Von Gerhard Schönbeck

Eigentlich konnte er Schneewittchen den Sack jetzt wohl abnehmen und sie losbinden. Die Prinzessin wusste bestimmt nicht, wo sie gerade waren. Außerdem musste die Wirkung des Hyperbaldriantees wohl langsam aber sicher nachlassen. Das Mädchen tat ihm leid. Wenn er sie ansah, wie sie wehrlos und wie ferngesteuert hinter ihm herstolperte, gerade dazu fähig, einen Fuß vor den anderen zu setzen um nicht zu fallen, wurde ihm ganz anders. Nein, umbringen konnte er sie einfach nicht.

 

„Nimm sie mit“, hatte die Königin zitternd gesagt. „Nimm sie um Gottes willen mit, weit weg. Geh in den Wald mit ihr und bring sie um. Erschieß sie. Wozu bist du Jäger?“

„Aber …“, hatte er zu entgegnen versucht.

„Kein Aber“, hatte die Königin seinen Einwand abgewürgt und fahrig nach ihrem Absinthbecher gegriffen. „Du hast ja keine Vorstellung. Die Göre raubt mir den letzten Nerv mit ihrer ewigen Besserwisserei. Erst letztens hat sie sämtliche Bände über Inneneinrichtung in meiner Bibliothek alphabetisch geordnet, die ihrer Meinung nach unnötigen in den Kamin geworfen und mir danach vorgeworfen, ich verstünde nichts davon und sollte mich eher auf das Arrangieren des königlichen Blaumeisengeschirrs fürs Mittagessen beschränken. Ich, die ich an einem der bedeutendsten Almanache für Interieur mitgeschrieben habe! Ich habe sie wie ein eigenes Kind bei mir aufgenommen, mich aufopfernd um sie gekümmert, aber irgendwann ist die Grenze erreicht. Oder vergangene Woche, als sie …“

Sie hatte sich richtig in Rage geredet. Er musste sich eingestehen, dass er sie so tatsächlich noch nie vorher erlebt hatte. Aber konnte ein junges, unschuldiges Mädchen mit Haut weiß wie Schnee, Lippen rot wie Blut und Haaren schwarz wie Ebenholz daran schuld sein? Er kannte die Prinzessin bislang nur von Bildern, die der König bei Hofjagden in emotionalen Momenten herumzeigte. Sie war sein Augapfel, ein stilles, anhängliches Kind. Sagte der König. Gut, auch andere Bedienstete, die mehr Kontakt zu ihr hatten, hatten gewisse Verhaltensauffälligkeiten angemerkt, aber was wussten die schon? Kannte ein liebender, treusorgender Vater sein Kind nicht am besten?

„Wenn Ihr es wünscht, Majestät“, hatte er geantwortet, bis zuletzt hoffend, dass die Königin einen Scherz gemacht hatte.

„Ja, ich wünsche es. Ich habe mich lange genug von diesem klugscheißenden Satansbraten in den Wahnsinn treiben lassen.“ In die Stimme der Königin hatte sich eine gewisse Schärfe eingeschlichen. „Und du bist mein Hofjäger und unterstehst meinem Befehl. Ich möchte nicht noch deutlicher werden müssen als ohnehin schon.“

Der Jäger hatte auf weitere Einwände verzichtet, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, insgeheim aber bereits fieberhaft nach einer Lösung gesucht. Schlussendlich hatte er sich an eine im Wald lebende Gruppe von Minenarbeitern erinnert, die unter Umständen eine Haushaltshilfe brauchen konnten. Jedenfalls hatte ihre Behausung, wann immer er auf seinen Pirschgängen daran vorbeigekommen war und auf eine stärkende Suppe eingekehrt war, danach ausgesehen. Es war zwar ein gutes Stück Wegs, aber dadurch wäre andererseits auch sichergestellt, dass eine gewisse Distanz zwischen dem Mädchen und der Königin lag – für den konkreten Fall kein Nachteil.

 

Bis zum Ziel lag zwar noch mindestens eine Stunde Marsch vor ihnen, aber das machte auch keinen Unterschied mehr. Mit einer raschen Bewegung zog er seiner Begleitung den Sack vom Kopf und löste die Fesseln, in der Erwartung, dass ihn ein verschüchtertes, erschöpftes Mädchen mit großen Augen anblickte.

„Na endlich!“ Die Prinzessin holte tief Luft. „Kannst du dir vorstellen, wie stickig es unter dem Sack war? Wo sind wir überhaupt?“

„Das ist eine Überraschung“, stammelte der Jäger. „Wir … wir sammeln Blumen für den Geburtstag des Königs.“

„Mit Sack über dem Kopf? Papperlapapp. Ich wette, da steckt meine liebe Stiefmutter dahinter. Wahrscheinlich ist sie mit meinem sonnigen, aber doch kritischen und hinterfragenden Wesen überfordert und will mich loswerden.“

„Nein, bestimmt nicht. Es …“, versuchte der Jäger eine Erklärung.

