

»Komm Schwester, den letzten teilen wir«, erklärte sie, brach den Apfel mühelos in zwei Hälften und bot eine davon der jungen Frau an.

»Iss, iss«, forderte sie die Fischertochter auf. Jette lächelte bescheiden und nahm das ihr dargebotene Apfelstück dankbar an. Gerade als sie vorsichtig in ihre Hälfte beißen wollte, kam eine Möwe im Tiefflug herangeschossen, pickte das Obst aus Jettes Hand und trug es mit schnellem Flügelschlag davon. Über dem Hafenbecken ließ sie es fallen. Augenblicklich versank die Apfelhälfte im Trüben. Im nächsten Moment begann das Wasser an jener Stelle leise zu zischen und zu brodeln. Cosima erschrak. Heimlich wollte sie nun auch ihre Apfelhälfte ins Wasser werfen. Das jedoch verhinderte der junge Marktgehilfe Bodo, der das Geschehen aufmerksam verfolgt hatte. Er entwand ihr die verbliebene Apfelhälfte und rannte, ohne sich von dem Gezeter der jungen Frau beeindrucken zu lassen, so schnell er konnte, zum Ortsbüttel. Aufgeregt und völlig außer Atem beschrieb er diesem die merkwürdige Begebenheit, wobei er versuchte, die unerklärlichen Geräusche rund um den versinkenden Apfelschnitz gurgelnd und schmatzend nachzuahmen.

 

Hinnerk Bätje nahm seine Aufgabe als Ortspolizist sehr ernst, was einer zufällig vorbeistreunenden Katze das Leben kosten sollte. Der Ortsbüttel fing das Tier ein, schnitt einen schmalen Keil aus dem Stück Obst und warf es eben dieser Katze zu. Kurz darauf galt der Fall als gelöst.

Cosima wurde des Giftanschlages angeklagt und ins Gefängnis geworfen. Der Prozess lockte viele Schaulustige in die Stadt. Fürbitter fand die Angeklagte nur wenige. Und so kam es, wie es kommen musste. Cosima Quirin wurde verurteilt und fand acht Tage später den Tod auf dem Scheiterhaufen draußen vor den Toren der Stadt.

 

Jette wurde Bernhards Weib. Auch er nannte sie bald liebevoll: »mein Schneewittchen«. Eines Tages erreichte ihn ein aufregendes Angebot der Stadt Hamburg, das einer nicht auszuschlagenden Beförderung gleichkam. Er besprach sich mit seinem jungen Weibe und sagte mit ihrem Einverständnis zum Ersten des folgenden Monats zu.

 

Am Abend vor ihrem Umzug, als der Mond voll am Himmel stand, ging Jette ein letztes Mal hinunter zum Hafen. Aufmerksam richtete sie ihren Blick auf die noch immer leicht brodelnde Stelle im Wasser, an der jener vergiftete halbe Apfel untergegangen war. Genau dort ließ sie nun eine ungiftige Apfelhälfte fallen, die ebenfalls sogleich versank. Sofort hörte das Brodeln auf, die Wasseroberfläche wurde glatt und ruhig. Und jedes Mal, wenn der Monatsletzte und Vollmond auf einen Tag fallen, kann man, wenn man sehr genau hinsieht, kurz vor Mitternacht einen schönen, rotglänzenden Apfel im Wasser schwimmen sehen, der mit dem Glockenschlag zwölf Uhr lautlos versinkt.

Die Fischerfrau an Wasser West – eine Nachfahrin von Jette Jensen in Stein gehauen – hört man in solchen Nächten murmeln:

»Der Vollmond lässt mich heut´ nicht schlafen,

ein Apfel schwimmt im alten Hafen.

Gott soll die Verbrecher strafen.«

Ab und zu fliegt eine Möwe vorüber und krächzt:

»Gift, Gift!«

Oder klingt es nur so?