„Du bist doch der Hofjäger, oder?“, plapperte Schneewittchen unbeirrt weiter. „Du hast sicher den Auftrag bekommen, mich klammheimlich umzubringen. Wie hast du dir das denn vorgestellt? Falls du daran gedacht hast, mit einer Geschichte von Bären oder Wölfen anzukommen, die mich gerissen hätten, kann ich dich beruhigen. Das geht nie auf. Ich habe strikte Anweisung des Königs, mich nie ohne Begleitung von zumindest zwei Leibwächtern vom Schloss zu entfernen. Außerdem, wo hättest du meine Leiche entsorgt? Laut dem neuesten königlichen Dekret ist es untersagt, Leichen an nicht dafür vorgesehenen Orten zu vergraben. Grundwasserschutz. Sie haben den Waldboden eigens dafür mit einer speziellen Tinktur präpariert, die in einem solchen Fall sofort anschlägt. Wahnsinnig interessant, nebenbei. Steht meiner Meinung nach in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Umweltschutzgedanken, aber bitte.“

„Eigentlich …“, setzte der Jäger abermals an.

„Hast du überhaupt schon einmal einen Menschen getötet? Studien zeigen, dass das gravierende psychische Folgen haben kann, angefangen von posttraumatischen Belastungsstörungen bis hin zu schwerer Paranoia. Hast du dir darüber jemals Gedanken gemacht? Wenn ich deine gewaltige Armbrust betrachte, kann ich mir durchaus vorstellen, dass du dafür  empfänglich bist. Hast du Komplexe wegen der Größe deiner Genitalien?“

„Ähm“, machte der Jäger und beschloss, eine Weile überfordert ins Nichts zu starren. Langsam konnte er die Königin verstehen.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ich würde vorschlagen, wir legen eine kurze Pause ein“, sagte der Jäger, um Zeit zu gewinnen.

„Aber doch nicht hier?“, wandte Schneewittchen entrüstet ein. „Wo soll ich hier bitte mein Gesicht  waschen? Eine Quelle wäre gut. Und ein paar Baumstümpfe, damit wir uns hinsetzen können, wenn wir uns unterhalten.“

„Gut“, schnitt ihr der Jäger entnervt das Wort ab. „Ich suche uns was Passendes in der Nähe. Du bleibst genau hier und rührst dich nicht von der Stelle.“

 

Endlich allein. Der Jäger atmete tief durch. Das durfte alles nicht wahr sein. Wie gern würde er sich jetzt eine Zigarette anzünden, aber im Wald herrschte striktes Rauchverbot. Auch egal, dann sah er sich eben um. Nach einer Weile wurde er hinter einer kleinen Anhöhe fündig. Ein kleiner murmelnder Bach durchfloss eine Lichtung, daneben eine umgestürzte Buche. Zwar keine Baumstümpfe, aber immerhin. Na gut, dann wieder zurück. Wenn dieses Plätzchen Madame nicht behagte, würden sie eben weitergehen und so Zeit sparen. Und er würde alles versuchen, Ruhe zu bewahren und sie nicht umzubringen. Vielleicht.

 

Merkwürdig. Hier war es doch gewesen. Hier hatte er sie zurückgelassen. Weit und breit keine Spur. Bis auf ein zerfetztes Kleid … Und einen riesigen, sich zufrieden herumfläzenden Wolf, der sich mit der Zunge über die blutverschmierten Lefzen fuhr.

Einen Moment.

„Suchst du etwas?“ wandte sich der Wolf unvermittelt an den Jäger.

„Eigentlich schon. Ich war mit einer jungen Frau mit schwarzen Haaren unterwegs. Sollte eigentlich hier auf mich warten.“

„Ah ja. War bis vor kurzem noch da.“ Der Wolf blickte versonnen in die Ferne.

„Und du bist …?“,

„Der Wolf.“

„Wie, der Wolf? Was für ein Wolf?“

„Na, der Wolf eben. Eigentlich hätte ich hier einen Termin mit einem Mädchen mit rotem Kopftuch. Ich liege nichts böses ahnend da und warte, auf einmal taucht diese Nervensäge, nach ihrem Kleid zu urteilen offensichtlich was Besseres, auf und beginnt mich völlig aus dem Nichts zuzuquasseln. Ob mir denn klar wäre, wie verstörend die Zurschaustellung meines Gemächts auf sensible Kreaturen wirken würde. Ob ich mich bitte kastrieren lassen oder mir eine Hose anschaffen könnte. Dass ich nichts weiter als ein armseliges Beispiel für die patriarchalisch dominierte Gesellschaft wäre.“

Der Jäger nickte teilnahmsvoll.

„Eigentlich wollte ich es nicht, es war eher ein Reflex“, fuhr der Wolf fort. „Aber es tat auch irgendwie gut, verstehst du? Und diese himmlische Ruhe nachher … Bist du jetzt böse?“

„Neinnein.“ Der Jäger dachte an die Königin und kraulte den Wolf hinter dem Ohr, was diesem sichtlich behagte. Für den König würde er sich schon etwas einfallen lassen, aber wie er dessen Gemahlin kannte, hatte sie mit Sicherheit schon etwas in petto. Vielleicht die neue, riesige Armbrust, die seine Majestät in letzter Zeit auffällig oft im aktuellen Katalog aufgeschlagen hatte.

 

Bedächtig schulterte der Jäger seinen Rucksack, verabschiedete sich vom Wolf und schlenderte durch den sonnendurchfluteten Wald in Richtung Schloss.

 

V2